Lord Jim

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Drittes Kapitel

Eine wunderbare Stille lag über der Welt, und die Sterne schienen mit der Klarheit ihrer Strahlen die Gewähr ewiger Sicherheit über die Erde auszubreiten. Der junge, aufwärts gebogene Mond stand tief im Westen und schien der leichte Abfall von einer Goldstange; das Arabische Meer, glatt und kühl wie eine Eisfläche anzusehen, dehnte seine gewaltige Ebene dem gewaltigen Kreisrund eines dunklen Horizonts entgegen. Die Schraube drehte sich ohne Hemmnis, als hätte jeder ihrer Schläge zum System eines sicheren Weltgebäudes gehört; und zwei tiefe Wasserfalten zu beiden Seiten der Patna, die sich dunkel und bleibend von dem furchenlosen Glanz abhoben, schlossen in ihre geraden, waagerechten Kämme ein paar weiße, leis zischende Schaumwirbel ein, ein leichtes Gekräusel, ein paar Wellchen, die noch eine Weile die Fläche bewegten, nachdem das Schiff vorübergezogen war, sanft plätschernd auseinanderliefen und dann wieder in das stille Rund von Wasser und Himmel übergingen, in dessen Mittelpunkt der schwarze Fleck des Schiffsrumpfs sich vorwärtsbewegte. Jim auf der Kommandobrücke war von dem großen Gefühl unbegrenzter Sicherheit und dem Frieden durchdrungen, den das ruhige Antlitz der Natur gewährte, wie man die Gewißheit zärtlicher Liebe aus den Zügen einer Mutter empfängt. Unter dem Zeltdach schliefen, der Weisheit und dem Mut der Weißen anheimgegeben und der Macht ihres Unglaubens und dem eisernen Gehäuse ihres Feuerschiffs vertrauend, die Pilger eines anspruchsvollen Glaubens auf Matten, auf Decken, auf bloßen Brettern, auf jedem Deck, in allen dunklen Winkeln, eingehüllt in farbige Tücher, in schmutzige Lumpen gewickelt, den Kopf auf kleine Bündel, das Gesicht auf den eingebogenen Vorderarm gedrückt: die Männer, Frauen, Kinder; die Alten mit den Jungen, die Altersschwachen mit den Rüstigen – sie alle gleich vor dem Schlaf, dem Bruder des Todes.

Ein Luftzug, von dem eilenden Schiff zurückgefächelt, wehte beständig durch die Dunkelheit zwischen dem hohen Schanzkleid, fuhr über die Reihen der hingestreckten Leiber; ein paar trüb brennende Kugellampen waren hie und da an den Stützen kurz aufgehängt, und in den undeutlichen Lichtkreisen, die herniederfielen und in der stetigen Bewegung des Schiffes mitzitterten, tauchten ein aufwärts gerichtetes Kinn auf, zwei geschlossene Augenlider, eine dunkle Hand mit Silberringen, ein magerer Arm, in zerrissenes Zeug gehüllt, ein zurückgebogener Kopf, ein nackter Fuß, eine bloße Kehle, die sich hinstreckte, als böte sie sich dem Messer dar. Die Wohlhabenderen hatten ihre Familien mit einem Gehege von schweren Kisten und staubigen Matten umgeben; die Armen lagen Seite an Seite und hatten alles, was sie auf Erden besaßen, in ein Bündel unter ihrem Kopf zusammengeschnürt; die einsamen alten Männer schliefen mit hochgezogenen Beinen auf ihren Gebetteppichen, die Hände auf den Ohren und die Ellbogen zu beiden Seiten des Gesichts, ein Vater schlummerte in verkrümmter Haltung neben einem Knaben mit zerzaustem Haar, der auf dem Rücken lag und einen Arm gebieterisch ausgestreckt hielt; eine Frau, von Kopf bis Fuß in ein weißes Laken gehüllt wie ein Leichnam, hatte ein nacktes Kind auf jedem Arm; hinter der Habe des Arabers, die wie ein aufgeworfener Erdhügel hochgetürmt dastand, mit einer Schiffslaterne obenauf, wurden allerhand undeutliche Umrisse sichtbar: Reflexe von bauchigen Messingkannen, die Fußbank eines Deckstuhls, Speerblätter, die gerade Scheide eines alten Schwerts gegen einen Haufen Kissen gelehnt, die Schnauze einer zinnernen Kaffeekanne. Das Log achtern gab jedesmal ein Klingelzeichen, wenn das Schiff eine Meile auf seiner Pilgerfahrt zurückgelegt hatte, über den schlafenden Haufen hin schwebte von Zeit zu Zeit ein schwacher, geduldiger Seufzer, das Aufatmen aus einem angstvollen Traum; und aus dem untern Schiffsraum drangen ab und zu harte, klirrende Töne, das schrille Scharren einer Schaufel, das heftige Zuschlagen einer Feuertür, als hätten die Menschen, die da unten mit den geheimnisvollen Dingen umgingen, das Herz voll finsterer Wut gehabt, und derweil glitt das schlanke, hohe Schiff ruhig voran, zerteilte das Wasser ohne das leiseste Schwanken seiner Masten, unter dem makellos klaren Himmel.

Jim ging auf und ab, und in der weiten Stille hallten ihm seine Schritte aufdringlich ins Ohr; sein Blick, der bis an die Grenzlinie des Horizonts schweifte, schien vorwitzig ins Unergründliche dringen zu wollen, sah aber den Schatten des kommenden Ereignisses nicht. – Der einzige Schatten auf dem Meere war der des schwarzen Rauchs, dessen endloses Banner aus dem Schornstein des Dampfers flatterte und sich beständig in der Luft auflöste. Zwei Malaien bedienten ohne Laut und fast ohne eine Bewegung das Ruder, jeder an einer Seite des Rades, dessen Messingrand in dem Lichtschein aus dem Kompaßhaus aufblitzte. Hin und wieder tauchte im Hellen eine Hand mit schwarzen Fingern auf, die die kreisenden Speichen faßte und wieder losließ; die Glieder der Steuerkette knirschten schwer in den Hohlkehlen der Trommel. Jim sah nach dem Kompaß, sah in die grenzenlose Weite und streckte und rekelte sich in einem Gefühl äußersten Wohlbehagens, bis seine Gelenke knackten; angesichts des unerschütterlichen Friedens fühlte er eine Verwegenheit, als kümmerte ihn nichts, was ihm bis ans Ende seiner Tage zustoßen konnte. Von Zeit zu Zeit warf er einen müßigen Blick auf eine Karte, die mit vier Reißnägeln auf einem niederen, dreibeinigen Tisch hinter dem Verschlag des Steuergeräts befestigt war. Der Bogen Papier, der die Meerestiefen angab, lag im Schein einer Blendlaterne, die an einer Seitenstütze angebunden war, gleich glatt und eben da wie die schimmernde Wasserfläche. Parallellineale mit einem Teilzirkel lagen darauf; die Position des Schiffs am Mittag des vorigen Tages war mit einem kleinen schwarzen Kreuz bezeichnet, und die bis Perim gezogene gerade Bleistiftlinie deutete den Kurs des Schiffs an – den Pfad der Seelen nach dem heiligen Ort, dem Versprechen des Heils, dem Lohn des ewigen Lebens –, während der Bleistift, rund und regungslos wie eine Schiffsspiere, die in einem stillen Hafenbecken treibt, mit seiner Spitze die Somaliküste berührte. Wie gleichmäßig es fährt, dachte Jim staunend, mit etwas wie Dankbarkeit für diesen großen Frieden von Himmel und Meer. Zu solchen Zeiten waren seine Gedanken ganz bei herzhaften Taten: er liebte diese Träume und das Gelingen seiner eingebildeten Handlungen. Sie waren das Beste vom Leben, seine geheime Wahrheit, seine verborgene Wirklichkeit. Sie waren ungeheuer mannhaft, hatten den Reiz des Ungewissen und zogen mit heroischem Glanz an ihm vorüber; sie nahmen seine Seele mit sich fort und berauschten sie mit dem Trank schrankenlosen Selbstvertrauens. Es gab nichts, dem er nicht Trotz geboten hätte. Er lächelte wohlgefällig bei diesem Gedanken, indem er den Blick achtlos voraus gerichtet hielt; und wenn er zufällig zurückblickte, sah er den weißen Strich des Kielwassers, den der Kiel auf dem Wasser ebenso geradlinig zog, wie ihn der Bleistift auf der Karte gezogen hatte.

Die Ascheneimer rasselten in den Heizraumventilatoren auf und nieder, und dies Geklapper mahnte ihn, daß seine Wache zu Ende ging. Er seufzte vor Befriedigung, in die sich das Bedauern mischte, sich von dieser vollkommenen Klarheit trennen zu müssen, die den abenteuerlichen Flug seiner Gedanken begünstigt hatte. Gleichzeitig war er ein wenig schläfrig und fühlte eine wohlige Mattigkeit in den Gliedern, als hätte sich alles Blut in seinen Adern in lauwarme Milch verwandelt. Sein Kapitän war im Pyjama und seiner weitoffenen Schlafjacke geräuschlos heraufgekommen. Hochrot im Gesicht und noch ganz schlaftrunken, das linke Auge eingekniffen, das rechte blöd und glasig starrend, beugte er seinen großen Kopf über die Karte und kratzte schläfrig seine Rippen. Es war etwas Obszönes in dem Anblick seines nackten Fleisches. Seine bloße Brust glänzte weich und ölig, als hätte er im Schlaf sein ganzes Fett ausgeschwitzt. Er machte eine berufliche Bemerkung, mit harter, tonloser Stimme, die klang, wie wenn eine Säge durch Holz fährt; die Falte seines Doppelkinnes hing wie ein aufgebundener Sack unter seiner Kinnlade. Jim fuhr in die Höhe, und seine Antwort war voll Ehrerbietung; aber die widerlich fleischige Gestalt—als hätte er sie in diesem überwachen Augenblick zum erstenmal gesehen – prägte sich seiner Erinnerung als der Inbegriff alles Gemeinen und Niedrigen ein, das in der Welt lauert, die wir lieben: in unseren eigenen Herzen, auf die wir unser Heil bauen, in den Menschen unserer Umgebung, in allem, was unser Auge sieht, unser Ohr hört, und in der Luft, die unsere Lungen atmen.

Das dünne goldene Stückchen Mond war sacht hinabgeglitten und hatte sich auf der verdunkelten Oberfläche des Wassers verloren; und als wäre die Unendlichkeit jenseits des Himmels der Erde näher gekommen, bedeckte die halb durchsichtige Kuppel mit dem erhöhten Glanz ihrer Sterne und dem tieferen Glanz ihres Dunkels die undurchsichtige, flache Scheibe des Meeres. Das Schiff glitt so ebenmäßig dahin, daß seine Vorwärtsbewegung den Sinnen kaum wahrnehmbar war; wie ein im dunklen Ätherraum hinter dem Schwärm der Sonnen dahinschwebender Planet, der in der entsetzlichen Einsamkeit auf den Hauch künftiger Schöpfungen wartet.

»Heiß ist kein Wort für da unten«, sagte eine Stimme.

Jim lächelte, ohne sich umzublicken. Der Kapitän bot seine breite Rückseite bewegungslos dar: es war der Trick dieses Überläufers, daß er einen geflissentlich übersah, bis es ihm genehm war, sich einem mit durchdringendem Blick zuzuwenden und dann erst einen Strom geifernder Schmähreden loszulassen, die wie ein Guß aus einem Abzugskanal hervorbrachen. Diesmal gab er nur ein übellauniges Grunzen von sich. Der Zweite Maschinist, der oben auf der Brückentreppe stand und mit feuchten Händen einen schmutzigen Schweißlappen knetete, setzte, nicht im mindesten aus der Fassung gebracht, seine Klagen fort. Die Matrosen hatten ein schönes Leben hier oben, und der Teufel sollte ihn holen, wenn er einsehen könnte, wozu sie eigentlich nutz wären. Die armen Teufel von Maschinisten müßten dafür sorgen, daß das Schiff weiterkäme, und sie könnten alles übrige auch noch tun, wenn's drauf ankäme, weiß der Teufel – – »Maul halten!« knurrte der Deutsche patzig. – »Jawohl! Maul halten! Und wenn irgendwas nicht klappt, dann fallen sie über uns her, nicht wahr?« fuhr der andere fort. Er sei mehr als nur halb gesotten, könne er sagen; es sei ihm jetzt ganz egal, wieviel er sündige, denn in diesen letzten drei Tagen habe er einen feinen Vorbereitungskurs für den Ort durchgemacht, wo die Bösen hinkommen, wenn sie abdampfen – zum Teufel, ja –, überdies sei er von dem verdammten Eimergerassel da unten beinahe taub geworden. Die verfluchte, elende alte Dampfmaschine poltere und klappere da unten wie eine alte rostige Deckwinde, nur noch weit schlimmer; und warum er jeden Tag und jede Nacht, die Gott werden ließ, in dem Rumpelkasten, der sich mit siebenundfünfzig Umdrehungen hinschleppe, sein Leben riskiere, könne er nicht sagen. Er müsse wohl tollkühn geboren sein. Teufel, ja, er... »Wer gab dir zu trinken?« forschte der Deutsche, sehr wütend, blieb aber reglos stehen, wie ein aus einem Fettklumpen geschnitztes Standbild. Jim lächelte immer noch dem zurückweichenden Horizont zu; sein Herz war voll großmütiger Regungen, und er bedachte die eigene Überlegenheit. »Zu trinken!« wiederholte der Maschinist mit freundlichem Hohn: er hielt sich mit beiden Händen an der Reling, eine schattengleiche Gestalt mit kautschukartigen Beinen. »Sie nicht, Kapitän. Sie sind viel zu knauserig, weiß der Teufel. Sie würden einen armen Mann lieber krepieren lassen, als daß Sie ihm einen Tropfen Schnaps gäben. Das ist's, was ihr Deutschen Sparsamkeit nennt. Um Pfennige knausert ihr, und einen Taler werft ihr weg.« Er wurde sentimental. Der Obermaschinist habe ihm um zehn Uhr einen Schluck Ale gegeben – »nicht mehr, bei Gott!« –, die gute alte Haut; aber den alten Heuchler aus seinem Bettkasten herauszukriegen, das bringe kein Fünf-Tonnen-Kran zuwege. Wahrhaftig nicht. Heut nacht einmal nicht. Er schlafe sanft wie ein kleines Kind mit einer Flasche prima Branntwein unter seinem Kopfkissen. Aus der dicken Kehle des Befehlshabers der Patna ließ sich ein dumpfes Rollen vernehmen, in dessen Abstufungen von hoch zu tief das Wort »Schwein« tanzte, wie eine Feder in einem launischen Luftzug. Er und der Obermaschinist waren durch lange Jahre Gefährten gewesen, in Diensten des gleichen jovialen, pfiffigen alten Chinesen, der eine Hornbrille trug und in seinen ehrwürdigen grauen Zopf rote Seidensträhnen eingeflochten hatte. Es war kein Geheimnis in dem Heimathafen der Patna, daß diese beiden, was das »In-die-eigene-Tasche-Wirtschaften« angeht, einfach vor nichts zurückgeschreckt waren. Äußerlich waren sie sich sehr unähnlich: der eine glotzäugig, mißgünstig, mit weichen, fleischigen Linien; der andere hager, überall hohl, mit einem langen, knochigen Gesicht, wie ein alter Pferdekopf, mit eingefallenen Backen, eingefallenen Schläfen und leerem, glasigem Blick der eingefallenen Augen. Er war da irgendwo im Osten gestrandet – in Kanton, Schanghai oder, kann sein, in Yokohama; wahrscheinlich lag ihm nichts daran, sich an die genaue Örtlichkeit oder an die Ursache seines Schiffbruchs zu erinnern. Er war vor etlichen zwanzig Jahren, aus Rücksicht auf seine Jugend, ohne viel Aufsehen aus seinem Schiff hinausgeworfen worden, und es muß schlimm um ihn bestellt gewesen sein, da sich diese Episode in seinem Gedächtnis kaum als ein Unglück darstellte. Da es gerade die Zeit war, wo in jenen Meeren die Dampfschiffahrt zunahm und Männer seines Kalibers zunächst selten waren, so hatte er gewissermaßen »Glück gehabt«. Er war stets bereit, Fremde mit düsterem Gebrumme wissen zu lassen, daß er »hier draußen ein alter Praktikus« sei. Wenn er sich bewegte, so meinte man, ein Skelett schwanke in Kleidern einher. Sein Gang war unstet, und er pflegte mit der albernen Wichtigkeit eines Denkers, der aus einem armseligen Gedankenfetzchen ein philosophisches System entwickelt, um das Oberlicht des Maschinenraums herumzuwandern und dabei aus einem messingnen Pfeifenkopf, der am Ende eines vier Fuß langen Stiels aus Kirschholz steckte, opiumgetränkten Tabak zu rauchen. Er war für gewöhnlich alles eher als freigebig mit seinem Privatvorrat an Getränken; aber an diesem Abend war er seinen Grundsätzen untreu geworden, so daß sein Gehilfe, ein geistesschwaches Kind des Ostends von London, durch die unerwartete Behandlung sowohl wie durch die Stärke des Stoffs sehr glücklich, herausfordernd und redselig geworden war. Die Wut des Deutschen aus Neusüdwales war ungeheuer; er schnaufte wie ein Dampfablaßrohr, und Jim, den diese Szene nur wenig belustigte, war ungeduldig, hinunterzukommen: die letzten zehn Minuten der Wache waren aufreizend wie eine Flinte, die nicht losgeht; diese Männer gehörten nicht zu der Welt heroischer Abenteuer; sie waren zwar nicht allzu schlimm. Selbst der Kapitän ... Ein Ekel überkam ihn vor diesem keuchenden Fleischkoloß, aus dem sich ein gurgelndes Gepolter, ein Sturzbach unflätiger Ausdrücke ergoß; doch war er zu angenehm müde, um dies oder sonst etwas ausdrücklich abzulehnen. Es tat gar nichts zur Sache, wie diese Männer wirklich waren; er hielt Kameradschaft mit ihnen, doch sie kamen ihm nicht nahe, er atmete die gleiche Luft mit ihnen, doch er war anders... Würde der Kapitän den Maschinisten anpacken?... Das Leben war leicht, und er war seiner selbst viel zu sicher – viel zu sicher, um... Die Linie, die seine Gedanken noch von einem verstohlenen Einschlafen im Stehen trennte, war dünner als der Faden eines Spinngewebes.

 

Der Zweite Maschinist kam nun in leichten Übergängen zu der Betrachtung seiner Finanzen und seines Mutes.

»Wer ist betrunken? Ich? O nein, nein, Kapitän! Wo denken Sie hin? Das könnten Sie doch schon wissen, daß der Erste nicht soviel hergibt, um einen Spatzen betrunken zu machen, zum Teufel ja. Mir hat das Trinken in meinem ganzen Leben noch nichts geschadet. Das Zeug ist noch nicht gebraut, das mich betrunken machen könnte. Ich könnte flüssiges Feuer trinken anstatt eures Whisky, kübelweise, und kühl bleiben wie eine Gurke. Wenn ich mich für betrunken halten müßte, dann würde ich über Bord springen – wie ich dastehe, beim Teufel ja. Wahrhaftig! Schnurstracks! Und ich gehe nicht weg von der Brücke. Wo soll ich denn Luft schnappen, in einer Nacht wie dieser, was? Auf Deck, unter all dem Geschmeiß da unten? Jawohl – da können Sie lange warten! Und ich fürchte mich nicht die Bohne vor Ihnen.«

Der Deutsche hob zwei schwere Fäuste zum Himmel und schüttelte sie ein wenig, ohne ein Wort.

»Ich weiß nicht, was Furcht ist«, fuhr der andere mit der Inbrunst wahrer Überzeugung fort. »Ich fürchte mich nicht davor, all die verdammte Arbeit in diesem morschen Kasten zu tun, weiß der Teufel! Und Sie können sich freuen, daß da in der Welt ein paar von uns herumlaufen, denen nicht bange um ihr Leben ist, was sollten Sie sonst anfangen – Sie und dies alte Ding mit seinen Platten wie Packpapier – wie Packpapier, hol' mich der Teufel? Sie können lachen – Sie kommen auf Ihre Kosten, so oder so. Aber ich, was bekomme ich? Schäbige hundertfünfzig Dollar im Monat, und Prost die Mahlzeit. Ich möchte Sie respektvoll fragen – wohlverstanden, respektvoll: wer möchte sich so ein verfluchtes Stück Arbeit nicht vom Halse schaffen? 's ist nicht geheuer, sag' ich Ihnen, nicht geheuer! Aber ich bin einer von den furchtlosen Kerlen...«

Er ließ die Reling los und fuchtelte mit weitausgreifenden Gesten in der Luft herum, als ob er damit die Form und Ausdehnung seiner Tapferkeit veranschaulichen wollte; seine dünne Stimme überschlug sich in langgezogenen Quietschtönen, er wiegte sich auf den Zehen vor- und rückwärts, um seiner Rede mehr Nachdruck zu verleihen, und plötzlich schlug er mit dem Kopfe voran der Länge nach hin, als ob ihn jemand von hinten mit einer Keule niedergeschlagen hätte. Er sagte »Verflucht!« während er umfiel. Ein Moment des Schweigens folgte seinem Geschrei. Jim und der Kapitän schwankten beide zugleich nach vorn und standen dann, sich aufraffend, sehr steif und ruhig da, den erstaunten Blick auf die unbewegte Fläche des Wassers gerichtet. Dann sahen sie zu den Sternen empor.

Was war geschehen? Das schnaubende Stampfen der Maschine dauerte fort. War die Erde in ihrem Lauf gehemmt worden? Sie konnten nicht begreifen; und plötzlich erschienen das ruhige Meer, der wolkenlose Himmel fürchterlich unsicher in ihrer Unbeweglichkeit, hinter der das Grauen der Zerstörung lag. Der Maschinist schnellte senkrecht zu voller Länge empor und sank wieder in ein kümmerliches Häuflein zusammen. Dieses Häuflein sagte: »Was ist das?« in den erstickten Lauten tiefer Bekümmernis. Ein schwaches Geräusch wie von unendlich fernem Donner, weniger als ein Ton, kaum mehr als ein Zittern, zog langsam vorbei, und das Schiff erbebte als Antwort, als wäre das Donnergrollen tief unter Wasser erklungen. Die Augen der beiden Malaien am Rade glänzten zu den Weißen auf, aber ihre dunklen Hände blieben um die Speichen geschlossen. Der rasch dahingleitende Schiffskörper schien sich der Länge nach um ein paar Zoll über das Wasser zu erheben, als wäre er biegsam geworden, und machte sich dann wieder an seine Arbeit, die glatte Wasserfläche zu spalten. Sein Beben hörte auf, und der schwache Donner verstummte plötzlich, als wäre das Schiff über einen schmalen Streifen vibrierenden Wassers und schwingender Luft gefahren.

Viertes Kapitel

Als Jim etwa einen Monat später, da man ihm mit spitzen Fragen hart auf den Leib rückte, sich bemühte, über diese Begebenheit die strikte Wahrheit zu berichten, sagte er von dem Schiff: »Was das Ding auch gewesen sein mag – die Patna fuhr so leicht darüber weg, wie eine Schlange über einen Stock kriecht.« Die Erklärung war gut. Die Fragen zielten auf bestimmte Tatsachen, und die amtliche Untersuchung wurde auf dem Polizeibüro eines morgenländischen Hafens abgehalten. Jim stand hoch aufgerichtet, mit brennenden Backen, in der Zeugenbank, in einem kühlen, hohen Raum. Die großen Fächer der Punkahs bewegten sich sachte hoch über seinem Kopf, und von unten waren viele Augen aus dunklen, aus weißen, aus roten Gesichtern mit gespannter Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet, als hätte alle diese Leute, die auf engen Bänken in geordneten Reihen da saßen, der Klang seiner Stimme im Bann gehalten. Diese Stimme war sehr laut und gellte hart in seinen eigenen Ohren, er hörte nichts anderes als sie allein, denn die furchtbar eindringlichen Fragen, die ihm Antworten erpreßten, schienen sich unter Angst und Qualen in seiner eigenen Brust zu bilden – bohrten sich scharf in ihn hinein wie die Fragen des eigenen Gewissens. Draußen der glühende Sonnenbrand – drinnen der Wind der großen Punkahs, der einem ein Frösteln über den Leib jagte, die brennende Scham, die Blicke, die einen durchbohrten. Das kalte, glattrasierte Gesicht des Vorsitzenden erschien totenbleich zwischen den roten Gesichtern der beiden nautischen Beisitzer. Aus einem breiten Fenster unter der Decke fiel das Licht auf die Köpfe und Schultern der drei Männer, hob sie mit beklemmender Deutlichkeit aus dem Helldunkel des Gerichtssaals hervor, dessen Auditorium aus gaffenden Schatten zu bestehen schien. Sie wollten den Tatbestand wissen. Den Tatbestand! Sie fragten ihn nach dem Tatbestand, als hätte der irgend etwas erklären können.

»Nachdem Sie nun zu dem Schluß gekommen waren, daß Sie mit etwas unter Wasser, sagen wir mit einem auf seiner Ladung treibenden Wrack zusammengestoßen waren, erhielten Sie von Ihrem Kapitän den Befehl, nach vorne zu gehen und sich zu vergewissern, ob das Schiff einen Schaden erlitten habe. Hielten Sie dies nach der Stärke des Stoßes für wahrscheinlich?« fragte der Beisitzer zur Linken. Er hatte einen dünnen, hufeisenförmigen Bart, vorstehende Backenknochen; die Ellenbogen aufgestützt, die wetterharten Hände vors Gesicht gedrückt, blickte er Jim aus nachdenklichen blauen Augen an; der andere, ein massiger, verächtlich dreinschauender Mann, saß, den linken Arm lang ausgestreckt, in seinem Stuhl zurückgelehnt und trommelte sacht mit den Fingerspitzen auf einer Schreibunterlage; in der Mitte hielt der Vorsitzende, aufrecht in seinem breiten Lehnstuhl und mit seitwärts geneigtem Kopf, die Arme über der Brust gekreuzt. Neben seinem Tintenfaß stand eine gläserne Vase mit ein paar Blumen.

»Nein«, sagte Jim. »Mir war befohlen, niemand zu rufen und keinen Lärm zu machen, damit keine Panik entstünde. Ich fand diese Vorsicht richtig. Ich nahm eine der Lampen, die unter dem Sonnensegel hingen, und ging nach vorn, Als ich die Vorderstevenluke öffnete, hörte ich da drin ein Plätschern. Ich ließ die Lampe an ihrem Bändsel ganz hinunter und sah, daß der Vordersteven schon mehr als zur Hälfte voll Wasser war. Nun war mir klar, daß unter der Wasserlinie ein großes Leck sein mußte.« Er hielt inne.

 

»Ja«, sagte der dicke Beisitzer, mit einem träumerischen Lächeln gegen die Schreibunterlage; seine Finger spielten unaufhörlich lautlos auf dem Papier.

»Ich dachte dabei noch nicht an Gefahr. Ich war wohl ein wenig erschrocken; es war alles so ruhig und so sehr plötzlich geschehen. Ich wußte, daß kein anderes Schott in dem Schiff war außer dem Kollisionsschott, das den Vordersteven vom Vorderraum trennte. Ich ging zurück, um dem Kapitän Meldung zu machen. Ich stieß auf den Zweiten Maschinisten, der sich am Fuß der Brückentreppe aufrichtete: er schien verstört und sagte, er glaube, sein linker Arm sei gebrochen; er war, während ich vorn war, beim Heruntersteigen auf der obersten Stufe ausgerutscht. Er rief aus: ›Mein Gott! das elende Schott wird im nächsten Augenblick nachgeben, und dann sinkt das alte Ding unter uns wie ein Klumpen Blei.‹ Er stieß mich mit seinem rechten Arm weg und kletterte vor mir schreiend die Leiter hinauf; sein linker Arm hing an der Seite herunter. Ich kam rechtzeitig hinauf, um zu sehen, wie sich der Kapitän auf ihn stürzte und ihn flach auf den Rücken warf. Er schlug ihn nicht zum zweitenmal: er stand über ihn gebeugt und sprach zornig, aber ganz leise. Wahrscheinlich fragte er ihn, warum zum Teufel er nicht die Maschine abstellte, anstatt auf Deck ein solches Geschrei zu machen. Ich hörte, wie er sagte: ›Stehn Sie auf! Laufen Sie, fliegen Sie!‹ Er fluchte auch. Der Maschinist glitt die Steuerbordleiter hinunter und rannte um das Oberlicht herum zum Maschinenraum-Niedergang, der sich an Backbord befand. Er stöhnte laut, während er lief...«,

Er sprach langsam; er erinnerte sich mühelos und außerordentlich genau; er hätte zur besseren Belehrung dieser Männer, die Tatsachen wissen wollten, das Stöhnen des Maschinisten nachmachen können. Nach seinem ersten Gefühl der Auflehnung war er zu der Ansicht gekommen, daß nur eine peinlich genaue Darlegung des Tatbestandes das Grauenvolle, das sich hinter der furchtbaren Außenseite der Dinge barg, an den Tag bringen konnte. Die Tatsachen, auf die diese Männer so erpicht schienen, waren sichtbar, fühlbar, den Sinnen wahrnehmbar gewesen, hatten ihren Platz in Zeit und Raum innegehabt, zu ihrer Verwirklichung einen Vierzehnhundert-Tonnen-Dampfer und siebenundzwanzig Minuten nach der Uhr gebraucht; sie bildeten ein Ganzes, das ein Gesicht hatte, ein Gesicht mit sorgfältig wechselndem Ausdruck, das man sich vor Augen rufen konnte, mit noch etwas, einem Unsichtbaren, das darin hauste, wie eine schwarze Seele in einem wüsten Leib. Er war eifrig bemüht, dies klarzustellen. Dies war kein gewöhnliches Vorkommnis, alles darin war von äußerster Wichtigkeit, und glücklicherweise erinnerte er sich an alles. Er hatte das Bedürfnis, weiterzureden, um der Wahrheit willen, vielleicht auch um seiner selbst willen; und während er sich bedachtsam äußerte, schossen seine Gedanken hartnäckig rundherum in dem geschlossenen Zirkel von Tatsachen, die sich um ihn aufgerichtet hatten und ihn von allen übrigen seiner Gattung abschnitten; er war wie einer, der hinter einem hohen Eisengitter gefangen sitzt und in der Nacht verzweifelt hin und her rennt, einen schwachen Punkt, eine Lücke zu entdecken sucht, ein Fleckchen, wo er hinüberklettern, eine Öffnung, durch die er sich durchzwängen und entrinnen könnte. Diese fürchterliche innere Spannung ließ ihn manchmal in seiner Rede zaudern...

»Der Kapitän ging immer noch auf der Brücke hin und her; er schien ziemlich ruhig, nur stolperte er mehrmals, und einmal, als ich zu ihm sprach, rannte er gegen mich an, als wäre er stockblind gewesen. Er gab keine bestimmte Antwort auf das, was ich ihm sagte. Er murmelte in sich hinein; alles, was ich davon vernahm, waren ein paar Worte, die so klangen wie ›verfluchter Dampf!‹ und ›höllischer Dampf!‹ – irgend etwas von Dampf. Ich glaubte...«,

Er fing an, Belangloses zu sagen. Eine Frage zur Sache schnitt seine Rede ab wie ein plötzlicher körperlicher Schmerz, und es überkam ihn eine hoffnungslose Verzagtheit. Er wollte noch dies und jenes erwähnen – doch nun, mitten im Zug aufgehalten, mußte er mit Ja und Nein antworten. Er antwortete wahrheitsgemäß mit einem kurzen »Ja, das tat ich«,. Und wie er so dastand, hoch aufgerichtet, mit seiner kräftigen Gestalt, den gefälligen Gesichtszügen und den jungen, finster blickenden Augen, wand sich seine Seele in ihm vor Pein. Er hatte noch eine andere Frage zur Sache, die ebenso gleichgültig war, zu beantworten, dann wartete er wieder. Seine Zunge war ausgedorrt, als ob er Staub gegessen hätte, hernach hatte er einen salzigen, bitteren Geschmack im Munde wie nach einem Trunk Seewasser. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen und fühlte einen Schauer den Rücken hinunterlaufen. Der dicke Beisitzer hatte die Augen geschlossen und trommelte lautlos weiter, unablässig und mit düsterer Miene; die Augen des andern schienen über den sonnverbrannten, geschlossenen Händen vor Wohlwollen zu leuchten; der Richter hatte sich vorgebeugt und sein blasses Gesicht den Blumen genähert; dann neigte er sich seitlich gegen die Armlehne seines Stuhls und stützte die Schläfe in die Handfläche. Der Wind von den Fächern wehte um die Köpfe, um die dunklen, von weiten Schals umwundenen der Eingeborenen, um die der dicht nebeneinander sitzenden, mit enganliegenden Drellanzügen bekleideten, sehr erhitzten Europäer, die ihre Korkhelme auf den Knien hielten; während die eingeborenen Polizeidiener in langen weißen, bis oben zugeknöpften Kitteln an der Mauer entlang glitten, barfuß, mit roten Schärpen, den roten Turban auf dem Kopf, hurtig hin und her flitzten, geräuschlos wie Geister und immer auf dem Sprung wie Apportierhunde.

Jims Augen, die in den Pausen zwischen seinen Antworten umherirrten, blieben an einem Weißen haften, der von den andern abseits saß; er sah düster und verhärmt aus, doch seine Augen blickten ruhig, klar und voll Anteilnahme geradeaus. Jim beantwortete eine andere Frage und konnte sich kaum enthalten auszurufen: »Was soll das alles, um Gottes willen!« Er stampfte leicht mit dem Fuß auf, nagte an der Lippe und sah über die Köpfe weg. Er begegnete den Augen des Weißen. Der Blick, der sich auf ihn richtete, war verschieden von dem gierigen Anstarren der andern. Eine verständnisvolle Anteilnahme sprach daraus. Zwischen zwei Fragen vergaß sich Jim so weit, einem Gedanken Raum zu geben. Dieser Mensch – so fuhr es ihm durch den Sinn – sieht mich an, als ob er jemand oder etwas über meine Schulter weg entdeckte. Er war diesem Menschen schon begegnet – vielleicht auf der Straße. Er wußte bestimmt, daß er nie mit ihm gesprochen hatte. Seit Tagen, seit vielen Tagen hatte er mit niemand gesprochen, sondern hatte, wie ein Gefangener in seiner Zelle oder ein in der Wildnis verlorener Wanderer, endlose, stumme, unzusammenhängende Selbstgespräche geführt. Nunmehr beantwortete er Fragen, auf die es nicht ankam, obwohl sie einen Zweck hatten; doch er zweifelte, ob er jemals wieder in seinem Leben freiheraus sprechen würde. Der Ton seiner eigenen, der Wahrheit entsprechenden Aussagen bestätigte ihm seine Erkenntnis, daß Reden fürderhin keinen Wert für ihn habe. Jener Mann dort schien seine hoffnungslose Lage zu begreifen. Jim richtete seinen Blick auf ihn und wandte sich dann, wie nach einem Abschied, entschlossen weg.

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