Dichtung und Wahrheit

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Из серии: Klassiker bei Null Papier
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Nicht al­lein durch die krie­ge­ri­schen Zu­stän­de, in de­nen wir uns seit ei­ni­gen Jah­ren be­fan­den, son­dern auch durch das bür­ger­li­che Le­ben selbst, durch Le­sen von Ge­schich­ten und Ro­ma­nen, war es uns nur all­zu deut­lich, dass es sehr vie­le Fäl­le gebe, in wel­chen die Ge­set­ze schwei­gen und dem ein­zel­nen nicht zu Hil­fe kom­men, der dann se­hen mag, wie er sich aus der Sa­che zieht. Wir wa­ren nun her­an­ge­wach­sen, und dem Schlen­dria­ne nach soll­ten wir auch ne­ben an­de­ren Din­gen fech­ten und rei­ten ler­nen, um uns ge­le­gent­lich un­se­rer Haut zu weh­ren und zu Pfer­de kein schü­ler­haf­tes An­sehn zu ha­ben. Was den ers­ten Punkt be­trifft, so war uns eine sol­che Übung sehr an­ge­nehm: denn wir hat­ten uns schon längst Hau-Ra­pie­re von Ha­sel­stö­cken, mit Kör­ben von Wei­den sau­ber ge­floch­ten, um die Hand zu schüt­zen, zu ver­schaf­fen ge­wusst. Nun durf­ten wir uns wirk­lich stäh­ler­ne Klin­gen zu­le­gen, und das Geras­sel, was wir da­mit mach­ten, war sehr leb­haft.

Zwei Fecht­meis­ter be­fan­den sich in der Stadt: ein äl­te­rer erns­ter Deut­scher, der auf die stren­ge und tüch­ti­ge Wei­se zu Wer­ke ging, und ein Fran­zo­se, der sei­nen Vor­teil durch Avan­cie­ren und Re­ti­rie­ren, durch leich­te flüch­ti­ge Stö­ße, wel­che stets mit ei­ni­gen Aus­ru­fun­gen be­glei­tet wa­ren, zu er­rei­chen such­te. Die Mei­nun­gen, wel­che Art die bes­te sei, wa­ren ge­teilt. Der klei­nen Ge­sell­schaft, mit wel­cher ich Stun­de neh­men soll­te, gab man den Fran­zo­sen, und wir ge­wöhn­ten uns bald, vor­wärts und rück­wärts zu ge­hen, aus­zu­fal­len und uns zu­rück­zu­zie­hen und da­bei im­mer in die her­kömm­li­chen Schrei­lau­te aus­zu­bre­chen. Meh­re­re von un­sern Be­kann­ten aber hat­ten sich zu dem deut­schen Fecht­meis­ter ge­wen­det und üb­ten ge­ra­de das Ge­gen­teil. Die­se ver­schie­de­nen Ar­ten, eine so wich­ti­ge Übung zu be­han­deln, die Über­zeu­gung ei­nes je­den, dass sein Meis­ter der bes­se­re sei, brach­te wirk­lich eine Spal­tung un­ter die jun­gen Leu­te, die un­ge­fähr von ei­nem Al­ter wa­ren, und es fehl­te we­nig, so hät­ten die Fecht­schu­len ganz ernst­li­che Ge­fech­te ver­an­lasst. Denn fast ward eben so sehr mit Wor­ten ge­strit­ten als mit der Klin­ge ge­foch­ten, und um zu­letzt der Sa­che ein Ende zu ma­chen, ward ein Wett­kampf zwi­schen bei­den Meis­tern ver­an­stal­tet, des­sen Er­folg ich nicht um­ständ­lich zu be­schrei­ben brau­che. Der Deut­sche stand in sei­ner Po­si­tur wie eine Mau­er, pass­te auf sei­nen Vor­teil und wuss­te mit Bat­tie­ren und Li­gie­ren sei­nen Geg­ner ein über das an­de­re Mal zu ent­waff­nen. Die­ser be­haup­te­te, das sei nicht Rai­son, und fuhr mit sei­ner Be­weg­lich­keit fort, den an­de­ren in Atem zu set­zen. Auch brach­te er dem Deut­schen wohl ei­ni­ge Stö­ße bei, die ihn aber selbst, wenn es Ernst ge­we­sen wäre, in die an­de­re Welt ge­schickt hät­ten.

Im gan­zen ward nichts ent­schie­den noch ge­bes­sert, nur wen­de­ten sich ei­ni­ge zu dem Lands­mann, wor­un­ter ich auch ge­hör­te. Al­lein ich hat­te schon zu viel von dem ers­ten Meis­ter an­ge­nom­men, da­her eine ziem­li­che Zeit dar­über hin­ging, bis der neue mir es wie­der ab­ge­wöh­nen konn­te, der über­haupt mit uns Re­ne­ga­ten we­ni­ger als mit sei­nen Ur­schü­lern zu­frie­den war.

Mit dem Rei­ten ging es mir noch schlim­mer. Zu­fäl­li­ger­wei­se schick­te man mich im Herbst auf die Bahn, so­dass ich in der küh­len und feuch­ten Jah­res­zeit mei­nen An­fang mach­te. Die pe­dan­ti­sche Be­hand­lung die­ser schö­nen Kunst war mir höch­lich zu­wi­der. Zum ers­ten und letz­ten war im­mer vom Schlie­ßen die Rede, und es konn­te ei­nem doch nie­mand sa­gen, worin denn ei­gent­lich der Schluss be­ste­he, wor­auf doch al­les an­kom­men sol­le: denn man fuhr ohne Steig­bü­gel auf dem Pfer­de hin und her. Üb­ri­gens schi­en der Un­ter­richt nur auf Prel­le­rei und Be­schä­mung der Schol­a­ren an­ge­legt. Ver­gaß man die Kinn­ket­te ein- oder aus­zu­hän­gen, ließ man die Ger­te fal­len oder wohl gar den Hut, je­des Ver­säum­nis, je­des Un­glück muss­te mit Geld ge­büßt wer­den, und man ward noch oben­ein aus­ge­lacht. Dies gab mir den al­ler­schlimms­ten Hu­mor, be­son­ders da ich den Übungs­ort selbst ganz un­er­träg­lich fand. Der gars­ti­ge, große, ent­we­der feuch­te oder stau­bi­ge Raum, die Käl­te, der Mo­der­ge­ruch, al­les zu­sam­men war mir im höchs­ten Gra­de zu­wi­der; und da der Stall­meis­ter den an­de­ren, weil sie ihn viel­leicht durch Früh­stücke und sons­ti­ge Ga­ben, viel­leicht auch durch ihre Ge­schick­lich­keit be­sta­chen, im­mer die bes­ten Pfer­de, mir aber die schlech­tes­ten zu rei­ten gab, mich auch wohl war­ten ließ und mich, wie es schi­en, hint­an­setz­te, so brach­te ich die al­ler­ver­drieß­lichs­ten Stun­den über ei­nem Ge­schäft hin, das ei­gent­lich das lus­tigs­te von der Welt sein soll­te. Ja der Ein­druck von je­ner Zeit, von je­nen Zu­stän­den ist mir so leb­haft ge­blie­ben, dass, ob ich gleich nach­her lei­den­schaft­lich und ver­we­gen zu rei­ten ge­wohnt war, auch tage- und wo­chen­lang kaum vom Pfer­de kam, dass ich be­deck­te Reit­bah­nen sorg­fäl­tig ver­mied und höchs­tens nur we­nig Au­gen­bli­cke dar­in ver­weil­te. Es kommt üb­ri­gens der Fall oft ge­nug vor, dass, wenn die An­fän­ge ei­ner ab­ge­schlos­se­nen Kunst uns über­lie­fert wer­den sol­len, die­ses auf eine pein­li­che und ab­schre­cken­de Art ge­schieht. Die Über­zeu­gung, wie läs­tig und schäd­lich die­ses sei, hat in spä­tern Zei­ten die Er­zie­hungs­ma­xi­me auf­ge­stellt, dass al­les der Ju­gend auf eine leich­te, lus­ti­ge und be­que­me Art bei­ge­bracht wer­den müs­se; wor­aus denn aber auch wie­der an­de­re Übel und Nach­tei­le ent­sprun­gen sind.

Mit der An­nä­he­rung des Früh­lings ward es bei uns auch wie­der ru­hi­ger, und wenn ich mir frü­her das An­schau­en der Stadt, ih­rer geist­li­chen und welt­li­chen, öf­fent­li­chen und Pri­vat-Ge­bäu­de zu ver­schaf­fen such­te und be­son­ders an dem da­mals noch vor­herr­schen­den Al­ter­tüm­li­chen das größ­te Ver­gnü­gen fand, so war ich nach­her be­müht, durch die Ler­s­ner­sche Chro­nik und durch an­de­re un­ter mei­nes Va­ters Fran­ko­fur­ten­si­en be­find­li­che Bü­cher und Hef­te die Per­so­nen ver­gang­ner Zei­ten mir zu ver­ge­gen­wär­ti­gen; wel­ches mir denn auch durch große Auf­merk­sam­keit auf das Be­son­de­re der Zei­ten und Sit­ten und be­deu­ten­der In­di­vi­dua­li­tä­ten ganz gut zu ge­lin­gen schi­en.

Un­ter den al­ter­tüm­li­chen Res­ten war mir, von Kind­heit an, der auf dem Brück­en­turm auf­ge­steck­te Schä­del ei­nes Staats­ver­bre­chers merk­wür­dig ge­we­sen, der von drei­en oder vie­ren, wie die lee­ren ei­ser­nen Spit­zen aus­wie­sen, seit 1616 sich durch alle Un­bil­den der Zeit und Wit­te­rung er­hal­ten hat­te. So oft man von Sa­chen­hau­sen nach Frank­furt zu­rück­kehr­te, hat­te man den Turm vor sich, und der Schä­del fiel ins Auge. Ich ließ mir als Kna­be schon gern die Ge­schich­te die­ser Auf­rüh­rer, des Fett­milch und sei­ner Ge­nos­sen, er­zäh­len, wie sie mit dem Stadt­re­gi­ment un­zu­frie­den ge­we­sen, sich ge­gen das­sel­be em­pört, Meu­te­rei an­ge­spon­nen, die Ju­den­stadt ge­plün­dert und gräss­li­che Hän­del er­regt, zu­letzt aber ge­fan­gen und von kai­ser­li­chen Ab­ge­ord­ne­ten zum Tode ver­ur­teilt wor­den. Spä­ter­hin lag mir dar­an, die nä­hern Um­stän­de zu er­fah­ren und, was es denn für Leu­te ge­we­sen, zu ver­neh­men. Als ich nun aus ei­nem al­ten, gleich­zei­ti­gen, mit Holz­schnit­ten ver­se­he­nen Bu­che er­fuhr, dass zwar die­se Men­schen zum Tode ver­ur­teilt, aber zu­gleich auch vie­le Rats­herrn ab­ge­setzt wor­den, weil man­cher­lei Un­ord­nung und sehr viel Un­ver­ant­wort­li­ches im Schwan­ge ge­we­sen; da ich nun die nä­hern Um­stän­de ver­nahm, wie al­les her­ge­gan­gen: so be­dau­er­te ich die un­glück­li­chen Men­schen, wel­che man wohl als Op­fer, die ei­ner künf­ti­gen bes­sern Ver­fas­sung ge­bracht wor­den, an­se­hen dür­fe; denn von je­ner Zeit schrieb sich die Ein­rich­tung her, nach wel­cher so­wohl das al­tad­li­ge Haus Lim­purg, das aus ei­nem Klub ent­sprun­ge­ne Haus Frau­en­stein, fer­ner Ju­ris­ten, Kauf­leu­te und Hand­wer­ker an ei­nem Re­gi­men­te teil­neh­men soll­ten, das, durch eine auf ve­ne­zia­ni­sche Wei­se ver­wi­ckel­te Bal­lo­ta­ge er­gänzt, von bür­ger­li­chen Kol­le­gi­en ein­ge­schränkt, das Rech­te zu tun be­ru­fen war, ohne zu dem Un­rech­ten son­der­li­che Frei­heit zu be­hal­ten.

Zu den ahn­dungs­vol­len Din­gen, die den Kna­ben und auch wohl den Jüng­ling be­dräng­ten, ge­hör­te be­son­ders der Zu­stand der Ju­den­stadt, ei­gent­lich die Ju­den­gas­se ge­nannt, weil sie kaum aus et­was mehr als ei­ner ein­zi­gen Stra­ße be­steht, wel­che in frü­hen Zei­ten zwi­schen Stadt­mau­er und Gra­ben wie in einen Zwin­ger moch­te ein­ge­klemmt wor­den sein. Die Enge, der Schmutz, das Ge­wim­mel, der Ak­zent ei­ner un­er­freu­li­chen Spra­che, al­les zu­sam­men mach­te den un­an­ge­nehms­ten Ein­druck, wenn man auch nur am Tore vor­bei­ge­hend hin­einsah. Es dau­er­te lan­ge, bis ich al­lein mich hin­ein­wag­te, und ich kehr­te nicht leicht wie­der da­hin zu­rück, wenn ich ein­mal den Zu­dring­lich­kei­ten so vie­ler, et­was zu scha­chern un­er­mü­det for­dern­der oder an­bie­ten­der Men­schen ent­gan­gen war. Da­bei schweb­ten die al­ten Mär­chen von Grau­sam­keit der Ju­den ge­gen die Chris­ten­kin­der, die wir in Gott­frieds »Chro­nik« gräss­lich ab­ge­bil­det ge­se­hen, düs­ter vor dem jun­gen Ge­müt. Und ob man gleich in der neu­ern Zeit bes­ser von ih­nen dach­te, so zeug­te doch das große Spott- und Schand­ge­mäl­de, wel­ches un­ter dem Brück­en­turm an ei­ner Bo­gen­wand, zu ih­rem Un­glimpf, noch ziem­lich zu se­hen war, au­ßer­or­dent­lich ge­gen sie: denn es war nicht etwa durch einen Pri­vat­mut­wil­len, son­dern aus öf­fent­li­cher An­stalt ver­fer­tigt wor­den.

In­des­sen blie­ben sie doch das aus­er­wähl­te Volk Got­tes und gin­gen, wie es nun moch­te ge­kom­men sein, zum An­den­ken der äl­tes­ten Zei­ten um­her. Au­ßer­dem wa­ren sie ja auch Men­schen, tä­tig, ge­fäl­lig, und selbst dem Ei­gen­sinn, wo­mit sie an ih­ren Ge­bräu­chen hin­gen, konn­te man sei­ne Ach­tung nicht ver­sa­gen. Über­dies wa­ren die Mäd­chen hübsch und moch­ten es wohl lei­den, wenn ein Chris­ten­kna­be, ih­nen am Sab­bat auf dem Fi­scher­fel­de be­geg­nend, sich freund­lich und auf­merk­sam be­wies. Äu­ßerst neu­gie­rig war ich da­her, ihre Ze­re­mo­ni­en ken­nen zu ler­nen. Ich ließ nicht ab, bis ich ihre Schu­le öf­ters be­sucht, ei­ner Be­schnei­dung, ei­ner Hoch­zeit bei­ge­wohnt und von dem Lau­ber­hüt­ten­fest mir ein Bild ge­macht hat­te. Über­all war ich wohl auf­ge­nom­men, gut be­wir­tet und zur Wie­der­kehr ein­ge­la­den: denn es wa­ren Per­so­nen von Ein­fluss, die mich ent­we­der hin­führ­ten oder emp­fah­len.

 

So wur­de ich denn als ein jun­ger Be­woh­ner ei­ner großen Stadt von ei­nem Ge­gen­stand zum an­de­ren hin und wi­der ge­wor­fen, und es fehl­te mit­ten in der bür­ger­li­chen Ruhe und Si­cher­heit nicht an gräss­li­chen Auf­trit­ten. Bald weck­te ein nä­he­rer oder ent­fern­ter Brand uns aus un­serm häus­li­chen Frie­den, bald setz­te ein ent­deck­tes großes Ver­bre­chen, des­sen Un­ter­su­chung und Be­stra­fung die Stadt auf vie­le Wo­chen in Un­ru­he. Wir muss­ten Zeu­gen von ver­schie­de­nen Exe­ku­tio­nen sein, und es ist wohl wert, zu ge­den­ken, dass ich auch bei Ver­bren­nung ei­nes Buchs ge­gen­wär­tig ge­we­sen bin. Es war der Ver­lag ei­nes fran­zö­si­schen ko­mi­schen Ro­mans, der zwar den Staat, aber nicht Re­li­gi­on und Sit­ten schon­te. Es hat­te wirk­lich et­was Fürch­ter­li­ches, eine Stra­fe an ei­nem leb­lo­sen We­sen aus­ge­übt zu se­hen. Die Bal­len platz­ten im Feu­er und wur­den durch Ofen­ga­beln aus ein­an­der ge­schürt und mit den Flam­men mehr in Berüh­rung ge­bracht. Es dau­er­te nicht lan­ge, so flo­gen die an­ge­brann­ten Blät­ter in der Luft her­um, und die Men­ge hasch­te be­gie­rig da­nach. Auch ruh­ten wir nicht, bis wir ein Exem­plar auf­trie­ben, und es wa­ren nicht we­ni­ge, die sich das ver­bot­ne Ver­gnü­gen gleich­falls zu ver­schaf­fen wuss­ten. Ja, wenn es dem Au­tor um Pub­li­zi­tät zu tun war, so hät­te er selbst nicht bes­ser da­für sor­gen kön­nen.

Je­doch auch fried­li­che­re An­läs­se führ­ten mich in der Stadt hin und wi­der. Mein Va­ter hat­te mich früh ge­wöhnt, klei­ne Ge­schäf­te für ihn zu be­sor­gen. Be­son­ders trug er mir auf, die Hand­wer­ker, die er in Ar­beit setz­te, zu mah­nen, da sie ihn ge­wöhn­lich län­ger als bil­lig auf­hiel­ten, weil er al­les ge­nau woll­te ge­ar­bei­tet ha­ben und zu­letzt bei promp­ter Be­zah­lung die Prei­se zu mä­ßi­gen pfleg­te. Ich ge­lang­te da­durch fast in alle Werk­stät­ten, und da es mir an­ge­bo­ren war, mich in die Zu­stän­de an­de­rer zu fin­den, eine jede be­son­de­re Art des mensch­li­chen Da­seins zu füh­len und mit Ge­fal­len dar­an teil­zu­neh­men, so brach­te ich man­che ver­gnüg­li­che Stun­de durch An­lass sol­cher Auf­trä­ge zu, lern­te ei­nes je­den Ver­fah­rungs­art ken­nen, und was die un­er­läss­li­chen Be­din­gun­gen die­ser und je­ner Le­bens­wei­se für Freu­de, für Leid, Be­schwer­li­ches und Güns­ti­ges mit sich füh­ren. Ich nä­her­te mich da­durch die­ser tä­ti­gen, das Un­te­re und Obe­re ver­bin­den­den Klas­se. Denn wenn an der einen Sei­te die­je­ni­gen ste­hen, die sich mit den ein­fa­chen und ro­hen Er­zeug­nis­sen be­schäf­ti­gen, an der an­de­ren sol­che, die schon et­was Ver­ar­bei­te­tes ge­nie­ßen wol­len, so ver­mit­telt der Ge­wer­ker durch Sinn und Hand, dass jene bei­de et­was von­ein­an­der emp­fan­gen und je­der nach sei­ner Art sei­ner Wün­sche teil­haft wer­den kann. Das Fa­mi­li­en­we­sen ei­nes je­den Hand­werks, das Ge­stalt und Far­be von der Be­schäf­ti­gung er­hielt, war gleich­falls der Ge­gen­stand mei­ner stil­len Auf­merk­sam­keit, und so ent­wi­ckel­te, so be­stärk­te sich in mir das Ge­fühl der Gleich­heit, wo nicht al­ler Men­schen, doch al­ler mensch­li­chen Zu­stän­de, in­dem mir das nack­te Da­sein als die Haupt­be­din­gung, das üb­ri­ge al­les aber als gleich­gül­tig und zu­fäl­lig er­schi­en.

Da mein Va­ter sich nicht leicht eine Aus­ga­be er­laub­te, die durch einen au­gen­blick­li­chen Ge­nuss so­gleich wäre auf­ge­zehrt wor­den – wie ich mich denn kaum er­inn­re, dass wir zu­sam­men spa­zie­ren ge­fah­ren, und auf ei­nem Lu­stor­te et­was ver­zehrt hät­ten – so war er da­ge­gen nicht karg mit An­schaf­fung sol­cher Din­ge, die bei in­nerm Wert auch einen gu­ten äu­ßern Schein ha­ben. Nie­mand konn­te den Frie­den mehr wün­schen als er, ob er gleich in der letz­ten Zeit vom Krie­ge nicht die min­des­te Be­schwer­lich­keit emp­fand. In die­sen Ge­sin­nun­gen hat­te er mei­ner Mut­ter eine gold­ne mit Dia­man­ten be­setz­te Dose ver­spro­chen, wel­che sie er­hal­ten soll­te, so­bald der Frie­de pu­bli­ziert wür­de. In Hoff­nung die­ses glück­li­chen Er­eig­nis­ses ar­bei­te­te man schon ei­ni­ge Jah­re an die­sem Ge­schenk. Die Dose selbst von ziem­li­cher Grö­ße ward in Hanau ver­fer­tigt: denn mit den dor­ti­gen Gold­ar­bei­tern, so wie mit den Vor­ste­hern der Sei­den­an­stalt, stand mein Va­ter in gu­tem Ver­neh­men. Meh­re­re Zeich­nun­gen wur­den dazu ver­fer­tigt; den De­ckel zier­te ein Blu­men­korb, über wel­chem eine Tau­be mit dem Öl­zweig schweb­te. Der Raum für die Ju­we­len war ge­las­sen, die teils an der Tau­be, teils an den Blu­men, teils auch an der Stel­le, wo man die Dose zu öff­nen pflegt, an­ge­bracht wer­den soll­ten. Der Ju­we­lier, dem die völ­li­ge Aus­füh­rung nebst den dazu nö­ti­gen Stei­nen über­ge­ben ward, hieß Lau­ten­sack und war ein ge­schick­ter, mun­t­rer Mann, der, wie meh­re­re geist­rei­che Künst­ler, sel­ten das Not­wen­di­ge, ge­wöhn­lich aber das Will­kür­li­che tat, was ihm Ver­gnü­gen mach­te. Die Ju­we­len, in der Fi­gur, wie sie auf dem Do­sen­de­ckel an­ge­bracht wer­den soll­ten, wa­ren zwar bald auf schwar­zes Wachs ge­setzt und nah­men sich ganz gut aus; al­lein sie woll­ten sich von da gar nicht ab­lö­sen, um aufs Gold zu ge­lan­gen. Im An­fan­ge ließ mein Va­ter die Sa­che noch so an­ste­hen; als aber die Hoff­nung zum Frie­den im­mer leb­haf­ter wur­de, als man zu­letzt schon die Be­din­gun­gen, be­son­ders die Er­he­bung des Erz­her­zogs Jo­seph zum Rö­mi­schen Kö­nig, ge­nau­er wis­sen woll­te, so ward mein Va­ter im­mer un­ge­dul­di­ger, und ich muss­te wö­chent­lich ein paar­mal, ja zu­letzt fast täg­lich den saum­se­li­gen Künst­ler be­su­chen. Durch mein un­abläs­si­ges Quä­len und Zu­re­den rück­te die Ar­beit, wie­wohl lang­sam ge­nug, vor­wärts: denn weil sie von der Art war, dass man sie bald vor­neh­men, bald wie­der aus den Hän­den le­gen konn­te, so fand sich im­mer et­was, wo­durch sie ver­drängt und bei­sei­te ge­scho­ben wur­de.

Die Haup­t­ur­sa­che die­ses Be­neh­mens in­des war eine Ar­beit, die der Künst­ler für ei­ge­ne Rech­nung un­ter­nom­men hat­te. Je­der­mann wuss­te, dass Kai­ser Franz eine große Nei­gung zu Ju­we­len, be­son­ders auch zu far­bi­gen Stei­nen hege. Lau­ten­sack hat­te eine an­sehn­li­che Sum­me (und, wie sich spä­ter fand, grö­ßer als sein Ver­mö­gen) auf der­glei­chen Edel­stei­ne ver­wandt und dar­aus einen Blu­men­strauß zu bil­den an­ge­fan­gen, in wel­chem je­der Stein nach sei­ner Form und Far­be güns­tig her­vor­tre­ten und das Gan­ze ein Kunst­stück ge­ben soll­te, wert, in dem Schatz­ge­wöl­be ei­nes Kai­sers auf­be­wahrt zu ste­hen. Er hat­te nach sei­ner zer­streu­ten Art meh­re­re Jah­re dar­an ge­ar­bei­tet und eil­te nun, weil man nach dem bald zu hof­fen­den Frie­den die An­kunft des Kai­sers zur Krö­nung sei­nes Sohns in Frank­furt er­war­te­te, es voll­stän­dig zu ma­chen und end­lich zu­sam­men­zu­brin­gen. Mei­ne Lust, der­glei­chen Ge­gen­stän­de ken­nen zu ler­nen, be­nutz­te er sehr ge­wandt, um mich als einen Mahn­bo­ten zu zer­streu­en und von mei­nem Vor­satz ab­zu­len­ken. Er such­te mir die Kennt­nis die­ser Stei­ne bei­zu­brin­gen, mach­te mich auf ihre Ei­gen­schaf­ten, ih­ren Wert auf­merk­sam, so­dass ich sein gan­zes Bou­quet zu­letzt aus­wen­dig wuss­te und es eben so gut wie er ei­nem Kun­den hät­te an­prei­send vor­de­mons­trie­ren kön­nen. Es ist mir noch jetzt ge­gen­wär­tig, und ich habe wohl kost­ba­re­re, aber nicht an­mu­ti­ge­re Schau- und Pracht­stücke die­ser Art ge­se­hen. Au­ßer­dem be­saß er noch eine hüb­sche Kup­fer­samm­lung und an­de­re Kunst­wer­ke, über die er sich gern un­ter­hielt, und ich brach­te vie­le Stun­den nicht ohne Nut­zen bei ihm zu. End­lich, als wirk­lich der Kon­gress zu Hu­berts­burg schon fest­ge­setzt war, tat er aus Lie­be zu mir ein üb­ri­ges, und die Tau­be zu­samt den Blu­men ge­lang­te am Frie­dens­fes­te wirk­lich in die Hän­de mei­ner Mut­ter.

Man­chen ähn­li­chen Auf­trag er­hielt ich denn auch, um bei den Ma­lern be­stell­te Bil­der zu be­trei­ben. Mein Va­ter hat­te bei sich den Be­griff fest­ge­setzt, und we­nig Men­schen wa­ren da­von frei, dass ein Bild auf Holz ge­malt einen großen Vor­zug vor ei­nem an­de­ren habe, das nur auf Lein­wand auf­ge­tra­gen sei. Gute ei­che­ne Bret­ter von je­der Form zu be­sit­zen, war des­we­gen mei­nes Va­ters große Sorg­falt, in­dem er wohl wuss­te, dass die leicht­sin­ni­gern Künst­ler sich ge­ra­de in die­ser wich­ti­gen Sa­che auf den Ti­scher ver­lie­ßen. Die äl­tes­ten Boh­len wur­den auf­ge­sucht, der Ti­scher muss­te mit Lei­men, Ho­beln und Zu­rich­ten der­sel­ben aufs ge­naus­te zu Wer­ke ge­hen, und dann blie­ben sie jah­re­lang in ei­nem obe­ren Zim­mer ver­wahrt, wo sie ge­nug­sam aus­trock­nen konn­ten. Ein sol­ches köst­li­ches Brett ward dem Ma­ler Jun­cker an­ver­traut, der einen ver­zier­ten Blu­men­topf mit den be­deu­tends­ten Blu­men nach der Na­tur in sei­ner künst­li­chen und zier­li­chen Wei­se dar­auf dar­stel­len soll­te. Es war ge­ra­de im Früh­ling, und ich ver­säum­te nicht, ihm wö­chent­lich ei­ni­ge Mal die schöns­ten Blu­men zu brin­gen, die mir un­ter die Hand ka­men; wel­che er denn auch so­gleich ein­schal­te­te und das Gan­ze nach und nach aus die­sen Ele­men­ten auf das treu­lichs­te und flei­ßigs­te zu­sam­men­bil­de­te. Ge­le­gent­lich hat­te ich auch wohl ein­mal eine Maus ge­fan­gen, die ich ihm brach­te und die er als ein gar so zier­li­ches Tier nach­zu­bil­den Lust hat­te, auch sie wirk­lich aufs ge­naues­te vor­stell­te, wie sie am Fuße des Blu­men­top­fes eine Kornäh­re be­n­ascht. Mehr der­glei­chen un­schul­di­ge Na­tur­ge­gen­stän­de, als Schmet­ter­lin­ge und Kä­fer, wur­den her­bei­ge­schafft und dar­ge­stellt, so­dass zu­letzt, was Nach­ah­mung und Aus­füh­rung be­traf, ein höchst schätz­ba­res Bild bei­sam­men war.

Ich wun­der­te mich da­her nicht we­nig, als der gute Mann mir ei­nes Ta­ges, da die Ar­beit bald ab­ge­lie­fert wer­den soll­te, um­ständ­lich er­öff­ne­te, wie ihm das Bild nicht mehr ge­fal­le, in­dem es wohl im ein­zel­nen ganz gut ge­ra­ten, im gan­zen aber nicht gut kom­po­niert sei, weil es so nach und nach ent­stan­den und er im An­fan­ge das Ver­se­hen be­gan­gen, sich nicht we­nigs­tens einen all­ge­mei­nen Plan für Licht und Schat­ten so wie für Far­ben zu ent­wer­fen, nach wel­chem man die ein­zel­nen Blu­men hät­te ein­ord­nen kön­nen. Er ging mit mir das wäh­rend ei­nes hal­b­en Jahrs vor mei­nen Au­gen ent­stan­de­ne und mir teil­wei­se ge­fäl­li­ge Bild um­ständ­lich durch und wuss­te mich zu mei­ner Be­trüb­nis voll­kom­men zu über­zeu­gen. Auch hielt er die nach­ge­bil­de­te Maus für einen Miss­griff: »denn«, sag­te er, »sol­che Tie­re ha­ben für vie­le Men­schen et­was Schau­der­haf­tes, und man soll­te sie da nicht an­brin­gen, wo man Ge­fal­len er­re­gen will«. Ich hat­te nun, wie es demje­ni­gen zu ge­hen pflegt, der sich von ei­nem Vor­ur­tei­le ge­heilt sieht und sich viel klü­ger dünkt, als er vor­her ge­we­sen, eine wah­re Ver­ach­tung ge­gen dies Kunst­werk und stimm­te dem Künst­ler völ­lig bei, als er eine an­de­re Ta­fel von glei­cher Grö­ße ver­fer­ti­gen ließ, wor­auf er, nach dem Ge­schmack, den er be­saß, ein bes­ser ge­form­tes Ge­fäß und einen kunst­rei­cher ge­ord­ne­ten Blu­men­strauß an­brach­te, auch die le­ben­di­gen klei­nen Bei­we­sen zier­lich und er­freu­lich so­wohl zu wäh­len als zu ver­tei­len wuss­te. Auch die­se Ta­fel mal­te er mit der größ­ten Sorg­falt, doch frei­lich nur nach je­ner schon ab­ge­bil­de­ten, oder aus dem Ge­dächt­nis, das ihm aber bei ei­ner sehr lan­gen und em­si­gen Pra­xis gar wohl zu Hil­fe kam. Bei­de Ge­mäl­de wa­ren nun fer­tig, und wir hat­ten eine ent­schie­de­ne Freu­de an dem letz­ten, das wirk­lich kunst­rei­cher, und mehr in die Au­gen fiel. Der Va­ter ward an­statt mit ei­nem mit zwei Stücken über­rascht und ihm die Wahl ge­las­sen. Er bil­lig­te un­se­re Mei­nung und die Grün­de der­sel­ben, be­son­ders auch den gu­ten Wil­len und die Tä­tig­keit, ent­schied sich aber, nach­dem er bei­de Bil­der ei­ni­ge Tage be­trach­tet, für das ers­te, ohne über die­se Wahl wei­ter vie­le Wor­te zu ma­chen. Der Künst­ler, är­ger­lich, nahm sein zwei­tes, wohl­ge­mein­tes Bild zu­rück und konn­te sich ge­gen mich der Be­mer­kung nicht ent­hal­ten, dass die gute eich­ne Ta­fel, wor­auf das ers­te ge­malt ste­he, zum Ent­schluss des Va­ters ge­wiss das ih­ri­ge bei­ge­tra­gen habe.

 

Da ich hier wie­der der Ma­le­rei ge­den­ke, so tritt in mei­ner Erin­ne­rung eine große An­stalt her­vor, in der ich vie­le Zeit zu­brach­te, weil sie und de­ren Vor­ste­her mich be­son­ders an sich zog. Es war die große Wachs­tuch­fa­brik, wel­che der Ma­ler No­th­na­gel er­rich­tet hat­te: ein ge­schick­ter Künst­ler, der aber so­wohl durch sein Ta­lent als durch sei­ne Denk­wei­se mehr zum Fa­brik­we­sen als zur Kunst hin­neig­te. In ei­nem sehr großen Rau­me von Hö­fen und Gär­ten wur­den alle Ar­ten von Wachs­tuch ge­fer­tigt, von dem rohs­ten an, das mit der Spa­tel auf­ge­tra­gen wird und das man zu Rüst­wa­gen und ähn­li­chem Ge­brauch be­nutz­te, durch die Ta­pe­ten hin­durch, wel­che mit For­men ab­ge­druckt wur­den, bis zu den fei­ne­ren und feins­ten, auf wel­chen bald chi­ne­si­sche und fan­tas­ti­sche, bald na­tür­li­che Blu­men ab­ge­bil­det, bald Fi­gu­ren, bald Land­schaf­ten durch den Pin­sel ge­schick­ter Ar­bei­ter dar­ge­stellt wur­den. Die­se Man­nig­fal­tig­keit, die ins Unend­li­che ging, er­getz­te mich sehr. Die Be­schäf­ti­gung so vie­ler Men­schen von der ge­meins­ten Ar­beit bis zu sol­chen, de­nen man einen ge­wis­sen Kunst­wert kaum ver­sa­gen konn­te, war für mich höchst an­zie­hend. Ich mach­te Be­kannt­schaft mit die­ser Men­ge in vie­len Zim­mern hin­ter ein­an­der ar­bei­ten­den jün­gern und äl­te­ren Män­nern und leg­te auch wohl selbst mit­un­ter Hand an. Der Ver­trieb die­ser Ware ging au­ßer­or­dent­lich stark. Wer da­mals bau­te oder ein Ge­bäu­de mö­blier­te, woll­te für sei­ne Le­bens­zeit ver­sorgt sein, und die­se Wachs­tuchta­pe­ten wa­ren al­ler­dings un­ver­wüst­lich. No­th­na­gel selbst hat­te ge­nug mit Lei­tung des Gan­zen zu tun und saß in sei­nem Comp­toir,4 um­ge­ben von Fak­to­ren und Hand­lungs­die­nern. Die Zeit, die ihm üb­rig blieb, be­schäf­tig­te er sich mit sei­ner Kunst­samm­lung, die vor­züg­lich aus Kup­fer­sti­chen be­stand, mit de­nen er, so wie mit Ge­mäl­den, die er be­saß, auch wohl ge­le­gent­lich Han­del trieb. Zu­gleich hat­te er das Ra­die­ren lieb ge­won­nen; er ätz­te ver­schie­de­ne Blät­ter und setz­te die­sen Kunstzweig bis in sei­ne spä­tes­ten Jah­re fort.

Da sei­ne Woh­nung nahe am Eschen­hei­mer Tore lag, so führ­te mich, wenn ich ihn be­sucht hat­te, mein Weg ge­wöhn­lich zur Stadt hin­aus und zu den Grund­stücken, wel­che mein Va­ter vor den To­ren be­saß. Das eine war ein großer Baum­gar­ten, des­sen Bo­den als Wie­se be­nutzt wur­de und worin mein Va­ter das Nach­pflan­zen der Bäu­me, und was sonst zur Er­hal­tung diente, sorg­fäl­tig be­ob­ach­te­te, ob­gleich das Grund­stück ver­pach­tet war. Noch mehr Be­schäf­ti­gung gab ihm ein sehr gut un­ter­hal­te­ner Wein­berg vor dem Fried­ber­ger Tore, wo­selbst zwi­schen den Rei­hen der Wein­stö­cke Spar­gel­rei­hen mit großer Sorg­falt ge­pflanzt und ge­war­tet wur­den. Es ver­ging in der gu­ten Jahrs­zeit fast kein Tag, dass nicht mein Va­ter sich hin­aus be­gab, da wir ihn denn meist be­glei­ten durf­ten und so von den ers­ten Er­zeug­nis­sen des Früh­lings bis zu den letz­ten des Herbs­tes Ge­nuss und Freu­de hat­ten. Wir lern­ten nun auch mit den Gar­ten­ge­schäf­ten um­ge­hen, die, weil sie sich jähr­lich wie­der­hol­ten, uns end­lich ganz be­kannt und ge­läu­fig wur­den. Nach man­cher­lei Früch­ten des Som­mers und Herbs­tes war aber doch zu­letzt die Wein­le­se das Lus­tigs­te und am meis­ten Er­wünsch­te: ja es ist kei­ne Fra­ge, dass, wie der Wein selbst den Or­ten und Ge­gen­den, wo er wächst und ge­trun­ken wird, einen freie­ren Cha­rak­ter gibt, so auch die­se Tage der Wein­le­se, in­dem sie den Som­mer schlie­ßen und zu­gleich den Win­ter er­öff­nen, eine un­glaub­li­che Hei­ter­keit ver­brei­ten. Lust und Ju­bel er­streckt sich über eine gan­ze Ge­gend. Des Ta­ges hört man von al­len Ecken und En­den Jauch­zen und Schie­ßen, und des Nachts ver­kün­den bald da bald dort Ra­ke­ten und Leucht­ku­geln, dass man noch über­all wach und mun­ter die­se Fei­er gern so lan­ge als mög­lich aus­deh­nen möch­te. Die nach­he­ri­gen Be­mü­hun­gen beim Kel­tern und wäh­rend der Gä­rung im Kel­ler ga­ben uns auch zu Hau­se eine hei­te­re Be­schäf­ti­gung, und so ka­men wir ge­wöhn­lich in den Win­ter hin­ein, ohne es recht ge­wahr zu wer­den.

Die­ser länd­li­chen Be­sit­zun­gen er­freu­ten wir uns im Früh­ling 1763 umso mehr, als uns der 15te Fe­bru­ar die­ses Jahrs durch den Ab­schluss des Hu­berts­bur­ger Frie­dens zum fest­li­chen Tage ge­wor­den, un­ter des­sen glück­li­chen Fol­gen der größ­te Teil mei­nes Le­bens ver­flie­ßen soll­te. Ehe ich je­doch wei­ter schrei­te, hal­te ich es für mei­ne Schul­dig­keit, ei­ni­ger Män­ner zu ge­den­ken, wel­che einen be­deu­ten­den Ein­fluss auf mei­ne Ju­gend aus­ge­übt.

Von Olen­schla­ger, Mit­glied des Hau­ses Frau­en­stein, Schöff und Schwie­ger­sohn des oben er­wähn­ten Dok­tor Orth, ein schö­ner, be­hag­li­cher, san­gui­ni­scher Mann. Er hät­te in sei­ner bur­ge­meis­ter­li­chen Fest­tracht gar wohl den an­ge­se­hens­ten fran­zö­si­schen Präla­ten vor­stel­len kön­nen. Nach sei­nen aka­de­mi­schen Stu­di­en hat­te er sich in Hof- und Staats­ge­schäf­ten um­ge­tan und sei­ne Rei­sen auch zu die­sen Zwe­cken ein­ge­lei­tet. Er hielt mich be­son­ders wert und sprach oft mit mir von den Din­gen, die ihn vor­züg­lich in­ter­es­sier­ten. Ich war um ihn, als er eben sei­ne »Er­läu­te­rung der Güld­nen Bul­le« schrieb; da er mir denn den Wert und die Wür­de die­ses Do­ku­ments sehr deut­lich her­aus­zu­set­zen wuss­te. Auch da­durch wur­de mei­ne Ein­bil­dungs­kraft in jene wil­den und un­ru­hi­gen Zei­ten zu­rück­ge­führt, dass ich nicht un­ter­las­sen konn­te, das­je­ni­ge, was er mir ge­schicht­lich er­zähl­te, gleich­sam als ge­gen­wär­tig, mit Aus­ma­lung der Cha­rak­tere und Um­stän­de und manch­mal so­gar mi­misch dar­zu­stel­len; wor­an er denn große Freu­de hat­te und durch sei­nen Bei­fall mich zur Wie­der­ho­lung auf­reg­te.

Ich hat­te von Kind­heit auf die wun­der­li­che Ge­wohn­heit, im­mer die An­fän­ge der Bü­cher und Ab­tei­lun­gen ei­nes Werks aus­wen­dig zu ler­nen, zu­erst der fünf Bü­cher Mo­sis, so­dann der »Ae­nei­de« und der »Me­ta­mor­pho­sen«. So mach­te ich es nun auch mit der gol­de­nen Bul­le und reiz­te mei­nen Gön­ner oft zum Lä­cheln, wenn ich ganz ernst­haft un­ver­se­hens aus­rief: Om­ne reg­num in se di­vi­sum de­so­la­bi­tur: nam prin­ci­pes ejus fac­ti sunt so­cii fu­rum. Der klu­ge Mann schüt­tel­te lä­chelnd den Kopf und sag­te be­denk­lich: »Was müs­sen das für Zei­ten ge­we­sen sein, in wel­chen der Kai­ser auf ei­ner großen Reichs­ver­samm­lung sei­nen Fürs­ten der­glei­chen Wor­te ins Ge­sicht pu­bli­zie­ren ließ.«

Von Olen­schla­ger hat­te viel An­mut im Um­gang. Man sah we­nig Ge­sell­schaft bei ihm, aber zu ei­ner geist­rei­chen Un­ter­hal­tung war er sehr ge­neigt, und er ver­an­lass­te uns jun­ge Leu­te, von Zeit zu Zeit ein Schau­spiel auf­zu­füh­ren: denn man hielt da­für, dass eine sol­che Übung der Ju­gend be­son­ders nütz­lich sei. Wir ga­ben den »Ka­nut« von Schle­gel, worin mir die Rol­le des Kö­nigs, mei­ner Schwes­ter die Estri­the, und Alfo dem jün­gern Sohn des Hau­ses zu­ge­teilt wur­de. So­dann wag­ten wir uns an den »Bri­tan­ni­cus«, denn wir soll­ten nebst dem Schau­spie­ler­ta­lent auch die Spra­che zur Übung brin­gen. Ich er­hielt den Nero, mei­ne Schwes­ter die Agrip­pi­ne und der jün­ge­re Sohn den Bri­tan­ni­cus. Wir wur­den mehr ge­lobt, als wir ver­dien­ten, und glaub­ten es noch bes­ser ge­macht zu ha­ben, als wie wir ge­lobt wur­den. So stand ich mit die­ser Fa­mi­lie in dem bes­ten Ver­hält­nis und bin ihr man­ches Ver­gnü­gen und eine schnel­le­re Ent­wick­lung schul­dig ge­wor­den.

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