Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein

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»Und? Komm zur Sache, mein Liebes.« Chaim verdrehte die Augen und zählte die Balken an der Decke.

Das Grinsen seiner Frau ging von einem Ohr zum anderen. »Salomo hat gesagt, dass genau fünfzehn Tage vor der nächsten Blutung die beste Zeit sei.«

Chaim wurde es zu bunt, er zeigte mit der Hand nach oben und platzte heraus: »Schatz. Die beste Zeit wofür? Deine Sprache ist so dunkel wie die Balken an unserer Decke.«

Zärtlich nahm Jehudith den Kopf ihres Mannes in ihre warmen Hände und zog ihn zu sich hinunter. Er spürte ihre weichen Lippen auf seinem Mund. Ihre Zunge berührte seine Lippen, und bereitwillig öffnete er sie. Langsam dämmerte es ihm, worauf seine Frau hinauswollte, und seine Anspannung löste sich. Frei und sorglos gab er sich Jehudith hin.

So fühlten die beiden sich als Teil von Gottes großem Plan. Sie würden sich nun verewigen in dem großen Geschichtswerk, das Generation für Generation, Geschlecht für Geschlecht der Welt Seinen herrschaftlichen Willen einprägte und Seine Größe und Schönheit abbildete in all der Fülle des Lebens.

Samstag, der 24. Mai Anno Domini 1096 / 29. Ijjar 4856

Peters Heim nahe Gerstendorf

Kein Wort sprach Peter bei der morgendlichen Mahlzeit in der Stube. Die getrockneten Pflaumen, die seine Mutter für ihn auf den Tisch gelegt hatte, ließ er achtlos liegen. Und auch Lene würdigte er keines Blickes. Er zog das Kumt fest um den Hals eines Ochsen, nahm die Peitsche von der Wand, zerrte das Tier aus dem Stall, spannte das kleine Wägelchen an und wuchtete den Pflug, der über Nacht draußen vor der Tür gestanden hatte, auf das Gefährt. Nach einem Schlag mit der Gerte auf den breiten Rücken des Zugtieres setzte sich der Karren in Bewegung und Peter stapfte hinterher.

Auf dem Acker machte er dort weiter, wo er gestern aufgehört hatte. Alles in ihm war taub. Weder bemerkte er den Schmerz in seinem Rücken noch die Sonne, die ihm ins Gesicht brannte. Dem leisen Rauschen des Windes schenkte er so wenig Beachtung wie dem fröhlichen Zwitschern der Vögel, die laut und energisch ihr Revier verteidigten. Den großen Fluss, der sich unten im Tal kraftvoll um die Hügel wand, sah er nicht an. Stumpf richtete er die Augen zu Boden. Wie die Zahnräder einer Mühle arbeitete er, und auf den Ochsen sah er nur, wenn der zu langsam wurde oder nach links oder rechts abdriftete. Dann gab er mit dem Seil, das an dem Kumt des massigen Tieres angebracht war, ein Kommando, setzte einen kurzen festen Schlag mit der Peitsche und es ging weiter.

In all dieser Dumpfheit spürte er auf einmal einen sanften Druck auf seiner Schulter. Die Anspannung in seinem Körper löste sich ein wenig, während eine freundliche Stimme zu ihm sprach: »Komm mit, Peter, Gott ruft dich.«

Er hatte den Priester mit der roten Kutte gar nicht bemerkt. Peter blickte auf zu dem großen Mann, dem das Mitgefühl im Gesicht stand. Der Mann beugte sich ein wenig zu ihm hinunter und wies mit der Hand in Richtung Tal. Peter schaute auf die gepflegten Hände und dann auf den mächtigen Strom. Langsam, sodass Peters Blicke folgen konnten, zog der Priester die weiten Bögen des Flusses zwischen den Hügeln mit seinem Finger nach. Mainz mit seinem großen Bischofsdom und den hohen Stadtmauern musste hinter diesen Kuppen liegen. Der Mann zeigte hinauf auf den Kamm des Hügels. Dort stand bereits ein Junge aus dem Dorf und winkte ihm zu. Peter lächelte verlegen.

Er blickte auf den halb gepflügten Acker, sah auf den Ochsen, der vor ihm stand, dumm und stumm, als sei er ein Stein und nicht ein Wesen aus Fleisch und Blut. Er hörte den Priester freundlich sagen: »Christus spricht: Wer seine Hand an den Pflug legt, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes.«

Peter ließ vom Pflug ab. Wortlos folgte er dem Mann in der roten Kutte.

Der Junge gesellte sich zu ihnen, und zu dritt schritten sie den Berg hinunter. Peter konnte vor Aufregung nicht sprechen und hielt Abstand zu dem anderen Buben.

Die Fähre wartete am Ufer. Ein anderes Boot mit einem Ochsenkarren und Soldaten war schon bis zur Mitte des Flusses vorgefahren. Der gestern noch leere Wagen war nun voller Brotlaibe und Getreidesäcke. Vier Schweine standen auf wackeligen Beinen auf dem Boot und quiekten vor Angst. Der Ritter und der Knappe schienen zufrieden.

Eine Bauernfamilie mit vier Kindern, die Mönche von gestern und sechs Jungen in seinem Alter stiegen mit Peter auf die Fähre. Zuletzt trat der Priester, der ihn von dem Acker abgeholt hatte, in das Boot und der Ferge gab das Kommando zum Ablegen.

Bald schritten sie auf dem Treidelweg voran, der ganz bedeckt war mit den Ausscheidungen der Pferde, Ochsen und Menschen, die gestern hier entlanggeströmt waren. Hinter der Biegung des Flusses erkannten sie bereits die Zelte der Pilger.

Das Lager war in Auflösung begriffen. Wie sich am Ufer eines Flusses Erde löste, die durch die Strömung fortgerissen wird, so reihten sich die Rastenden in den Menschenstrom flussabwärts ein.

Peters Taubheit war verflogen. Mainz, endlich würde er sie sehen, die große Stadt. Und von dort ging es weiter nach Jerusalem. Er richtete sich auf und mit festen Schritten stapfte er durch den von den vielen Tritten aufgeweichten Unrat, der den Treidelpfad bedeckte.

Bald fanden sie Anschluss an die Menschenmenge. Nach einiger Zeit verschwand der Priester in der roten Kutte in dem Menschengewusel. Aber das machte nichts, denn nun war Peter Teil der großen Prozession zur Huldigung des Herrn im Himmel und zur Befreiung der Heiligen Stadt.

Zitat

Die Stimme, die so wimmert,

ist die Stimme von Jakobs Kindern,

die von Frevlerhänden geschlagen werden.

Selichah – Kalonymos ben Jehuda

Teil II: Schlimme Botschaften

Mainz – in Rachels Haus

Orli nuckelte an Rachels linker Brust. Tief hatte sie die rötlich braune Warze in ihr kleines Mündchen genommen. Wie meist, wenn sie ihren zwei Kleinsten die Milch in ihrem Haus mit der Stube, dem Stall und dem Lager für Zacharias’ Laden gab, hatte Rachel sich bei den Tieren einen bequemen Platz geschaffen. Die dicke Wolldecke auf dem frischen Stroh bot einen weichen und für das Stillen wohlgeformten Ruheplatz, in den sie sich halb liegend hineinschmiegen konnte, während Bela und Orli die Milch strömen ließen.

Der Wind strich durch die Ritzen der Bretter, die leise klapperten und ab und an ein Knarzen von sich gaben. Mit dem Geld von Schuster Wendel wollten sie den Stall ausbessern, das hatte Zachi ihr versprochen. Bela lag zwischen Rachels Beinen auf dem dünnen Leinenuntergewand wie in einem Nest und schaute sie mit halbgeschlossenen Augen an. Ihre Jüngste streckte bereits die Ärmchen und rieb sich im Gesicht, ein untrügliches Zeichen, dass auch sie bald Hunger haben würde.

Ihre zwei Kühe standen ruhig da, Rachel hatte sie direkt nach dem Aufstehen gemolken. Jetzt kauten sie das duftende Wiesenheu und glotzten dabei gutmütig umher. Noch war es kühl, die Morgenfeuchte hing klamm in Rachels Kleidern. Durch die Tür sah sie den Nebel über dem Feld liegen wie ein Tuch. Ein Leichentuch, ging es ihr durch den Kopf, und sofort schämte sie sich für diesen Gedanken.

Mit rhythmischen Mundbewegungen saugte ihre Tochter an ihren üppigen Knospen. Die linke Brust war bereits halb leer. Orli musste nun kräftiger arbeiten, um an die ersehnte Köstlichkeit zu kommen. Bald würde sie müde werden.

Die drei Hennen hatten in der Nacht jede ein Ei gelegt. Rachel betrachtete die Hühner keine fünf Ellen neben ihr auf dem Stroh. Stolz saßen sie da, als wären sie Schwäne. Abends nach Sonnenuntergang, wenn der Sabbat vorbei war, würde Rachel aus den Eiern und den reifen Möhren ihres Gartens noch einen warmen Happen für Isaak und Aaron bereiten. Ihr Vater saß auf der Bank vor der Tür und betete die Amidah. Rachel summte den hebräischen Gesang mit, von dem sie kein Wort verstand.

Gestern Nachmittag hatte ihr Vater den beschwerlichen Weg von seiner kleinen Hütte über dem Dietmarkt auf sich genommen, um ihr Trost zu spenden. Ernst hatten sie miteinander gesprochen und so war es spät geworden. Und da die Sonne bereits tief am Horizont gestanden hatte, war es ihr nicht mehr möglich gewesen, die zwei Sabbatbrote selbst zu backen. Stattdessen hatte sie mit dem Geld, das Rabbi Chaim ihr geborgt hatte, zwei Laibe von dem jüdischen Bäcker in der Lorscher Gasse gekauft und war dann noch schnell hinunter zum Flachsmarkt gegangen, um Birnenmus zu kaufen. Auf Wurst und Käse hatte sie verzichtet, aber einen Krug koscheren Wein wollte sie auf jeden Fall füllen lassen. So hatte ihr Vater gestern Abend noch den Segen über den Kiddusch­becher sprechen können.

Und mit demselben Wein würde er heute Abend die Hawdala­kerze löschen. Zuvor würden sie die Besamimbüchse umhergehen lassen und den würzig herben Duft der Myrte und der Tannennadeln einatmen. Die Myrte wuchs in ihrem Garten. Statt der Dornsträucher werden Zypressen aufschießen, und statt der Brennnesseln Myrten, hatte der Prophet Jesaja gesagt. Nach dem Lichtsegen würde ihr Vater die Flamme der Kerze in den Wein tauchen, zum Zeichen, dass der Sabbat vorbei war.

Ach, der Segen war eigentlich Zachis Aufgabe, er war doch der Hausherr. Rachel fühlte einen Stich im Herzen.

Sie streifte den anderen Träger ihres Unterhemdes ab und betrachtete ihre rechte Brust, die noch ganz gespannt war. Sie hob Bela, ihre Jüngste, etwas an, sodass ihr Näschen ihre noch freie Brustwarze berührte. Die Aussicht auf die warme Wonne ließ Bela ihr Mündchen weit öffnen. Sofort führte Rachel den Kopf ihrer erst vor drei Wochen Geborenen an ihren Busen und schon saugte die Kleine genüsslich neben Orli. Rachel atmete tief ein und aus. Nun war ihr eine kurze Zeit der Muße geschenkt.

 

Jedoch hörte sie bald Isaak und Aaron streiten. Vermutlich liefen sie vor dem Haus umher und störten den Vater beim Gebet. Aber war es nicht gut, dass sie miteinander rauften? Jungen brauchten das, um stark zu werden.

Die beiden halfen ihr bereits im Garten. Isaak bestellte die Beete für die Zwiebeln und die Möhren ganz allein und ließ Aaron nicht daran. Rachel hatte ihrem jüngsten Sohn versprochen, dass auch er bald sein eigenes Beet bestellen dürfe. Vor ein paar Tagen hatte sie sich entschieden, Aaron die Erbsen zu überlassen. Gestern Morgen hatte sie ihm zeigen wollen, wie er die Samenkörner in den Boden drücken sollte, der von der Nacht noch feucht war. Weil Zachi nicht nach Hause gekommen war, hatte sie es in all der Aufregung jedoch vergessen.

Orlis Zähnchen verursachten ihr Schmerzen, doch Rachel ließ sie gewähren. Bald würde ihre älteste Tochter selig schlafen, ihr Saugen wurde schon schwächer. Dafür war Bela nun ganz bei der Sache. Rachel döste ein wenig.

Im Tagtraum sah sie Zacharias den Weg zu ihrem Haus hinuntergehen. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihm zur Begrüßung einen Kuss zu geben.

Sicher, sie war eine kleine Frau, aber dafür hatte sie Milch für zwei. Und von den fünf Kindern, die sie gezeugt hatten, war ihr nur eins gestorben.

»Du hast ein weites Becken und zwei gesegnete Brüste«, hatte die Hebamme zu ihr gesagt.

»Der Herr im Himmel hat Zachi und mich lieb«, hatte sie darauf mit einem Lächeln geantwortet.

Sie schlug die Augen auf. Kein Zachi war da.

Das Böse nicht an die Wand malen, sonst käme es von selbst. Rabbi Chaim hatte gut reden. Er musste gestern den Parnas getroffen haben, der Rat hatte sich versammelt. Das hatte ihr die Bäckersfrau erzählt.

Orlis Köpfchen neigte sich zur Seite, Rachel hielt es fest, sodass sich Orlis zarte Wange an ihre weiche Haut schmiegte. Rachel lächelte, aber schon im nächsten Moment krochen die Sorgen um ihren Mann wieder in ihr hoch. Hoffentlich hatte Rabbi Chaim dem Parnas Bescheid gegeben. Rabbi Chaim war immer so vergesslich. Rabbi Mosche, auf sein Wort konnte man sich verlassen. Rabbi Mosche nahm sich immer die Zeit, ihr zuzuhören. Rabbi Chaim wirkte dagegen oft fahrig. Dabei wäre es gar keine Mühe für Rabbi Chaim gewesen, dem Parnas von Zachis Ausbleiben zu berichten.

Aber bisher war niemand zu ihr gekommen.

Orli war inzwischen eingeschlafen und schnarchte leise vor sich hin.

In der Nacht hatte Rachel alle Kinder bei sich im Bett gehabt. Wahrscheinlich waren die vier sogar froh gewesen, dass sie ihre Mutter für sich alleine auf der Strohmatratze hatten. Rachel musste schmunzeln, während sie Bela zärtlich über ihr rosiges Gesichtchen streichelte.

Die Kinder hatten Rachel Trost gespendet, und trotzdem war sie nur in einen dämmrigen, unruhigen Schlaf gefallen. Unzählige Male hatte sie nach dem drahtigen Körper ihres Mannes getastet, an dem man jede Sehne erfühlen konnte. In jeder Nacht seit ihrer Hochzeit hatte er neben ihr gelegen, sie vermisste seine große warme Hand auf ihrem Bauch.

Noch immer sang ihr Vater vor der Tür mit seiner tiefen Stimme. Nicht so voll und schön wie Rabbi Mosche sang er, aber doch genauso zärtlich und klar wie damals, als sie noch ein Kind gewesen war und er sie durch seinen Gesang hatte trösten können.

Der arme Zachi irrte in diesem Moment sicher ganz allein da draußen herum. Dummer Zachi. Bist hoffentlich nicht vom Weg ab in den Wald gegangen, um Pilze oder Beeren zu suchen. Bist doch immer so neugierig, und dann machst du törichte Sachen. Aaron und Isaak, die haben das von dir. Wölfe gibt es im Wald und sogar ein Bär wurde letzte Woche gesichtet. Oder bist du gar auf einen Baum geklettert, um einen besonders großen Tannenzapfen zu pflücken oder frische Äste mit Nadeln für die Besamimbüchse? Bist du gestürzt und hast dir womöglich was gebrochen? Liegst du hilflos da und keiner hört dich rufen?

Rachels Herz schlug kräftig. Man musste etwas unternehmen, man konnte ihn doch nicht einfach da draußen im Ungewissen lassen.

Belas Saugen wurde schwächer. Bald würde sie ihre zwei Kleinsten zum Schlafen in den großen Bastkorb mit dem runden Henkel zurücklegen, in dem Orli und Bela zusammen schliefen. Darin würde sie die beiden in die Stube tragen und anfangen, den Frühstückstisch zu richten, sodass sie nach der Rückkehr ihres Vaters aus der Synagoge zusammen speisen konnten. Gestern Nachmittag hatte sie in aller Eile vor Sabbatbeginn noch einen Brei mit dem Birnenmus zubereitet, das Isaak und Aaron so gerne mochten und auch ihr Vater mit seinen wenigen Zähnen gut essen konnte.

Gern hätte sie Walnüsse gekauft, um den Brei noch schmackhafter zu machen. Aber Rachel hatte sich letztendlich dagegen entschieden. Wenn Zachi heute nicht zurückkommen sollte, wollte sie morgen noch etwas Geld zur Verfügung haben.

Man muss etwas machen, nagte es in ihr. Doch heute ist ja Sabbat. Da darf man gar nicht nach Zachi suchen.

Vater würde für Zachi beten, das hatte er ihr versprochen. Aber nur beten, das reichte nicht, wenn er wirklich irgendwo lag und sich nicht rühren konnte. Wo könnte er nur sein?

Der Gesang endete, und sie hörte ihren Vater von der Bank aufstehen und in die Stube auf der anderen Seite der Stallwand gehen. Sicher wollte er vor dem Gottesdienst eine Kleinigkeit essen.

Hin und her wälzte Rachel die Steine in ihrem Kopf. Schuster Wendel hatte gestern so gemein gelacht, als sie an seinem Laden vorbeigegangen war, um nach Zachi zu fragen.

Dass Zachi nicht zu Hause war, das war nicht richtig. Gar nicht richtig. Rachel verspürte den Drang aufzustehen, doch zwang sie sich, ruhig liegen zu bleiben. Bela musste erst einschlafen. Um sich zu beruhigen, führte Rachel ihre linke Hand zum Mund und nagte an der weichen Haut ihres Handballens, der nach dem Stroh schmeckte, auf dem sie saß.

»Ich muss selbst mit dem Parnas sprechen, falls Rabbi Chaim das vergessen hat«, sagte sie zu sich selbst. »Auch wenn Sabbat ist.«

Bela löste sich von ihrer Brust und steckte den Daumen in den Mund. Rachel blickte durch die Tür. Draußen war es heller geworden, der Nebel hatte sich aufgelöst und sie konnte sogar die hohe Stadtmauer am Ende ihres schmalen Feldes sehen.

Sie vernahm die Schritte ihres Vaters vor der Tür, ihre zwei Töchter schliefen. Behutsam richtete sie sich auf und ließ die zwei Kleinen langsam auf die Wolldecke gleiten. Sie griff nach dem großen Bastkorb, der neben dem Heuhaufen stand, legte Bela und Orli hinein und deckte sie mit dem weißen Leinenlaken zu. Dann zog sie die Träger ihres Unterhemdes wieder über die Schultern, stand auf, raffte ihr braunes Überkleid über die Brüste und zog es an den Schnüren unter ihrem Hals fest.

Die beiden würden sicher schlafen, bis die Domglocken zur Terz schlügen. Und zur Synagoge waren es nur ein paar Schritte. Rachel ging mit dem Korb hinaus und ließ ihren Blick über das große Stück Land schweifen, das bis zur Stadtmauer reichte. Sie hatten es zusammen mit dem Haus gepachtet. Wenn Zachis Krämerladen nicht genug abwarf, war dies ihre letzte Sicherheit. Die Erde war fruchtbar, und die Sonne goss ihr Licht viele Stunden am Tag über die Pflanzen in ihrem Garten. Die Wurzbeete vor dem Haus waren ihr ganz besonderer Stolz. Petersilie, Beifuß, Koriander, Kresse, Lorbeer, Dill, Kümmel und Salbei gediehen hier. Brunnenkresse, Myrte, Bärlauch und Pfefferminze hatte sie weiter oben im Schatten nahe der Stadtmauer gepflanzt. Der Eine musste sie lieb haben, sonst wüchsen ihre Pflanzen nicht so üppig.

Jetzt jagte Isaak seinen jüngeren Bruder über die Beete.

»Schon wieder trampelt ihr auf meinem Kohl herum!«, rief sie verärgert. »Isaak! Aaron! Ihr dürft nur auf den Wegen laufen. Wie oft habe ich das euch gesagt! Wollt ihr im Winter etwa hungern? Kommt her, sofort!«

Die beiden unterbrachen ihr Spiel. Langsam näherten sie sich ihrer Mutter, wohl weil sie ein schlechtes Gewissen und Angst vor Schelte hatten. Auf dem Weg knuffte Isaak seinen Bruder. Der ließ sich dies jedoch nicht gefallen und stellte dem größeren Jungen ein Bein. Rachel musste ein Schmunzeln unterdrücken, als Isaak tatsächlich auf den Boden plumpste. Wie von Sinnen rannte Aaron auf sie zu und versteckte sich hinter ihrem Rücken, während sich der Ältere verdutzt aufrappelte.

»Schluss jetzt mit dem Streit!«, herrschte Rachel laut. »Isaak, du gibst auf Bela und Orli acht. Ich bin gleich wieder zurück.«

Isaak maulte, aber Rachel ließ sich nicht erweichen. Sie stellte den Korb auf den Tisch vor der Tür und verriegelte den Raum mit dem Warenlager. Das Schloss krächzte, während sie den großen Schlüssel umdrehte. Schließlich hängte sie sich das schwere Eisen um den Hals, versteckte es unter ihrem Kleid und rannte ihrem Vater hinterher.

Mainz – in Jehudiths und Chaims Haus

Wie gewöhnlich wollte Chaim an diesem Sabbatmorgen noch weiterschlafen. Jehudith hatte jedoch den Vorhang vor dem Fenster zurückgezogen und frische Luft strömte in den Raum. Es war behaglich kühl, noch hatte die Sonne ihre Dachkammer nicht zu einem Glutofen gemacht. Mit geschlossenen Augen versuchte Chaim, einen Zipfel der Sinnlichkeit festzuhalten, die er am Abend mit seiner Frau erlebt hatte. Wie ein Säugling hatte er sich in der Nacht an Jehudith geschmiegt, nun sah er einem ausgiebigen Sabbatfrühstück mit der Familie entgegen.

Seine Frau war eine Meisterin darin, eine wohlige Atmosphäre zu schaffen. Am Sabbatmorgen gab es Feigen und Oliven zu dem durchsäuerten und außerdem mit ganz vielen Kümmelkörnern gespickten Brot. Und mindestens zwei Hummussorten pflegte sie am Vortag vorzubereiten. Am liebsten mochte er die Variante mit dem starken Nussöl, das es nur bei Schmuel Hendlein zu kaufen gab.

»Chaim, du Schlafmütze, komm endlich herunter!«, rief Jehudith von unten. »Wir warten schon auf dich.«

Nackt trat er aus dem Bett, wusch sich schnell mit dem Wasser, das Jehudith für ihn bereitgestellt hatte, über das Gesicht, zog sich die Bruoch an und schlüpfte in das bequeme Morgenkleid aus dem federleichten grünen Stoff, das er nur über den Kopf ziehen musste. Er huschte durch das Morgengebet, denn er roch bereits den Duft seines Lieblingskäses mit dem blauen Schimmel, der mehrere Tagesreisen jenseits des Rheins hergestellt wurde. Er war der Einzige in der Familie, der diese Sorte leiden konnte, um seinetwillen ertrugen seine Lieben den strengen Geruch dieser Krönung westfränkischer Essenskunst.

Langsam stieg er die Treppe hinab. Jehudith und die Kinder saßen bereits an dem reich gedeckten Tisch, David und Hannah sahen ihn erwartungsvoll an. Denn erst nachdem Chaim den Segen gesprochen hatte, konnten sie mit dem Essen beginnen.

Chaim lächelte in die Runde. Auch er hatte Hunger, so beeilte er sich mit dem Segensspruch.

Mainz – Bischofspfalz, im Sankt-Viktor-Haus

Das Läuten der Domglocke zur Sext war seit einiger Zeit verstummt, aber Raimund war es gewohnt, dass Bischof Ruthard sich verspätete. Er wartete geduldig im Schreibkontor des verreisten Propstes Manfried, in das er und Hochvogt Hermann von Erkenbald bestellt worden waren.

Raimund hatte sich zunächst gewundert, dass dieses Treffen hier im Viktorhaus stattfinden sollte und nicht im Empfangssaal direkt neben den Privatgemächern Ruthards im Bischofspalast. Dann jedoch hatte er verstanden: Da Ruthard die hundertfünfzig Holzbalken inspizieren wollte, die am Morgen in die Zehntscheune hinter dem Martinshaus gebracht worden waren, und er danach im Dom zu tun hatte, konnte er sich auf diese Weise einen Weg sparen.

Raimund ließ den Blick durch das Zimmer seines gut zwanzig Jahre älteren Stiftskollegen schweifen, der ihm insbesondere zu Beginn seiner Amtszeit mit manch gutem Rat zur Seite gestanden hatte. Der Raum war weitaus geräumiger als seiner. Der Sinn fürs Praktische, der Propst Manfried anhaftete, war ihm anzusehen. Trotz seiner repräsentativen Größe war die Einrichtung schlicht gehalten: Weder schmückten bunte Gobelins die Wände noch befanden sich aufwendig gearbeitete Skulpturen in dem Zimmer. Der Propst empfing hier Juden und selbst muslimische Legaten, und er sah wohl keinen Grund, seine Gäste durch Darstellungen christlicher Heiliger zu verärgern. Nur eine kleine Figur Karls des Großen, des fränkischen Königs und ersten Kaisers des Reiches, stand auf Manfrieds Pult in der Mitte des Raumes. Aufrecht saß Karl auf seinem Pferd, das in ruhigem Schritt über den Tisch zu traben schien.

Raimund ergriff die bronzene Figur. Ihrem Gewicht nach war sie aus einem Guss gefertigt. Er strich über die geriffelte Mähne des Pferdes und die fein gearbeiteten Zügel, die der Kaiser fest in seiner rechten Hand hielt. Der mächtigste Herrscher des Frankenreiches weckte in Raimund gemischte Gefühle. Zwar hatte er das Reich durch viele Kriege geeint und die Segnungen des Christentums auch zu den Völkern jenseits des Rheins gebracht, jedoch nicht durch Überzeugungskunst. Die von Karl dem Großen angeordneten Zwangstaufen der Sachsen waren selbst unter den Gelehrten seiner Zeit umstritten gewesen.

 

Neben dem Pult befand sich eine Sitzgruppe mit einer Holzbank, drei stabilen Stühlen und einem niedrigen Eichentisch. Raimund wusste, dass sich im Inneren der Holzbank Tonkaraffen mit den besten einheimischen Weinen befanden. Propst Manfried pflegte eine ungezwungene Atmosphäre, wenn er hier mit hiesigen Händlern und von weit her gereisten Gesandten verhandelte.

Raimund stellte die Bronzefigur zurück auf den Tisch und überlegte, ob er sich setzen sollte, entschied dann aber, die Gelegenheit zu nutzen, den privaten Teil des Raumes zu inspizieren.

Hinter einer Holzabtrennung stand ein Bett, auf dem der betagte Propst sein nachmittägliches Nickerchen abzuhalten pflegte. Auf einem schmalen Regal an der Wand stand ein Bildnis Sankt Viktors von Xanten. Über der leinenbezogenen Matratze, aus der am unteren Rand etwas von der filzigen Wollfüllung herauslugte, kniete der Heilige mit gebeugtem Kopf. In seiner Rechten hielt er eine Lanze, die mit einem schlichten Holzkreuz geschmückt war. Voller Demut, ohne jede Furcht, aufgehoben in der Geborgenheit seines Glaubens, erwartete Sankt Viktor den Schwertschlag des römischen Zenturios. Eine goldene Botschaft war unter dem Bildnis ins Holz geschnitzt:

Allmächtiger, ewiger Gott,

Du hast dem heiligen Viktor und seinen Gefährten

die Kraft gegeben, ihren Glauben an Christus

durch ihr Sterben zu bekennen.

Komm unserer Schwachheit zu Hilfe,

damit wir Deine Wahrheit

durch unser ganzes Leben ­bezeugen.

Der heilige Viktor entsprach auf vielerlei Art Manfrieds Wesen. Trotz seiner Bescheidenheit, die zuweilen in Selbstgeißelung auszuarten drohte, war der Propst ein Mann der Tat. Der Bischof hatte die Position des Verwalters der Reichtümer der Diözese mit einem Mann besetzt, auf dessen Gründlichkeit und Pflichtbewusstsein er sich verlassen konnte. Und Manfried war der Einzige unter den Geistlichen der Kurie in der Pfalz, dem der Bischof persönlich die Beichte abzunehmen bereit war. So war der schlaue Fuchs jederzeit bestens informiert über die Besitztümer seines Herrschaftsgebietes.

Der Duft von Weihrauch kündigte Bischof Ruthard an. Raimund schaffte es gerade noch rechtzeitig zum Arbeitstisch zurück, bevor der Ministrant, das Rauchfass schwenkend, zur Tür hereinkam. Ohne ihn anzublicken, vollzog der Junge in dem schneeweißen Kleid mit dem purpurnen Untergewand einen Kreis um Raimund, den Schreibtisch und die Sitzgruppe, vernebelte den Raum und verschwand wie ein Traumbild in den harzig riechenden Rauchschwaden, als er das Zimmer wieder verließ.

Raimund unterdrückte ein Husten und wandte seinen Blick zur Tür.

Ruthard ächzte unter seiner Massigkeit, die seinem blauen Rock eine beeindruckende Fülle gab. Der breite Kragenbesatz bot genug Platz für die vierzehn Stationen der Passion des Herrn, die auf handtellergroßen Goldknöpfen abgebildet waren. Aus den wohl der Hitze wegen mit Löchern versehenen Lederschuhen schauten ein Paar fleischige Füße, die aus den Öffnungen im Leder herauszuquellen schienen.

Behäbig steuerte der Bischof auf die Sitzgruppe zu und ließ sich unter lautem Stöhnen auf die Bank plumpsen, die seinem Gewicht überraschend klaglos widerstand. »Welch ein schreckliches Wetter. Ich bete seit Wochen zum heiligen Columban, damit er ein Wunder wirke.«

Raimund verbeugte sich, wie es Sitte war, und wartete. Aus Erfahrung wusste er, dass es angeraten war, die Stimmung des Bischofs zunächst genauer zu studieren.

Ruthard atmete schwer von dem kurzen Gang vom Dom. »Wo ist von Erkenbald?«

»Ich weiß es nicht, mein Bischof.«

»Dieser Ausbund an adliger Arroganz zeigt einmal mehr seinen Mangel an Respekt«, ereiferte sich Ruthard. »Man muss ihm immer wieder klarmachen, dass seine Autorität unter der des Bischofs steht. Er hat zuweilen Mühe, dies einzusehen.«

Raimund senkte seinen Blick, was Ruthard als Bestätigung auffassen sollte. Zwar war von Erkenbald Vogt und gleichzeitig Stadtpräfekt, jedoch waren beide Ämter seit einigen Jahrzehnten dem Bischof unterstellt. Von Erkenbalds pompöse Titel waren zu dessen großem Verdruss mehr Schein als Sein.

»Gerade jetzt ist Dompropst Manfried nicht da«, klagte der Bischof.

Raimund senkte den Kopf erneut, diesmal noch ein wenig tiefer. Was ihn nun erwarten würde, war unbekanntes Territorium, das er zum einen fürchtete und das ihn zum anderen nicht interessierte. Raimund überlegte, wie er Ruthards offensichtlichem Missmut begegnen könnte, da hörte er das Stapfen schwerer Stiefel auf dem Flur.

Der Vogt musste seinen Kopf neigen, um durch die Tür zu kommen. Sein kantiges Gesicht ragte aus einem schwarzen Rock mit hellen Streifen heraus, welcher an Pracht kaum hinter dem des Bischofs zurückstand. Das rote Wappen der Stadt mit dem Doppelrad prunkte auf seiner Brust, der Gürtel hielt ein Kurzschwert. Die Scheide war mit einem Riemen über dem Knie befestigt, zu dem fein gearbeitete Schnallenstiefel emporragten.

Raimund fühlte sich mit seinen einfachen Schnursandalen zwar deplatziert, tröstete sich jedoch damit, dass er in dieser Hitze sicherlich das bequemste Schuhwerk trug.

Ohne zu grüßen oder gar aufzustehen, fuhr der Bischof den Vogt an. »Der Herr war zum Sextläuten bestellt.«

»Euer Suffkopf von Glöckner verschläft jedes Mal, die Wasseruhr rechtzeitig zu füllen, und dann läutet er nach Belieben.« Der Vogt gab dem Bischof keine Zeit für eine Erwiderung, sondern fuhr direkt fort: »Das Wetter wird immer mehr zu einem Problem. Wir müssen auf Medardus hoffen, es heißt doch: Wenn es an Medardus regnet, wird es vierzig Tage nass.«

Raimund sah eine Möglichkeit, sich in das Gespräch einzuschalten. »Bis zum Medardustag sind es noch mehr als zwei Wochen. Dann wäre es zu spät, denn das Getreide würde schon vertrocknet sein und des Hungers wegen müssten die Bauern ihre Tiere schlachten. Und trotzdem würden viele über den Winter darben und nicht wenige sterben.«

»Im Herbst hat sich der Kaiser angekündigt, wenn er denn bis dahin aus Italien freikommen kann. Was sollen wir ihm auftischen?« Ruthard stöhnte, als trüge er das gesamte Leid der Welt auf seinen Schultern. »Es wird schwer sein, dem Gesindel den Zehnten abzunehmen. Sie werden klagen und die Waren verstecken, die eigentlich für die Kirche bestimmt sind.«

»Der Bischof wird hart durchgreifen müssen«, antwortete der Vogt.

»Wo nichts ist, kann man nichts holen«, erwiderte Raimund. »Und wenn die Bauern sterben, wer soll dann die Felder im nächsten Jahr bestellen und das Vieh versorgen?«

»In diesem Fall muss man die guten Dinge eben importieren. In Straßburg soll es mit dem Wetter besser sein«, entgegnete der Vogt.

»Aber wovon sollen wir das bezahlen?«, ereiferte sich Ruthard. »Die Bauern haben keinen Groschen. Bliebe nur, die Steuer auf den Handel zu erhöhen.«

Dieses Gespräch kann lange dauern, fürchtete Raimund. Die Steuern, die die Bürger der Stadt an den Bischof zu zahlen hatten, waren seit vielen Jahren Anlass für Streit. Der Vogt, der die Interessen der wohlhabenden Mainzer Bürger zu vertreten wusste, hatte sich bisher gegenüber den Wünschen des Bischofs nach Erhöhungen der Abgaben durch eine Mischung aus Ablehnung, Verzögerung und scheibchenweisem Entgegenkommen zu erwehren gewusst. Seine Antwort überraschte Raimund daher nicht.

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