Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein

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Legenden kreisten um diese Waffe des Geschlechts der Kalonymos: Kaiser Otto II. habe diese Waffe dem Ururgroßvater des Parnas vermacht. Dieser habe dem Kaiser das Pferd geschenkt, auf dem er nach der Schlacht bei Cotrone vor den Sarazenen flüchten konnte. Aus Dank habe der Kaiser die Familie aus Lucca eingeladen, sich in Mainz niederzulassen. Dies sei der Anfang ihrer nun so stolzen Gemeinde am Rhein gewesen, so die Legende.

War es Kalonymos selbst, der diese Geschichten verbreitete? Oder waren sie Teil der Überlieferungen, die Menschen befähigten, eine Gemeinschaft wie die ihre zu bilden? Chaim war in jedem Falle froh gewesen, als sich Davids Interesse für Waffen gelegt hatte und er stattdessen anfing, sich für das Schreiben und Zeichnen zu begeistern.

Er trat in den großen Raum, der fast die ganze Etage einnahm. Der Parnas begrüßte ihn an der Tür. Kalonymos’ festen Handschlag angemessen zu erwidern, kostete Chaim Mühe, und er musste seinen Blick nach oben richten, um dem Parnas in die Augen schauen zu können.

Die Sonne warf harte Schattenkanten durch die Fensteröffnungen auf den Dielenboden. In der Mitte des Raumes saßen sich zwei Männer an einem großen Holztisch gegenüber. Mit seinen faltigen Händen hielt der alte Mosche, der zweite Rabbi der Gemeinde, ein kleines Pergament nah an seine Augen. Ein Lächeln grub sich in sein zerfurchtes Gesicht. Ihm gegenüber saß Salomo, ein in Mainz nicht nur von den Juden geschätzter Arzt. Chaim nickte den beiden freundlich zu. Mosche blickte nicht auf, und wie so oft beschlich Chaim ein Gefühl der Verunsicherung. Nahm Mosche ihn aufgrund seiner schlechten Augen nicht wahr oder war es seine Art, ihm gegenüber Verachtung auszudrücken? Der alte Rabbi war doch sonst so warmherzig zu allen in der Gemeinde.

Die letzten Jahre waren von schmerzlichen Auseinandersetzungen mit seinem älteren Kollegen geprägt gewesen. Mosches großes Wissen beeindruckte Chaim immer wieder, jedoch verspürte er gegen dessen überpräzise Auslegung der Torah immer häufiger einen Unwillen, den er selbst bei den Gottesdiensten nur noch schwer verbergen konnte. Die Qualität von Mosches Stimme, der oft als Vorbeter die Torahtexte aus der Bimah vorsang, war jedoch unbestritten. Aus der Fülle seines Leibes entluden sich eine Tiefe und Wärme, die die ganze Gemeinde verzauberten. Und auch Chaim liebte es in diesen Momenten, dem alten Mosche zuzuhören.

Salomo begrüßte Chaim mit einem verschmitzten Lächeln, das dieser zwar nicht zu deuten wusste, das ihm jedoch keinerlei Unbehagen bereitete. Chaim vertraute dem erfahrenen Arzt, der David, Benjamin und Hannah gesund zur Welt gebracht hatte und auch manches Wehwehchen der Kinder mit den Kräutern seines geheimnisvollen, üppigen Gartens lindern konnte. Auch gegen Chaims gelegentliche Schwermut wusste Salomo Rat. Und wenn es nicht anders ging, so fand er mit Sicherheit eine Mixtur, die es Chaim ermöglichte, die Woche bis zum Sabbat zu überstehen. Deshalb strebte Chaim sofort auf den freien Stuhl neben dem Arzt zu. Er legte ihm kurz die Hand auf die Schulter und setzte sich.

Der Kaufmann Schmuel Hendlein stieß als Letzter hinzu. Beim Eintritt wanderte sein Blick flüchtig über die Anwesenden, während er mit besorgter Miene ein paar Sätze mit dem Parnas wechselte. Dann ging er zum Tisch, gab Chaim und Salomo einen freundlichen Klaps auf den Rücken, begab sich zu dem freien Platz neben Mosche und reichte diesem die Hand. Erst jetzt sah Mosche auf, und Schmuels feine, gepflegte Hände versanken in den Pranken des alten Rabbis.

Kalonymos schloss die schwere Eichentür, begab sich zum Kopf des Tisches und zeigte auf ein eingerolltes Pergament, das vor ihm lag. »Liebe Mitglieder des Rates, dieser Brief wurde uns von unseren jüdischen Freunden aus Speyer gesandt.«

Der Parnas schaute jedem der Anwesenden in die Augen. Nachdem er sich der Aufmerksamkeit aller Mitglieder des Rates sicher war, fuhr er fort. »Wir haben viele Gerüchte über das Heer der Unbeschnittenen gehört, auch dass es vor Speyer gelagert hat.«

Er ließ seinen Blick für einen Moment auf Schmuel verweilen. »Manche von uns haben gar schon an Flucht gedacht.«

Schließlich wandte sich der Parnas wieder an den ganzen Rat. »Nun bekommen wir endlich Klarheit. Der Brief enthält wichtige Nachrichten. Hoffnungsfrohe, aber auch besorgniserregende. Deshalb habe ich nach euch schicken lassen. Habt Dank, dass ihr so schnell gekommen seid, und hört nun selbst, was uns die Gemeinde aus Speyer zu berichten hat.«

Der Parnas rollte das Blatt auseinander und las vor. »Liebe Brüder und Schwestern in Mainz! Bewegende Dinge sind geschehen bei uns in Speyer, von denen wir euch in Kenntnis setzen möchten. Elf Gemeindemitglieder haben wir verloren, und viele von uns wurden in schwere Glaubensnöte gebracht. Jedoch schenkte der Eine uns in seiner großen Güte Rettung zu guter Letzt. Aber lasst uns von unserem Geschick berichten, damit ihr Vorsorge treffen könnt.« Kalonymos blickte auf. Sorgenfalten durchzogen sein Gesicht. »Am Sabbat, dem achten Tag des Monats Ijjar, kam die schwere Prüfung des Herrn über uns. Schon seit dem Freitag lagerte das Heer der Unbeschnittenen in Zelten vor unserer Stadt und verbreitete großen Schrecken unter uns. Sie hefteten ein verwerfliches Zeichen, ein Kreuz, an ihre Kleider, sowohl Mann wie Frau, alle die sich bereitfanden, den Irrweg nach dem Grab ihres Messias zu ziehen, sodass die Männer, Frauen und Kinder zahlreicher waren als die Heuschrecken auf der Fläche des Erdbodens. Emicho von Flonheim – seine Gebeine mögen in einer eisernen Mühle zermalmt werden – führte das Heer an. Als sie nun auf ihrem Zuge durch die Städte kamen, in denen Juden wohnten, sprachen sie untereinander: ›Sehet, wir ziehen den weiten Weg, um das Haus der Schande aufzusuchen und uns an den Ismaeliten zu rächen, und siehe, hier wohnen unter uns Juden, deren Väter Christum unverschuldet umgebracht und gekreuzigt haben! So lasset zuerst an ihnen uns Rache nehmen und sie austilgen unter den Völkern, dass der Name Israel nicht mehr erwähnt werde; oder sie sollen unseresgleichen werden und zu unserem Glauben sich bekennen.‹«

Auf Mosches Stirn traten Zornesfalten. »Der Gekreuzigte, der gehängte Bastard, Verderben und Blut bringt er.«

Chaim verschloss die Augen. Musste Mosche solche Worte wählen? Auch ihm war die Vorstellung eines gekreuzigten Messias zutiefst fremd. Noch schlimmer war, dass sie den Nazarener zu einem Gott erhöht hatten. Durch nichts, was in den Schriften stand, war dies zu rechtfertigen. Aber was half es, den, welchen die Christen als ihren Heiland anbeteten, einen Bastard zu nennen? Insbesondere die Kinder schnappten so etwas gerne auf. Und dann verbreiteten sich solche Worte und stifteten Missgunst unter den Städtern.

»Speyer, das sind nur zwei Tagesreisen mit dem Schiff.« Schmuels Bemerkung unterbrach Chaims Gedanken. »Knapp vier Tage mit dem Pferd, sieben Tage zu Fuß.«

Kalonymos ben Meschullam fuhr fort: »Es wurden mehr von den Gottlosen jeden Tag, und sie trieben sich herum in der Stadt, dass es uns bange wurde. Unter der Führung Emichos, er soll auf ewig verflucht sein, wandten sie und einige der Städter sich gegen uns, töteten elf Menschen und zwangen viele, sich zu beschmutzen mit ihrem übel riechenden Wasser.«

»Elf Seelen ermordet in Speyer«, raunte Schmuel.

Mosche fügte hinzu. »Und viele zu ihrer Verderben bringenden Taufe gezwungen. Wir …«

»Wartet, wartet. Lasst mich den Brief zu Ende lesen«, unterbrach der Parnas den alten Mosche. »Als dies Bischof Johann zu Ohren kam, sammelte er seine Krieger und hielt seine Hand über uns. Er gewährte uns Juden Einlass in seine Pfalz und schützte uns vor den Mördern.«

»Seht«, bemerkte Chaim, »wir können dem Bischof vertrauen!«

Schmuels Gesicht war die Erleichterung anzusehen.

»Und er ergriff manche der Aufwiegler und verfügte, dass ihnen die Hand abgeschlagen werde, wie es vom Kaiser Heinrich bestimmt worden war. Durch diesen frommen Bischof wurde uns die Gnade des Herrn zuteil.«

Chaim nickte zufrieden. »Die Hände des Mörders abschlagen, das ist die vorgesehene Strafe nach kaiserlicher Rechtsprechung. Das wird dieses Räubervolk in ihre Grenzen verweisen. Sie werden es nicht noch einmal wagen, sich an unsereinem zu vergehen.«

»Unter Berufung auf den Kaiser gewährte Bischof Johann den übrigen Gemeindemitgliedern in seinen Festungen Schutz«, fuhr Kalonymos fort.

Über Mosches Gesicht zog ein dankbares Lächeln, mit kämpferischem Optimismus raunte er: »Gott ist groß.«

»Der Ewige nahm sich unser an, denn sein Name ist heilig. Und der Bischof verteidigte uns, bis die Horden fortgezogen waren.« Kalonymos ließ das Pergament sinken und atmete tief durch.

Ein betretenes Schweigen lag im Raum. Langsam setzte sich die Nachricht in den Köpfen, und die möglichen Folgen für ihre Gemeinde, die aus den Ereignissen erwuchsen, drängten sich auf.

Mosche ballte die Faust. »Was ist mit denen geschehen, die von ihrem Schmutzwasser besudelt wurden? Müssen die Armen in der Hölle darben?«

»Mich interessiert vor allem, wohin Emichos Heer weitergezogen ist«, warf Schmuel ein.

»Der Brief geht noch weiter, lasst mich bitte zum Ende kommen«, setzte Kalonymos noch einmal an. »Rabbi Mosche bar Jakuthiel, unser Parnas, brachte Rettung. Durch seine Intervention beim Bischof durften all die zum wahren Glauben an den Einen zurückkehren, die gegen ihren Willen getauft worden waren.«

»Des Ewigen Gnade kennt keine Grenzen.« Mosche breitete die Hände aus, als ob er einen himmlischen Segen entgegennehmen würde.

Auf Schmuels Stirn zeigten sich dagegen Schweißperlen. »Ich frage noch einmal. Wohin ist das Heer der Unbeschnittenen gezogen?«

 

Kalonymos erwiderte: »Das sagt der Brief nicht. Aber der Bote, der ihn brachte, hat ein großes Zeltlager der Feinde Gottes vor Worms gesichtet. Ein wilder Haufen von beiden Seiten des Rheins hätte sich dort versammelt. ›Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen und mit jedem Tag wurden es mehr.‹ Das hat er mir noch gesagt, bevor er weiterzog.«

»Sie sind schon in Worms, nur zwei Tagesmärsche entfernt.« Schmuels Stimme überschlug sich.

»Der Bischof von Speyer, der gute Johann, hat eingegriffen. Das wird auch in Worms geschehen, und das würde auch in Mainz so sein. Bischof Ruthard ist auf unserer Seite«, bemerkte Chaim, unsicher darüber, ob seine Stimme die Festigkeit hatte, die er ihr geben wollte.

»Ich hoffe, du hast recht. Ganz sicher hast du recht.« Kalonymos kratzte sich an seinem mächtigen Hinterkopf. »Aber auch wir sollten unseren Teil beitragen, falls Emichos Heer vor Mainz auftauchen sollte. Wir müssen dem Bischof unsere Unterstützung anbieten. Ich schlage vor, wir fordern unsere Männer auf, sich zur Verteidigung der Stadt bereitzuhalten.«

Schmuel zog den Kopf zwischen die Schultern. »Für die Kampferfahrenen unter uns ist dies sicherlich angemessen.« Er richtete sich auf und fügte hinzu: »Aber Geld werden wir auch benötigen, um den Bischof für uns einzunehmen. Er wird sich gut überlegen, ob er das Leben seiner Männer für uns riskieren wird.«

Chaim schüttelte den Kopf. »Es ist seine Pflicht, uns zu schützen. Er hat dem Kaiser gehorsam zu sein.«

»Sei kein Narr! Uns Juden wurde schon viel versprochen«, ereiferte sich Schmuel. »Und wenn es darauf ankam, wurden die Christen zu geknicktem Rohr. Erinnert euch daran, was vor zwölf Jahren geschah, nach dem großen Feuer. Wir Juden sollten es gelegt haben, wurde von einigen der Bürger behauptet, obwohl die Häuser der Unseren mit den anderen gebrannt haben. Daraufhin mussten viele von uns die Stadt verlassen.«

»Die meisten konnten nach Speyer ziehen, wo sie vom damaligen Bischof Rüdiger freundlich aufgenommen wurden«, wendete Chaim ein. »Und es ist noch keine sieben Jahre her, da hat Heinrich bestimmt, dass uns Juden Schutz zu gewähren sei. Zwölf Pfund Gold muss derjenige als Strafe bezahlen, der einen von uns zur Taufe zwingt. Und um ganz sicher zu sein, dass, was der Ewige verhindern möge, einer der Unseren aus freien Stücken ihren Glauben annehmen möchte, so hat der Kaiser bestimmt, dass erst nach drei Tagen die Taufe vollzogen werden darf.«

»Das ist schön und gut, aber lass uns dem Bischof unsere Dankbarkeit erweisen. Eine Spende wird er ganz sicher nicht verachten«, erwiderte Schmuel.

»Euer Mangel an Vertrauen zu Gott ist beschämend«, mischte sich Mosche in die Debatte ein. »Wir müssen uns Gottes Gunst würdig erweisen.«

»Und wie sollen wir das deiner Ansicht nach bewerkstelligen?«, entgegnete Schmuel.

»Wir müssen beten und fasten, die ganze Gemeinde. Bis die Ungläubigen an Mainz vorbeigezogen sind.«

Schmuel stöhnte vernehmlich und verdrehte die Augen.

»Es ist so, wie es immer war: fünf Juden, sechs Meinungen.« Ein resigniertes Lächeln zeigte sich auf Kalonymos’ Gesicht, während er sein mächtiges Haupt abwägend nach links und rechts drehte. Alle Blicke richteten sich auf den Parnas, der schließlich mit undeutbarer Miene verkündete: »Dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Wir beten und fasten, sammeln Geld für den Bischof und bereiten die Verteidigung vor.«

Schmuel und Mosche nickten.

»Salomo und Chaim, ist es das, was wir machen werden?«, fragte der Parnas.

Salomo überlegte kurz. »Ja.«

»Einverstanden«, sagte schließlich auch Chaim, fügte aber mit einem bitteren Lächeln hinzu: »Ich hoffe nur, dass unsere Männer dem Bischof trotz des Fastens ihre volle Kampfbereitschaft zur Verfügung stellen können.«

»Gott wird ihnen die nötige Kraft geben, das Gebet wird sie stark machen«, erwiderte Mosche im Brustton der Überzeugung.

Chaim unterdrückte ein Seufzen. Urplötzlich überkam ihn der Wunsch, sein Gesicht in Jehudiths Busen zu vergraben. Zwischen ihren zwei sanften Hügeln wollte er verweilen. Diese überschaubare beruhigende Landschaft sollte sein Versteck sein, bis seine Frau zu ihm sagen würde: Mein Schatz, du kannst wieder auftauchen. Der Spuk ist vorbei, die bösen Männer sind weg.

Unsanft riss ihn die Stimme des Parnas zurück in die Wirklichkeit. »Also gut, dann lasst uns eine Bekanntmachung für morgen vorbereiten. Wegen des Sabbats werden fast alle der Unseren in die Synagoge kommen.«

Kalonymos zog eine Wachstafel aus einer Schublade unter der Tischplatte hervor und fragte: »Was sollen wir morgen bekannt geben? Ich warte auf eure Vorschläge.«

Auf einem Acker nahe Gerstendorf

Von der schier endlosen Prozession am anderen Rheinufer waren nur noch ein paar Nachzügler zu sehen, vorwiegend Alte, einige auf Krücken. Sie schienen Essensreste und andere Dinge aufzusammeln, die liegen geblieben waren zwischen Pferdeäpfeln und Ochsenmist.

Die Furchen, die Peter und Lene gezogen hatten, waren so schief und krumm, dass Vater sicher schimpfen würde. Aber wie zum Teufel konnte er auf den blöden Acker achtgeben, wenn die Ritter des Kreuzes direkt vor seiner Nase vorbeizogen?

Nachdem auch die Allerletzten die Biegung des Rheins erreicht hatten, wurde es ein wenig ruhiger in Peters Brust. Er hielt den Pflug nun wieder fest in seinen Händen und blickte aufmerksam zu Boden, um den Steinen auszuweichen. So kamen sie gut voran, und wenn sie zu einer neuen Furche ansetzten, dann streichelte er über Lenes Hals, wie er es immer tat.

Doch der äußere Schein trog. Zwar war das Heer der Pilger nun in Richtung Mainz hinfortgezogen, aber Peters Gedanken verweilten bei dem Heer Gottes. Was diese beneidenswerten Menschen wohl alles erleben würden? Er dagegen musste noch mindestens zwei Tage diesen steinharten Acker pflügen. Während er sich abschuftete, konnten die Pilger die weite Welt sehen und Heldentaten vollbringen. Und sobald er mit diesem Acker fertig war, würde er Unkraut aus dem Flachsfeld rupfen müssen. Ihm tat der Rücken weh, allein wenn er an das dauernde Bücken dachte und die sengende Sonne im Nacken. Ein Buckeln ohne Ende, das war sein Leben.

Lene zog geduldig Furche um Furche. Was unterscheidet mich von diesem Gaul, haderte Peter. Verbissen arbeitete er weiter, bis die Sonne nur noch vier Handbreit über dem Horizont stand. Peter war erschöpft, und Lenes Schnauben zeigte ihm, dass auch sie am Ende ihrer Kräfte war.

»Genug für heute«, bestimmte Peter, und Lene nickte dankbar mit ihrem großen Kopf.

Beim Gang durch die Äcker zu seinem Heim kreisten seine Gedanken weiterhin um all das Wunderliche, was sich an diesem Nachmittag vor seinen Augen abgespielt hatte.

Mainz – in der Langen Gasse

Nachdenklich schritt Chaim durch die Lange Gasse in Richtung des Marktplatzes. Stundenlang hatten sie gestritten, abgewogen und verworfen. Um jedes Wort für die morgige Ankündigung in der Synagoge war es ein entnervendes Ringen gewesen. In seiner Empörung hatte Mosche Ausdrücke von sich gegeben, die schwerwiegende Konflikte hätten heraufbeschwören können: Sohn der Abgesonderten und gehängter Bastard hatte er den Heiland der Christen genannt. In seiner Erregung über den Tod ihrer Glaubensgenossen hatte er ihre Taufe als Beschmutzung mit übel riechendem Wasser und ihre Kirchen als Haus der Unreinheit bezeichnet. Immer wieder musste Chaim auf Mäßigung dringen. Ganz besonders jetzt waren sie doch auf die Hilfe ihrer christlichen Mitbürger aus Mainz angewiesen.

Und Kalonymos wollte alle kampffähigen Männer bewaffnen. Dazu sah auch Chaim die Notwendigkeit, die Nachrichten aus Speyer waren zweifelsohne besorgniserregend. Und noch schlimmer war, dass ein Heer der Unbeschnittenen vor Worms zu stehen schien. Aber bestand nicht die Gefahr, die Christen in Mainz durch waffentragende Juden zu provozieren?

Immerhin war es Chaim gelungen durchzusetzen, dass die Bewaffnung heimlich vonstattenginge.

Erschöpft erreichte er sein Haus am Marktplatz gegenüber dem großen Dom. Er betrat den Laden mit Glaswaren, den sie erst letztes Jahr eröffnet hatten. Einige der reicheren Bürger der Stadt konnten sich die durchsichtigen Becher und Karaffen leisten, und Schmuck mit dem geheimnisvoll funkelnden, farbenreichen Material war ein begehrtes Geschenk für eine Angebetete. So war es Jehudiths Idee gewesen, die Glasprodukte, die in Chaims Werkstatt im hinteren Teil des Hauses hergestellt wurden, den Mainzern in einem Laden vorzuführen.

Die linke Seite stand deshalb unter dem Regiment seiner Frau: Hinter einem Tresen waren bunte Gläser, Pokale und Schalen, Ringe, Broschen und Ohrgehänge in allen Farben in einem großen Wandregal adrett positioniert. Und sogar glasbesetzte Diademe gab es dort. Chaims Bereich war auf der rechten Seite zu finden. Dort waren Fenster aus Glas ausgestellt, die in Mainz bisher nur in seiner Werkstatt hergestellt werden konnten. Schmuel versorgte ihn mit farblosen Glasbarren aus dem Orient, die er in seiner Werkstatt weiterverarbeitete. Nun konnte er endlich kleine durchsichtige Schiebefenster herstellen, die die Kälte weitaus besser abwehrten als die dünnen Pergamente, die man bisher in die Fensterrahmen spannte. Und man war sogar in der Lage, die Konturen der Häuser und Menschen durch das Glas zu sehen. Der Rohstoff war sündhaft teuer, aber für die Wohlhabenden waren seine neuen Fenster nicht unerschwinglich.

Beim Eintritt in den Laden nickte er Jehudith kurz zu, die mit einem Kunden beschäftigt war. Sie blickte fragend zu ihrem Mann hinüber. Chaim wies mit dem Finger auf die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung und formte mit dem Mund ein lautloses »Später«. Er setzte sich an den großen Küchentisch und wechselte ein paar Worte mit David, der sich jedoch schnell wieder zu Hannah und Benjamin gesellte. Kurze Zeit später kam Jehudith, begrüßte ihn mit einem für seinen Geschmack viel zu flüchtigen Kuss und fragte: »Und? Wieso gab es so plötzlich eine Ratssitzung? Ist etwas passiert?«

Ernst schaute er in die Augen seiner Frau und sagte leise: »Schlimme Nachrichten aus Speyer. Mosche war eine Plage und Kalonymos mal wieder übereifrig.«

»Na, so ist es doch schon immer gewesen.«

»Dem Herrn sei Dank ist Salomo vernünftig geblieben in dem ganzen Schlamassel. Aber ich hatte das Gefühl, da war etwas, mit dem er nicht rausrücken wollte. Er hat mich so merkwürdig angeschaut und dabei gegrinst. Kannst du dir einen Reim darauf machen?«

Eine leichte Röte zeigte sich auf Jehudiths Gesicht. Geschwind wandte sie sich zur Küche um und antwortete im Gehen: »Ich bring dir erst einmal etwas zu essen. Setz dich hin und ruh dich aus. Magst du etwas Wein?«

Chaim ließ sich auf den Stuhl fallen. »Gerne, mein Schatz.«

Schon kam Jehudith mit dem Rotweinkrug. Sie reichte ihm einen Tonbecher und ein Messer aus dem Wandregal. Chaim schenkte sich ein und nahm einen ordentlichen Schluck, während Jehudith ein Holzbrett mit Kümmelbrot, Pflaumenmus und einem Stück der harten Wurst, die er so mochte, aus der Küche hereintrug. »Du kannst mir heute Abend mehr von der Sitzung des Rates erzählen. Ich muss wieder nach unten, die Frau des Metzgers in der Krämergasse wartet.«

Bevor sie zur Treppe hinunter zum Laden entschwand, kraulte sie Chaim kurz den Nacken. Der brummte wohlig vor sich hin. »Aaaahhhhh, tut das gut.«

»Räum die Sachen bitte nachher in die Küche.«

Schmunzelnd blickte Chaim seiner Frau nach. Drei schwere Geburten lagen hinter ihr, und kein Kind hatten sie verloren. Auch dank Salomo. Alle drei Kinder hatten anfangs mit hohem Fieber zu kämpfen gehabt, die Kräuter des Arztes, mit dem sie nun schon seit vielen Jahren befreundet waren, hatten jedoch jedes Mal schnell Linderung gebracht.

Jehudiths Hüften waren mit den Jahren fülliger geworden, wie auch der Umfang seines Bauches gewachsen war. Und ihre Brüste waren nicht mehr die zwei jungen Rehzwillinge, die unter den Rosen weideten, wie er sie in den ersten Jahren ihrer Ehe mit Worten aus dem Hohelied liebkost hatte. Die Spuren des Stillens dreier Kinder ließen sich nicht verbergen. Lass deine Brüste sein wie Trauben am Weinstock, hatte er ihr aus diesem alten Lied vorgesungen, als David endlich auf der Welt gewesen war, und Jehudiths Brüste zunächst kaum Milch geben wollten.

Aber sein Verlangen nach Jehudith, das hatte er nicht verloren. Ebenso wenig wie seine Begeisterung für das Schir ha-Schirim, das Lied der Lieder, wie das Hohelied auch genannt wurde. Noch immer nannte er sie meine Rose von Scharon. Und auch Jehudiths Lust war frisch geblieben. Nach den Geburten hatte er sie in Ruhe gelassen und gewartet, bis sie sich ihm wieder genähert hatte.

 

Mit großem Hunger verspeiste Chaim die guten Dinge, die ihm von Jehudith aufgetischt worden waren. Seit dem Frühstück hatte er nichts mehr zu sich genommen. Die Wurst war würzig, das Brot angenehm weich und schmackhaft und das Mus lieblich süß. Der Wein legte sich wohltuend um seine düsteren Gedanken an die Ereignisse in Speyer. Satt und ein wenig beruhigter räumte er zu guter Letzt die übrig gebliebenen Speisen in die Kammer.

Er hatte noch zwei Stunden Zeit, in seiner Werkstatt im Hinterhaus nach dem Rechten zu sehen.

Peters Heim nahe Gerstendorf

Aus der Ferne sah Peter sein mit Stroh gedecktes Heim, in dem er zusammen mit Vater und Mutter, seinem Bruder Bernhard und der kleinen Mathilde, ihrem Pferd Lene, drei Kühen und zwei Ochsen lebte. Die Hühner und Schweine waren in ihrem eigenen Stall untergebracht, etwas abseits des Hauses. Erst letzten Sommer hatte der Vater ihn gebaut. Alle waren froh, dass der Schweinegestank nun nicht mehr aus dem Raum direkt gegenüber der Stube drang. Dort stand jetzt nur noch Lene mit den Kühen und Ochsen.

Die Stube war der Schlaf- und Essraum der Familie. Im Winter rückten sie eng zusammen um die Feuerstelle. Dort schliefen sie auf Stroh. Manchmal jedoch verbrachte Peter die Nacht neben Lene. Seit diesem Frühling verzog er sich auch gern in die Grubenhütte etwas abseits des Hauses, in der das Werkzeug lagerte und wo der Vater seine Schmiedearbeiten durchführte.

Er ließ Lene aus dem Bach trinken, der an ihrem Haus entlangführte. Dort konnte sie noch etwas in der Abendsonne stehen, das Gras an dieser Stelle schmeckte ihr besonders gut. Erst nach der Mahlzeit würde er sie in ihren Stall führen. Nachdem er mit Lene ein paar letzte Worte gesprochen und ihr zum Abschied über das Fell gestreichelt hatte, begab er sich ins Haus.

An der Tür empfing ihn eine Stimme, die ihm unbekannt war. »Gott segne dich, du musst Peter sein.«

Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit des fensterlosen Raumes. Der Feuerplatz war neben einer blakenden Talglampe die einzige Lichtquelle im Raum. Am Tisch saß der Priester in der roten Kutte, den er heute Mittag von seinem Acker aus beobachtet hatte. Dieser richtete abermals das Wort an ihn. »Setz dich zu uns, Peter. Du musst erschöpft sein. Der Pflug ist schwer und der Boden sicher hart, so wenig wie es in den letzten Wochen geregnet hat.«

Die Stimme des Mannes war sanft, er rollte das R so weich, dass es einem ganz warm ums Herz wurde. Wie fremd war doch dieser leuchtend rote Stoff in ihrem Haus, den der Priester an seinem schlanken Körper trug. Und wie fein die Sandalen. Seine Hände waren unglaublich sauber. Peter kam sich erbärmlich vor mit seinen dreckigen Füßen, auf denen er heute barfuß durch den Acker gestapft war.

Mutter rührte einen Getreidebrei über dem Feuer, während sein Vater die Gunst der Stunde nutzte und mit dem hohen Besuch am Tisch Met genoss, den es sonst nur am Sonntag zu trinken gab. Scheu setzte sich Peter hinzu, und sein Vater schenkte auch ihm etwas von der goldenen Köstlichkeit in einen Holzbecher.

»Wir werden immer mehr, seitdem Papst Urban alle Christenmenschen zur Befreiung Jerusalems aufgerufen hat«, sagte der fremde Mann. »Vor vier Wochen waren wir knapp zweihundert, jetzt sind wir fast zweitausend auf dem Weg in die Heilige Stadt.«

»Was denkt Ihr, wann werden die Ritter Jerusalem erreichen?« Vater füllte Peters Becher mit Wasser aus einem großen Tonkrug auf.

»Wohl nächstes Jahr im Frühling. Gott will, dass wir zuerst hier im Rheinland für Ordnung sorgen.«

»Herr, was meint Ihr damit?«, erkundigte sich Peters Vater.

»Reden wir lieber von Jerusalem«, überging der fremde Mann die Frage. »Aus allen Ländern kommen die Ritter und das Fußvolk dem Aufruf unseres Papstes nach. Wir werden die Sarazenen im Handstreich besiegen.«

Mainz – in Jehudiths und Chaims Haus

Die Gesellen hatten in Chaims Abwesenheit alle Arbeiten fehlerfrei ausgeführt. Zu seinem Missfallen ließen sie ihn jedoch wissen, dass der Bischof einmal mehr bezüglich der Domfenster hatte nachfragen lassen.

Das rote Rosenfenster, das er für die Synagoge gefertigt hatte, war auch unter den Christen nicht unbemerkt geblieben. Nun war es der Wunsch des Bischofs, dass in seinem Dom die gläsernen Bildnisse den Raum mit farbigem Licht ausfüllten. Und Chaim war der Einzige in ganz Mainz, der so etwas vielleicht schaffen konnte. Da war der hohe Herr sogar bereit, den Dienst eines Juden anzunehmen.

Die Seitenöffnungen des großen Bauwerks, die im Winter und bei starkem Regen mit Teppichen verschlossen wurden, waren hoch und breit. Die Druckverhältnisse der Mauern waren kompliziert, veränderten sich mit der Temperatur, und der Wind presste mit all seiner Macht gegen die großen Flächen. Daher wollte Chaim nicht zu viel versprechen.

Doch der Bischof bestand darauf, sich und all seine Vorgänger verewigt zu sehen. Und schlimmer noch, ein Bild des Gekreuzigten sollte ein Fenster im Altarraum zieren. Zwar reizten Chaim die Herausforderungen eines solchen Auftrags, aber auch das Ungemach in der Gemeinde gab ihm zu denken. Unser Christenfreund Chaim schmückt nun die Häuser der Unreinheit, würde es wohl heißen. Rabbi Chaim stellt Bilder des Gehängten her. Daher hatte Chaim beim letzten Gespräch mit dem Bischof in allen Details auf die technischen Probleme hingewiesen. Der Bischof hatte ungehalten reagiert und wohl auch durchschaut, dass Chaim die vorgesehenen Motive wenig zusagten. Seitdem ließ Ruthard hartnäckig nachfragen. Lange würde Chaim sich nicht mehr erwehren können.

Daher verfolgte er mit Raimund neben der Psalmenübersetzung heimlich eine weitere Idee, welche in Richtung des Wunsches des Bischofs ging: Die Fensteröffnungen in der Johanniskirche waren weitaus kleiner, und an diesen wollte sich Chaim zunächst versuchen. Auf den sechs Fenstern auf der Westseite der Kirche sollten Gleichnisse des Nazareners dargestellt werden. An Skizzen dafür wollte er noch etwas arbeiten.

Peters Heim nahe Gerstendorf

Mit offenem Mund beobachtete Peter den hohen Besuch. Der Dorfpfarrer pflegte ab und an vorbeizuschauen, um Honig und Met abzuholen. Und als die Großmutter im Sterben lag, war er gekommen, um ihr die letzte Salbung zu spenden. Peter mochte ihren dicken, redseligen Pfarrer, der auch manchen guten Witz zu erzählen wusste. Aber von diesem schlanken Mann in seiner roten Kutte mit dem großen silbernen Kreuz über der Brust strömte ein Glanz aus, wie es Peter vorher nie erlebt hatte. Und dieser Mann hatte ihn gegrüßt, hatte sogar seinen Namen gekannt.

»Hohe feste Mauern umschließen die Heilige Stadt, viel höher als die Mauern von Mainz«, mischte sich Peters Mutter ein, die die Gedanken ihres Sohnes wohl erraten hatte. »Das habe ich auf einem Bild im großen Dom gesehen. Viele Menschen werden ihr Leben lassen in Eurem Krieg.«

»Gott ist auf unserer Seite, daher werden wir gewinnen. Und wer sein Leben hergibt im heiligen Kampf, dem werden alle Sünden vergeben. Das hat Papst Urban feierlich verkündet.«

»Mmh«, war alles, was Peters Mutter darauf antwortete. Dann sagte sie: »Der Brei ist fertig. Etwas Besseres können wir Euch in unserer bescheidenen Hütte leider nicht anbieten, aber dick ist er und honigsüß. Unsere Bienen waren besonders fleißig im vergangenen Jahr.«

Sie stellte den dampfenden Kupfertopf mit den drei Beinen auf den Tisch und schöpfte den nussfarbenen Brei in die Holzschalen. Anschließend ging sie vor die Tür und rief: »Bernhard, Mathilde, kommt zu Tisch! Das Essen ist fertig!«

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