Tod oder Taufe - Die Kreuzfahrer am Rhein

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Den letzten Weg zum Altmünstertor hatten sie auf dem Wehrgang zurückgelegt, eine hölzerne Plattform, die von Turm zu Turm etwa vier Ellen unterhalb der Zinnen entlanglief. Sie mussten hintereinander herschreiten, da der Wehrgang kaum einen halben Klafter breit war, links von der Mauer und rechts von einem Holzgeländer umrahmt. Sie waren bereits in Sichtweite des Altmünsterklosters, ihrem nächsten Ziel.

Von hier oben konnte Raimund die Stadt gut überblicken. Wie die Finger seiner Schüler, wenn sie etwas sagen wollten, streckten sich die Türme der Kirchen aus dem Dächermeer hervor. Innerhalb der Mauern gab es weite unbebaute Flurstücke, insbesondere die Fläche zwischen Zeybach und Umbach am westlichen Teil der Mauer, die von den Mainzern »Auf der Bleiche« genannt wurde. In den zwei Bächen spülte Weibsvolk die Wäsche aus, um sie anschließend zum Trocknen auf den Wiesen auszubreiten. Auch heute sah man die weißen Flecken auf der saftig grünen Wiese und die vielen Frauen, die die großen Bettlaken zu zweit spannten.

Auf dem Weg hatte von Erkenbald ihm die Architektur der Stadtmauer erklärt. Es war im Wesentlichen noch die Mauer aus Römerzeiten. Bischof Liutbert hatte sie als Vorkehrung gegen einen Einfall der Normannen vor gut zweihundert Jahren instand gesetzt und zudem einen kleinen Graben zwei Schritte tief und fünf Schritte breit außerhalb der Mauer ausheben lassen. Dort waren die Angreifer ein leichtes Ziel für die Bogenschützen, die hinter den Zinnen eine gute Deckung fanden. Auf der nordöstlichen Seite war die Mauer unter Bischof Hatto um gut hundert Ellen Richtung Rhein verlegt worden.

Eine Zinne war gut einen Klafter breit und von Erkenbald wusste genau, welche Ortschaft außerhalb und welche Gemeinde innerhalb der Stadtmauer für einen bestimmten Teilabschnitt die Kosten zu tragen hatte. Der Vogt zeigte ihm die Ortsnamen, die auf einigen der Zinnen eingemeißelt waren: Nackenheim, dann zehn Zinnen weiter Bodenheim und nach sechs weiteren Zinnen Guntzinheim, so erschienen die Namen der umliegenden Ortschaften, einer nach dem anderen.

Nachdem sie mit den Wachen der Altmünsterpforte gesprochen hatten, kehrten sie im Wirtshaus des Frauenklosters ein. Sie vernahmen keinerlei Anzeichen von Besorgnis bei den Gästen. Die anhaltende Trockenheit und die aufgrund einer Schanksteuer kürzlich erhöhten Preise für Wein und Bier waren die Themen, die die Mainzer mehr zu beschäftigen schienen als das, was sich in Speyer und Worms abgespielt hatte.

Vom Altmünsterkloster gingen sie entlang der Bleichen in Richtung Peterstor. Raimund spürte mittlerweile die Anstrengung in seinen Beinen. Von Erkenbald dagegen schritt leichtfüßig dahin, obwohl sie sicher schon drei Stunden zügig unterwegs waren.

Kurz vor dem Tor zum Stift Sankt Peter kam ein Bote auf sie zugerannt. Der Junge, vielleicht sechzehn Jahre alt, hielt eine Wachstafel in seinen Händen und übergab sie von Erkenbald. Der Vogt warf einen kurzen Blick auf den Text und reichte die Tafel an Raimund weiter.

Zweitausend Bewaffnete bauen ein Lager oberhalb von Vilzbach und Selenhofen auf, las Raimund. Seine Hand begann zu zittern, und er war sich nicht sicher, ob dies der ungewohnten körperlichen Anstrengung geschuldet war oder der Aufgabe, die nun auf ihn wartete. Er gab die Tafel schnell an den Vogt zurück und fragte. »Was machen wir nun?«

»Natürlich, sie sind den Treidelweg entlanggekommen. Die Nachrichten der Schiffer haben darauf hingedeutet.« Von Erkenbald dachte einen Moment nach. »Ich übernehme die Rheinseite und schlage vor, dass der Herr Domdekan sich zum Jakobstor begibt, so wie wir es besprochen haben.«

Raimund nickte unsicher.

»Es ist zu früh, die Tore zu schließen«, fügte von Erkenbald hinzu. »Viele der Menschen aus der Umgebung werden in der Stadt Schutz suchen wollen. Dies ist ihr gutes Recht, da sie die Abgaben wie vorgeschrieben entrichtet haben. Erst im Falle eines möglichen Angriffs können wir die Tore schließen. Aber keiner der Pilger darf in die Stadt hineinkommen. Sie könnten Unruhe unter den Städtern stiften und die Menschen sogar absichtlich gegen den Bischof und die städtischen Autoritäten aufwiegeln. Wir müssen uns beeilen.«

Von Erkenbald drehte sich um und nahm die nächste Abbiegung auf dem Petersweg in Richtung Flachsmarkt. Raimund folgte ihm keuchend, konnte mit dem Tempo des Vogtes jedoch schon bald nicht mehr mithalten, sein Pulsschlag wurde immer schneller. Am Flachsmarkt angekommen musste der Vogt auf ihn warten und Raimund sagte zu ihm: »Geht vor. Ich werde mich schnellstmöglich zum Jakobstor begeben, aber vorher in der Ottilienkirche ein Gebet an den Herrn richten.«

Von Erkenbald schüttelte den Kopf, verkniff sich jedoch eine Bemerkung. »Gut, das Beten wird sicherlich nicht schaden. Nachrichten können wir von jetzt an wohl nur noch mithilfe von Boten austauschen. Handlungsstärke und Weisheit sind die Gebote der Stunde.«

Raimund lächelte dünn. Der Vogt nickte kurz, dann eilte er die Lange Gasse hinunter Richtung Dom.

Mainz – in Jehudiths und Chaims Haus

Mit dem Gesicht zur Wand gedreht lag Chaim im Bett, den Vorhang hatte er vor das Fenster gezogen. Jehudiths Augen mussten sich zunächst an die Dunkelheit in der Schlafkammer gewöhnen. Sie stellte das Tablett mit zwei Bechern Kräutersud, einem Brettchen mit mundgerecht geschnittenen Stücken Mandelbrot und einer kleinen Schale mit Himbeermarmelade auf das Tischchen neben dem Bett, ging zum Fenster und zog den dicken Stoff vor der kleinen Luke beiseite. »Hier muss Luft rein, es ist ja ganz stickig.«

»Ahh! Es ist viel zu hell.« Chaim stöhnte und zog sich die Decke über den Kopf.

Jehudith setzte sich zu ihrem Mann aufs Bett. Nur noch Chaims mit den Jahren lichter gewordener Hinterkopf war zu sehen. Sie schlug das Leinen um. »Los, hoch mit dir. Im Liegen kann man nicht essen.«

Widerwillig richtete sich Chaim auf, schaute Jehudith kurz an, nahm sich ein Stückchen von dem Mandelbrot, tauchte es in die Schale mit der Marmelade und schob es in den Mund.

Er hat Appetit, das ist ein gutes Zeichen, dachte Jehudith. »So, nun erzähl.«

Chaim kniff die Augen zusammen, zog eine Schnute und kaute weiter.

»Los, ich muss wissen, was passiert ist«, insistierte Jehudith.

Chaim stöhnte. Er ließ seinen Kopf nach hinten gegen die Wand fallen.

Ohne sie anzuschauen, brummte er schließlich: »Willst du zuerst die schlimme oder die fürchterliche Nachricht hören?«

»Fang mit dem Schlimmsten an.«

Chaim atmete zweimal tief durch und gab sich endlich einen Ruck. »Wir haben doch gestern über die bewaffneten Irren gesprochen.«

»Die, die in Speyer ihr Unwesen getrieben haben?«

»Genau, ihr Anführer heißt Emicho. Emicho von Flonheim.«

»Mmh. Und was ist mit denen?«

»Sie haben auch in Worms gewütet und viele der Unseren getötet. Andere haben sie zur Taufe gezwungen. ›Tod oder Taufe‹, das soll ihr Schlachtruf gewesen sein.«

Um ihre Unrast zu zügeln, griff Jehudith nach dem Becher mit dem Sud und fragte um Ruhe bemüht: »Und wie viele wurden getötet?«

»Das wissen wir nicht sicher, aber wohl sehr viel mehr als in Speyer.«

»Was weiß man genau?« Jehudith nippte kurz an dem Becher und drehte ihn in ihren Händen hin und her.

»Noa, die Frau von Levi ben Melchi, konnte dem Grauen entfliehen.«

»Levi, der Kaufmann aus Worms, von dem Schmuel diese weichen, kariert gewebten Stoffe geliefert bekommt?«

»Genau. Seine Frau erschien nach dem Gottesdienst in der Synagoge, bevor der Parnas seine Rede halten konnte.«

Jehudith versuchte, sich von der zunehmenden Panik in den Augen ihres Mannes nicht anstecken zu lassen. Chaim redete lauter. »Während der Wirren in Worms hat sie sich bei Christen verstecken können. Daher hat sie selbst gar nicht so viel gesehen. Aber was sie erzählte, war schlimm genug.«

»Was denn?«

»Die bewaffneten Pilger haben ihren Mann vor ihren Augen getötet, weil er sich nicht taufen lassen wollte. Und die Kinder wurden ihr entrissen.«

Immer schneller drehte sich der Becher in Jehudiths Händen, während Chaim weitersprach. »Einige der Unseren scheinen sich beim Bischof in der Pfalz verschanzt zu haben. Denen ist wohl nichts passiert, jedenfalls nicht bis zum Zeitpunkt, an dem Noa die Stadt verließ. Aber das war vor fünf Tagen. Wer weiß, was inzwischen noch geschehen ist.«

»Von Worms nach Mainz, das sind nur zwei Tagesmärsche«, stellte Jehudith fest.

»Wegen des Heers der Unbeschnittenen hat Noa nicht den schnellsten Weg entlang des Treidelwegs nehmen können. Sie ist über Basinusheim gekommen.«

»Dann sind es bestenfalls drei Tage.«

»Ja, aber aus Angst vor den Soldaten hat sie sich zwischendurch im Wald versteckt gehalten. Man sah es ihr wahrlich an, ihre feinen Kleider waren völlig hinüber.« Aus Chaim brach es nun regelrecht heraus. »Es muss viele Tote gegeben haben. Die Stadttore von Worms waren tagelang gesperrt. Keiner kam rein oder raus. Schreckliche Dinge müssen sich dort abgespielt haben. Noa sprach von Leichenhaufen.«

»Nein, das kann nicht sein«, entfuhr es Jehudith. Beim Wort Leichenhaufen sprang sie auf. Sie musste einige tiefe Atemzüge nehmen, bevor sie sich wieder im Griff hatte. »Warum sollte jemand so etwas tun? Und wie sind diese Verbrecher überhaupt in die Stadt hineingekommen?«

»Das weiß keiner so genau. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Bischof sie freiwillig hereingelassen hat.«

»Eine Stadt zu belagern, das dauert doch Monate.« Jehudith ging neben dem Bett auf und ab und verschüttete dabei etwas Kräutersud. »Die Mainzer erzählen noch immer stolz von König Ottos Belagerung vor mehr als hundert Jahren und wie er nach zwei Monaten unverrichteter Dinge wieder abziehen musste. Und erst vor ein paar Jahren wurde die Mauer nochmals erhöht.«

 

»In Mainz, nicht in Worms.« Chaim schüttelte den Kopf. »Trotzdem ist auch mir das ein Rätsel. Irgendwie müssen die Feinde des Ewigen es geschafft haben. Vielleicht haben sie Hilfe von Christen in der Stadt bekommen.«

Jehudiths Entsetzen wurde zu Angst. Die christlichen Städter waren immer sehr freundlich zu ihnen gewesen, versuchte sie sich zuzureden. Natürlich gab es unheimliche Gestalten. Aber hinter den Mauern waren sie doch sicher. Das hatte sie zumindest bisher gedacht. »Und was machen wir jetzt?«

»Kalonymos wird nach dem Läuten zur Non in der Synagoge reden.« Chaims Blick verdüsterte sich. Trotzig streckte er die Unterlippe vor. »Ich gehe aber nicht dorthin.«

Jehudith war irritiert. »Warum?«

»Erstens weiß ich, was er sagen wird. Und zweitens ist da noch etwas. Und das ist die schlimme Nachricht.«

»Was wird er sagen?«

»Nichts Neues. Ruhe bewahren, Bewaffnung der Unseren, Geld an den Bischof, fasten und beten.«

»Warum nicht fliehen?«

»Wohin?« Chaim hob die Arme mit nach oben gedrehten Handflächen und ließ sie kraftlos wieder sinken. »Willst du da draußen herumirren? Was ist mit der Werkstatt, was mit den kostbaren Glasbarren? Und selbst wenn wir nur das Wichtigste mitnähmen. Wir wären trotzdem leichte Beute für all die Schufte, die da draußen lauern.« Chaim stockte und fügte mit gepresster Stimme hinzu. »Sie sagen, sie ziehen den Männern die Beingewänder herunter. Wir können unser Judensein nicht verbergen.«

Jehudith sah Chaim erschrocken an. Natürlich, er hatte bereits alles durchdacht. Daher nickte sie nur, als er sagte: »Der Rat war sich einig, dass wir hinter den Stadtmauern am sichersten sind.«

Eine Weile verharrten beide still. Jehudith setzte sich auf das Bett und nahm Chaims Hand. Endlich konnte er ihr in die Augen sehen. Jehudith fragte leise: »Und was ist die schlimme Nachricht?«

Chaims Gesicht verzerrte sich, als würde ein Schmerz in seinem Körper aufbrechen. Seine Hand war ganz feucht. »Rachels Mann wird vermisst.«

»Und was hast du damit zu tun?«

Chaim flüsterte: »Ich wusste es schon gestern.«

»Was?« Jehudith wollte die Hand ihres Mannes loslassen, besann sich aber rechtzeitig und sagte ruhig: »Du hast mir gestern Abend gar nichts davon erzählt.«

Chaims Mundwinkel verzogen sich, sodass es fast grotesk aussah. »Ich dachte, es wäre nicht so wichtig.«

»So?« Jehudith schaute ihren Mann fragend an.

»Schlimmer«, Chaim kniff die Augen zusammen. Tiefe Furchen durchzogen sein Gesicht, er schien um Jahre gealtert. »Ich habe es einfach vergessen und dem Parnas nichts gesagt«, presste er zwischen den Zähnen hervor.

»Wirklich?«

»Du kennst doch Rachel …« Chaim stöhnte.

»Was soll das heißen?«

»Na ja, sie macht immer so ein Gewese. Kannst du dich an die Sache mit Zacharias’ Bart erinnern?«

Jehudith musste unfreiwillig lächeln. »Das war dein erster großer Streit mit Mosche: Zacharias’ Kratzen gegen das Gebot des Propheten.«

»Ja, damals habe ich mich im Rat durchgesetzt.« Chaims Lippen wollten sich ebenfalls zu einem Lächeln formen, doch es geriet zur Grimasse.

»Es ging dir damals wohl weniger um Zacharias’ Jucken als darum, Mosche zu zeigen, dass du nicht mehr der brave Rabbi bist, der dem Älteren in allem zu folgen gewillt ist.« Jehudith atmete tief ein. »Manchmal denke ich, dass deine Wut auf Mosche dir ein wenig den Blick getrübt hat. Sicher, er ist sehr fest in seinen Ansichten. Störrisch und erstarrt hast du ihn oft genannt, aber hat er nicht auch dir gegenüber immer wieder sein großes Herz bewiesen? Wie oft hat er dich vor Kalonymos verteidigt, als du noch ein junger Rabbi warst und im Talmud weniger bewandert, als du es heute bist?«

Chaim nickte. »Zacharias ist vorgestern Abend nicht nach Hause gekommen. Rachel bat mich, dem Parnas davon zu berichten.«

Jehudith blickte Chaim ernst an und hielt dabei seine Hand fest gedrückt.

»Ich habe ihr Geld gegeben, damit sie sich und ihren Kindern etwas zu essen kaufen kann«, fuhr Chaim leise fort. »Ich dachte, Zacharias würde schon wieder auftauchen.«

»Das sind Ausflüchte.«

Chaim blickte nach unten auf Jehudiths Hände, die die seinen hielten. »Ja, das sind Ausflüchte.« Er atmete einige Male tief ein und sprach weiter: »Ich habe mich dann an den Psalm gemacht. Raimund sollte ja bald kommen und dieser Streber ist immer so perfekt vorbereitet. Da habe ich Zacharias schlicht und einfach vergessen.«

»Und deshalb hat der Parnas dich gescholten.«

Chaim nickte. »Ja, deshalb hat der Parnas mich gescholten.«

»Er war also im Recht.«

Chaim schwieg eine Zeit lang. Mit zittriger Stimme sagte er: »Du kannst dir vorstellen, wie Mosche gegen mich im Rat gewettert hat.«

»Arme Rachel«, sagte Jehudith. Die Lippen ihres Mannes kräuselten sich im Bewusstsein seines verhängnisvollen Versäumnisses.

»Dummer Chaim«, antwortete er leise.

Jehudith krabbelte auf das Bett, schmiegte sich an ihren Mann und legte den Arm um ihn. Nach langer Stille erwiderte er die Umarmung und sie schwiegen einträchtig.

Nach einer Weile fragte Jehudith: »Was wird nun geschehen?«

»Morgen früh wird ein Suchtrupp losgeschickt.«

»Warum nicht schon heute?«

»Wegen des Sabbats.«

»Mosche?«, fragte Jehudith.

»Ja, Mosche. Er argumentierte, dass wir gerade jetzt die Sabbatgebote penibel einhalten müssten.« Chaim schüttelte den Kopf. »Bei Lebensgefahr hätte man jedoch auch heute eine Suche rechtfertigen können. Aber ich hatte einfach keine Kraft mehr, dafür zu kämpfen.«

»Lass uns nicht das Schlimmste annehmen.«

Chaim schwieg.

»Gott wird uns beschützen. Das hat er doch immer getan«, sagte Jehudith leise, während sie über Chaims Kopf streichelte.

»Ich hoffe, du hast recht.«

Plötzlich hörten sie ein Poltern unten im Laden. Jemand kam die Treppe hochgerannt, die Tür wurde aufgerissen und David stürzte ins Zimmer. Ganz außer Atem rief er: »Sie stehen vor den Toren der Stadt! Die Soldaten mit den blutroten Kreuzen stehen vor den Toren der Stadt!«

Auf einer Wiese oberhalb von Vilzbach und Selenhofen

Die Dächer von Mainz duckten sich hinter der mächtigen Stadtmauer. Nur die Türme der Kirchen wagten es, sich in die Höhe zu strecken. Ihre Spitzen wirkten gebrochen durch die flirrend heiße Luft. Peter saß nur mit seiner Bruoch bekleidet vor einem Zelt. Im Schatten unter der an zwei Pfählen aufgespannten Eingangsplane beobachtete er die anderen Jungen, die versuchten, Steinchen in ein Loch zu werfen, das sie in den Boden gegraben hatten.

In der Nähe zweier Ortschaften hatten sie auf einer freien Wiese ihr Lager aufgeschlagen. Über ihnen thronte das Kloster auf dem Jakobsberg und das blaue Band des Rheins wand sich unter ihnen durch das Tal. Peter war mit zwei Handvoll anderer Jungen einem runden Zelt zugeordnet worden, das sie unter Anleitung eines mürrischen Alten hatten aufbauen müssen. Danach hatte der Alte Peter zwei rote Stofflappen, einen Faden und eine Nähnadel gegeben, damit er sich das Kreuz auf sein Hemd nähe. Er hatte sich zunächst abgemüht, den Faden durch die dünne Öse zu fädeln, und kämpfte anschließend damit, die dicke Nadel in den Stoff zu schieben. Mein Gott, das hatte bisher immer seine Mutter gemacht, fluchte er. Erst wollte er das heilige Zeichen am Ärmel befestigen, dann entschied er sich, obwohl die Stoffstücke sehr klein und schmal waren, das Kreuz stolz über dem Herzen zu tragen. Schließlich gelang es ihm mehr schlecht als recht. So schön wie bei den Rittern sah es wahrlich nicht aus, aber immerhin war er nun auch ein Soldat des Heeres für den Herrn im Himmel.

Peter probte einige Stöße mit seiner Forke, die er auch von dem mürrischen Alten bekommen hatte. Das wurde ihm irgendwann langweilig und er fühlte sich müde von dem langen Marsch. Er legte seine Waffe auf das zertretene Gras und betrachtete das Lager, das innerhalb weniger Stunden um ihn herum aus dem Boden gewachsen war.

Dicht an dicht standen die Zelte auf der zum Rhein hin leicht abfallenden Wiese. Es war ein wuseliges Treiben. Eine Frau briet einen Hasen, den sie gerade geschlachtet hatte, über einem Feuer. Das Fell des Tieres lag auf der Erde und ein Hund schnüffelte daran herum. Peter sollte eigentlich Hunger haben, aber der Geruch von Kot und Urin, der sich überall breitmachte, verdarb ihm den Appetit. Die Menschen erleichterten sich neben den Zelten, pöbelten herum oder schrien sich gegenseitig an. Es war eine fremde, schmutzige und laute Welt, die Peter sah. Er musste an seinen Lieblingsplatz am Bach unter der alten Linde denken, an dem er mit Lene häufig gerastet hatte, um seinen Blick über den großen Fluss, den Treidelpfad und die sanften Hügel schweifen zu lassen. War es richtig gewesen, das Elternhaus zu verlassen?

Ach was, dachte er. Seit zwei Wochen hatte es nun schon nicht mehr geregnet. Wenn diese Hitze weiterhin anhielt, hätte ihn dort ein weiterer Winter mit unruhigen Nächten und dem nagenden Hunger im Bauch erwartet. Der heilige Christophorus vermochte nichts auszurichten, trotz der flehentlichen Gebete, die das Landvolk an ihn richtete. Peter hatte nur Verachtung übrig für diese dummen Bauern. Sollten sie doch hungern. Spätestens im nächsten Frühjahr würde er auf den Mauern Jerusalems stehen. Was ging ihn das hiesige Landvolk überhaupt noch an?

Einige Ritter auf Pferden preschten heran und riefen: »Kommt zu dem alten Theater und nehmt eure Waffen mit!«

Erregung machte sich breit und erfasste auch Peter. Endlich ging es richtig los.

Das ungeordnete Hin und Her im Lager verwandelte sich in einen Menschenfluss, und selbst die Betrunkenen richteten sich auf von ihren Schlafstätten. Peter ließ sich mitziehen zu der großen Wiese, von der man eines der Tore der Stadt sehen konnte. Seine Forke nahm er mit.

Die Menschen strömten zu einer riesigen Steinansammlung auf halber Höhe des Hügels. In einem Halbkreis führten große Stufen hinunter, auf denen Menschen gespannt warteten. Ganz unten befand sich eine ebene Fläche, auf der ein Holzpodest aufgebaut war. Dahinter stieg eine Wand senkrecht empor, in die kleine Nischen zwischen zerborstenen Säulen eingearbeitet waren. Die Mauer musste einmal prächtig gewesen sein. Einzelne der Säulen trugen kleine Dächer, doch von den meisten sah man nur Stümpfe.

»Was ist das?«, fragte er eine dicke Frau in einem bunten Kleid, die neben ihm stand.

»Das war mal ein Theater«, antwortete die Dame, die gerade an ihren aufgetürmten Haaren herumfrickelte.

»Ein Theater?« Das Wort kannte Peter nicht.

Die Frau ließ ab von ihrer Frisur. »Dort spielt man Geschichten.«

»Geschichten spielen? So wie an Ostern, wenn der Heiland durch das Dorf getragen wird, bevor die Juden ihn ans Kreuz nageln?«

»Ja, aber die Geschichten wurden nicht in den Gassen, sondern dort unten gespielt, auf der Bühne. Von Schauspielern, die ihr Leben lang nichts anderes machten, als in solchen Theatern aufzutreten. Aber das ist viele Hundert Jahre her.«

»Es sieht irgendwie kaputt aus.«

Die Frau lachte über ihr breites Gesicht. »Es muss einmal ein stolzer Bau gewesen sein. Er stammt bestimmt aus den Tagen, als die Heiden aus Rom hier das Sagen hatten. Die Mainzer haben wohl viele der Steine zum Bau ihrer eigenen Häuser benutzt. Gaukler spielen hier immer noch ab und an.«

Die Dame ging weiter. Peter schaute über die Stadt hinter der Steinwand und setzte sich zu einer Gruppe Älterer auf den Rasen am oberen Rand des großen Halbkreises. Die großen Steintreppen, die nach unten führten, waren bereits dicht mit Menschen besetzt. Er legte die Forke neben sich. Von hier konnte er das Podest gut sehen, ohne diese Enge zwischen all den Leuten ertragen zu müssen.

»Was willste hier mit deiner Mistgabel, Kleiner. Haste schon ’nen Jud damit aufgespießt?«, frotzelte einer der Älteren. Der Mann nahm einen kräftigen Schluck Gerstensaft aus einem großen Holzbecher zu sich. Sein Mund, um den herum eine Menge Schaum in dem wilden Bart zurückblieb, verzog sich zu einem hässlichen Grinsen.

Peter drehte sich weg.

Eine Frau in einem blauen Kleid, deutlich jünger als seine Mutter, setzte sich neben ihn und begann, ihr drapiertes Kopftuch kunstvoll zu ordnen, sodass ihr Nacken vor der Sonne geschützt war.

»Na, mein Süßer, warm heute, nicht?« Sie lachte ihn an.

Dabei zog sie langsam ihren Rock hoch und entblößte ihre kräftigen Oberschenkel. Die Welle der Begierde, die durch seinen Körper rauschte, traf Peter völlig unerwartet. Er versuchte, gelassen zu bleiben, aber seine Augen wanderten immer wieder zu den zwei prallen Hügeln, die sich unter den Brustschnüren versteckten. Die eng gespannten Bänder schnitten kleine Wellen in die sonnenbraune Haut.

 

»Bin die Jutta. Willste ein bisschen Spaß haben?«

Peters Hals war staubtrocken, sein Brustkorb bewegte sich heftig auf und ab. Mit krächzender Stimme antwortete er: »Nee, keine Lust jetzt.«

Peter zwang sich, nach vorn zum Podest zu schauen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Sein Blick ging immer wieder zu den weißen Schenkeln, die von der Sonne gekitzelt werden wollten. Ganz besonders dorthin, wo diese zusammenliefen, vom Rock nur noch knapp bedeckt.

Juttas Grinsen offenbarte ihre großen weißen Zähne. »Für so einen hübschen Burschen wie dich, da mach ich’s für nur zwei Sachsenpfennige.«

Es gelang Peter, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen. »Vielleicht später.«

Nachsichtig schaute sie ihn an und sagte: »Hab ein rundes Zelt. Am Eingang hängen zwei Pfauenfedern. Kannst aber auch einfach nach der Jutta fragen. Man kennt mich hier.«

Im Aufstehen nahm sie Peters Hand und strich mit ihr ganz beiläufig über die Innenseiten ihrer Oberschenkel. »Na, dann pass mal weiter gut auf, dass dir keiner deine Forke klaut.«

Das Gefühl der warmen, fleischigen Fülle von Juttas Schoß brannte sich in Peters Finger ein, während er sie weggehen sah. Immer wieder schaute er auf das blaue Kleid, das sich langsam durch die Menge die Stufen hinunterbewegte.

Hübscher Bursche, hatte sie zu ihm gesagt.

Schließlich nahm Jutta inmitten einer Gruppe Männer Platz, ohne sich noch mal nach ihm umzuschauen.

Mainz – im Haus von Jehudiths Eltern

»Natürlich wird morgen geheiratet.« Jehudith war von ihrem Stuhl aufgestanden und schaute ihren Vater empört an. Dabei legte sie ihre Hand auf Sarahs Schultern, die neben ihr leise vor sich hin weinte.

Chaim war zu Hause geblieben. Die Nachricht über die bewaffneten Pilger vor den Toren hatte ihm einen solchen Schlag versetzt, dass Jehudith nichts anderes übrig geblieben war, als ihm den Sud für die schweren Tage aufzubrühen, wie sie es gegenüber ihrer Schwester nannte. Salomo hatte ihr für solche Fälle eine besondere Mixtur gegen Chaims Schwermut gegeben, aus deren Ingredienzen er jedoch ein großes Geheimnis machte. Heute hatte sie das Dreifache der von Salomo empfohlenen Menge verwendet und noch zwei Löffel getrockneten Baldrian und einen Löffel Lavendel untergemischt.

Aus langjähriger Erfahrung wusste Jehudith, dass dieser Aufguss, verbunden mit Schlaf, das Einzige war, was in solchen Fällen half. Chaim sollte sie jetzt nicht kirre machen mit allen möglichen Bedenken, die in solchen Phasen wie schwarze Wolken sein Gemüt verdunkelten. Keine halbe Stunde nachdem er den Sud getrunken hatte, war ihr Mann wie erwartet in einen tiefen und schweißtreibenden Schlaf gefallen.

Mit David hatte sie sich dann zunächst zur Synagoge aufgemacht, um der Rede des Parnas zuzuhören. Wie Chaim vorhergesagt hatte, forderte Kalonymos die Gemeinde auf, Ruhe zu bewahren und zu beten. Mosche ordnete strengstes Fasten nach dem Sabbat an.

Die Frauen, Alten und Kinder wurden schließlich gebeten, die Synagoge zu verlassen, nur die jüngeren Männer sollten bleiben. Es ging also um die Vorbereitung der Verteidigung. Dem Ewigen sei Dank waren erst die Sechzehnjährigen für den Waffendienst vorgesehen. Jehudith hatte eine Spur Enttäuschung in den Augen ihres ältesten Sohnes ausgemacht. Gesagt hatte er jedoch nichts. Und David mit einer Lanze oder einem Schwert, das wollte Jehudith sich auf keinen Fall vorstellen. So waren sie schweigend den kurzen Weg zu Jehudiths Elternhaus neben dem Lorscher Hof gegangen, wo Sarah und ihre Mutter den Tisch bereits gedeckt hatten. Die herrlichen Speisen waren jedoch kaum angerührt.

»Meinst du nicht, dass wir warten sollten, bis sich die Situation geklärt hat?«, gab ihr Vater zu bedenken. Er wirkte müde, sein buschiger Bart erschien Jehudith noch grauer als sonst. Er ist alt geworden, dachte sie, während er weitersprach. »Zudem würden wir gegen das Fastengebot verstoßen, das Mosche eingefordert hat. Die Gemeinde würde sicher Anstoß nehmen.«

»Und wegen Chaims Nachlässigkeit bezüglich Rachels Mann zerreißen sich einige der Unseren ohnehin die Mäuler über unsere Familie«, fügte ihre Mutter mit schneidender Stimme hinzu. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, trommelte sie mit ihren ringbesetzten Fingern auf dem Tisch, sodass Jehudith Sorge um die Glaskaraffe mit dem Wein hatte, die gefährlich nah neben der Hand ihrer Mutter stand.

Jehudith ignorierte die bissige Bemerkung. »Wir könnten auf Fisch und Fleisch bei Sarahs Hochzeit verzichten, das würde sicherlich als Zugeständnis gewertet.«

Ihre Mutter schaute zunächst zu Sarah und dann zu ihrem Mann, der die Arme vor der Brust verschränkt hielt.

»Was ist mit Chaim?«, fragte der. »Er soll die Trauung ja vollziehen.«

Jehudiths Mutter nutzte das kurze Zögern ihrer ältesten Tochter und warf ein: »Ich habe dich schon vor deiner Heirat vor seiner verfluchten Schwermut gewarnt. Aber du wolltest ja nicht auf mich hören.«

Mutter, Mutter, dachte Jehudith. Warum musst du immer so auf Chaim herumhacken? Ich habe ihn eben mehr gemocht als diesen prahlerischen Meir, den ihr für mich im Auge gehabt hattet. Ihre Eltern hatten Meir vor allem wegen seiner entfernten Verwandtschaft zu Kalonymos favorisiert.

Natürlich war Chaims gelegentlicher Trübsinn äußerst kraftraubend, aber dafür konnte er zuhören und hatte Fantasie. Und mit seinen Händen war er geschickt, das musste selbst ihre Mutter zugeben. Jehudith hatte keine Lust auf die alte Debatte und sagte nur kurz: »Ich werde meinen Mann bis morgen wieder auf die Beine bringen.«

Ihre Mutter gab ein Stöhnen von sich.

»Die Mauern von Mainz sind hoch und stark. Die Irren da draußen werden bald feststellen, dass sie nichts auszurichten vermögen.« Jehudith wurde es langsam zu viel. »Wir sollten wegen denen nicht auf Sarahs Hochzeit verzichten. Denkt an all die Vorbereitungen. Dorons reicher Onkel ist sogar aus Sevilla gekommen.«

»Was wird die Gemeinde denken?«, erwiderte ihr Vater. »Wir feiern fröhlich, während Mosche uns zur Buße aufgerufen hat.«

»Wir werden auf Fisch und Fleisch verzichten. Der Ochse und die Hühner sollen ja erst morgen früh geschlachtet werden, die lassen wir leben. Und die Fische können wir räuchern lassen, dann halten sie Monate.«

Ihre Eltern schauten sich fragend an. Fast hatte sie die beiden so weit, dachte Jehudith, es bedurfte nur noch eines letzten Arguments. »Denkt an all die Speisen, die schon im Keller der Synagoge lagern. Soll das etwa alles vergammeln? Was wird mit all dem Brot, den vielen Eiern, den zwölf Laiben Käse und den großen Töpfen mit dem Hummus? Bei der Hitze wird das doch im Nu schlecht. Was für eine Verschwendung wäre das!«

Auf das Wort Verschwendung reagierte ihr Vater wie ein Stier auf ein rotes Tuch, das wusste Jehudith zu gut. Sie sah, wie es in seinem Kopf arbeitete. Er biss sich auf die Zähne und zählte vermutlich gerade all die guten Dinge, die im Keller der Synagoge gelagert waren. Dann blickte er kurz zu seiner Frau, die zunächst den Kopf sinken ließ, aber schließlich zögerlich nickte.

Jehudith hatte gewonnen.

»Bist du sicher, dass dein Mann morgen wieder auf dem Damm ist?«, fragte ihr Vater säuerlich.

Das war Jehudith ganz und gar nicht. »Natürlich«, antwortete sie mit um Sicherheit bemühter Stimme, während Sarah neben ihr ihre Tränen unter einem zaghaften Lächeln trocknete.

»Ich werde auf dem Rückweg bei Dorons Familie vorbeigehen und berichten, dass alles bleibt, wie es geplant war.« Jehudith strich Sarah sanft über den Rücken und fügte hinzu: »Du wirst deinen Bräutigam morgen küssen dürfen.«

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