Читать книгу: «Treulos», страница 3
Es tut mir Leid, dass das erste Training so ungünstig abgelaufen ist.
Ungünstig eine nette Formulierung für ein auf ewig entstelltes Hirn. Der Trainer klopft mir aufmunternd auf die Schulter als er fort fährt.
Trotzdem würde ich mich freuen, wenn du wieder vorbeikommst, sobald die Wunde abgeheilt ist. Dein Köper hat durchaus Potenzial und der Mitgliedsbeitrag beläuft sich nur auf 49,00 monatlich.
Tim starrt den Mann ungläubig an. Ich bin nicht sicher, ob es die Kosten für das Fitnesstraining sind oder der Motivationsversuch seines Gegenübers, das ihn so aufbringt. Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst! Sie können froh sein, wenn wir Ihnen keine Millionenklage an den Hals hängen. Unglaublich! Das Gesicht meiner Frau ist zerstört! Plötzlich beginnt Klein-Philipp zu weinen. Dicke, kleine Krokodilstränen rinnen ihm über die runden Pausbacken. Mein Sohn sucht meinen mütterlichen Trost und streckt seine Ärmchen nach oben. Hoffentlich kommt Tim mir jetzt zur Hilfe, aber er ist zwischenzeitlich in eine Diskussion mit dem Studioinhaber über die Haftung der Sportanlage verwickelt und scheint vollkommen vergessen zu haben, dass er hier nicht im Auftrag seiner Kanzlei ist, sondern eigentlich um seine verletzte Frau in fürsorglichen Empfang zu nehmen. Also beuge ich mich zu meinem Sohn und versuche ihm zu erklären, dass sich alles um mich herum dreht und ich so starke Kopfschmerzen habe, dass ich ihn nicht auf den Arm nehmen kann. Leider muss ich schnell erkennen, dass es zu viel von Klein-Philipp verlangt ist, dass er Verständnis für meinen Zustand hat und er reagiert mit einem empörten Wutanfall. Tim scheint von alledem nichts mitzubekommen. Er studiert zwischenzeitlich ganz vertieft die Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Studios und stellt hier und da ein paar Zwischenfragen an den Inhaber. Ich sehe mich außerstande, meiner Familie klar zu machen, dass es mir doch um einiges lieber wäre, wenn die Platzwunde an meinem Kopf schon genäht wäre und ich nach Hause möchte und zwar sofort! Endlich kommt Marie von der Toilette zurück. Meine Tochter hat den Spleen, dass sie überall auf die Toilette muss, sobald wir nicht zuhause sind und ich habe sie manchmal schon fast im Verdacht, dass sie es sich zum Ziel gesetzt hat, alle WCs der Welt zu erobern. Marie ist mein Rettungsanker. Sie bekommt von mir den Auftrag, die restlichen Patschkes zum Aufbruch zu bewegen. Ohne Umschweife stellt sie sich vor Tim auf und stemmt die Arme in die Hüfte.
Papa, wir müssen Mama jetzt häkeln! Komm!
Mein Mann packt das Papier in seine Jackentasche, greift die Tasche und zieht mich an der Hand hinter sich her.
Marie, bring Philipp mit!
Hinter uns kreischt und schreit es wie verrückt, aber ich werte das als Zeichen, dass meine Kinder noch in unserer unmittelbaren Nähe sind. Endlich sind wir am Auto angelangt und ich lasse mich erschöpft auf den Beifahrersitz fallen. Meine Augenlider werden immer schwerer und ich warte darauf, dass endlich das beruhigende Motorengeräusch ertönt und ich mich ein bisschen ausruhen kann. Plötzlich reißt Tim die Beifahrertüre auf und ich fahre erschrocken hoch.
Was ist denn?
Beug dich nach vorne! Ich muss ein Handtuch über die Sitze legen, sonst versaust du auch noch das ganze Auto mit Blut!
Muss ich mich jetzt bei dir für meine Verletzung entschuldigen? Wenn du so weiter machst, dann bleibe ich doch gleich im Krankenhaus. Wenn mir die Krankenkasse schon keine Kur genehmigt und du zu geizig bist, mir ein Wellnesswochenende zu spendieren, dann muss ich mir eben einen kurzen Erholungsurlaub von dir im Städtischen Klinikum gönnen!
Tim schafft es wirklich, mich stets und ständig auf die Palme zu bringen. So sehr ich diesen Mann auch liebe, trotzdem kenne ich keinen anderen Menschen auf Gottes Erdboden, der es schafft mir dermaßen auf die Nerven zu fallen wie er. Schweigend setzt er sich neben mich und setzt ein beleidigtes Gesicht auf. Aber ehrlich gesagt, mach ich mir im Moment nicht allzu viel daraus. Der Verkehr an diesem Samstag ist wirklich gewaltig und so fahren wir eine gute halbe Stunde ehe wir endlich vor dem hässlichen Betonklotz des Klinikums zum Stehen kommen.
Sie sind also Herr Patschke?
Dr. Steffens, der Chefarzt der Notaufnahme, blickt fragend über den Rand seiner silbernen Nickelbrille. Eigentlich halte ich die Frage für mehr als überflüssig, schließlich sind außer Arzt und Patient nur meine Kinder und Tim im Raum. Mein Mann nickt eifrig.
Es ist so: Ihre Frau hat eine massive Gehirnerschütterung sowie zwei Platzwunden im Stirnbereich erlitten. Eigentlich müssten wir sie zur Beobachtung einige Tage hier behalten
Dr. Steffen spricht von mir, als wäre ich nicht im Raum anwesend oder hätte bei dem Unfall meine Zurechnungsfähigkeit verloren. Zumindest würdigt er mich keines Blickes während er Tim seine Diagnose offenbart. Der Arzt blättert kurz in meiner Patientenakte und kratzt sich an seinem kahlen Hinterkopf. Dann räuspert er sich und wendet sich wieder an Tim.
Wenn Sie mir garantieren, dass Ihre Frau die nächsten zwei Tage absolute Bettruhe hält, dann dürfen Sie sie auch mit nach Hause nehmen. Aber spätestens morgen früh sollte doch der Hausarzt nach ihr sehen.
Tim wirkt erleichtert.
Ja, ich werde mich darum kümmern. Leider muss ich ab Montag wieder arbeiten, aber dann muss sich eben meine Mutter um die Kleinen kümmern.
Fragt mich eigentlich auch mal irgendjemand was ich überhaupt möchte? Die Vorstellung meine Schwiegermutter im Haus zu haben, missfällt mir abgrundtief und ich überlege ernsthaft, ob es nicht doch besser wäre, den Luxus der Vollpension im Klinikum zu genießen. Zumindest wäre das immerhin auch einmal eine zwar etwas andere Form eines All-Inclusive-Urlaubs. Obwohl ich zugeben muss, dass die Palmen gesäumten Hotelanlagen am feinkörnigen Sandstrand, die ich in den Reiseprospekten alljährlich bewundere, doch eher meinen Geschmack treffen würden, als der Betonklotz, in dem ich eben eingecheckt habe. Dr. Steffens scheint sich keinen Deut für die Belange seiner Patienten zu interessieren, zumindest ist er gerade dabei, meine Entlassungspapiere fertig zu stellen und meinem Mann haarklein den Umgang mit einem Pflegefall zu erläutern.
Achten Sie bitte darauf, Herr Patschke, dass Ihre Frau sich wirklich strengstens an die absolute Bettruhe hält. Das setzt natürlich voraus, dass Sie den Haushalt und vor allem die beiden er deutet abwertend auf meine Sprösslinge im Griff haben. Vielleicht sollten Sie sich schon für dieses Wochenende Verstärkung ins Haus holen.
Tim nickt und man sieht ihm deutlich an, dass er nur zu gerne die Verantwortung für den häuslichen Ballast an seine Mutter abgibt auf ärztliches Anraten versteht sich.
Ich danke Ihnen, Dr. Steffens. Ich werde Ihrem Rat folgen und sofort unseren Hausarzt anrufen und Hilfe verständigen.
Strahlend nimmt er die Papiere in Empfang und hievt mich unsanft von der Liege.
Komm jetzt, Ina. Lass uns fahren! Kinder, wir gehen! Unsicher wanke ich den langen hell erleuchteten Krankenhausgang entlang. Der stechende Desinfektionsgeruch, der in der Luft liegt, sorgt prompt für eine neue Schwindelattacke. Hilflos hake ich mich bei Tim unter und bin sehr froh, als ich endlich durch die elektrischen Schiebetüren das Krankenhaus verlassen kann. Mein Mann parkt mich auf der nächsten Parkbank mit der knappen Anweisung Ich hole schnell das Auto bleib du mit den Kindern kurz hier! ab. Ehe ich darauf antworten kann, ist Tim schon verschwunden. Marie und Philipp bleiben zunächst ungewohnt artig neben mir auf der Parkbank sitzen und wir betrachten gemeinsam, den hübschen Brunnen, der den Hof des Klinikums schmückt. Aus silbernen, unterschiedlich großen Edelmetallrohren sprudeln abwechselnd muntere Wasserfontänen hervor, die mit leisem Plätschern in das Brunnenbecken zurück fließen. Natürlich ist es nur eine Frage der Zeit, ehe meine Kinder dem Reiz des Wasserspiels unterliegen und sich ungeachtet meiner mahnenden Worte immer näher an den Brunnen heranwagen. Marie, meine Große, ist immerhin schon im Besitz des Seepferdchens und mehr, als dass sie nass werden könnte, würde ihr definitiv nicht passieren können. Bei Philipp sieht das Ganze schon anders aus. Er liebt Wasser über alles und überschätzt sich nur allzu gerne. Ich glaube, sein kleines Hirn, kann den Umstand noch nicht verarbeiten, dass er den Auftrieb, beim sonntäglichen Schwimmbadbesuch nur seinen knallorangen Schwimmflügeln zu verdanken hat. Eine andere Möglichkeit wäre natürlich auch, dass ihm sein Vater das allgemein verbreitete männliche Selbstüberschätzungs-Gen vererbt hat. Klein-Philipp steht am Rand des Brunnenbeckens und beobachtet das plätschernde Wasserspiel noch sehr zurückhaltend. Wäre ich bei normaler körperlicher Konstitution würde ich neben ihm stehen und schützend sein kleines Händchen fest und sicher halten. Aber bei meinen Schwindelattacken, die mich plagen, wage ich mich nicht allzu nah an das Wasser heran, zu groß wäre die Gefahr, dass ich selbst im Brunnen lande. Wann kommt Tim denn endlich wieder? Man könnte fast meinen, er habe sein Auto am Park and Ride Platz am anderen Ende der Stadt geparkt. Zumindest kommt es mir so vor, als wäre er mindestens schon eine Stunde oder noch länger weg. Mein Sohn wird mutiger und klettert auf die Brüstung des Brunnens.
Marie, kannst du bitte auf deinen Bruder aufpassen??!!! Gleich liegt er im Wasser!
Marie macht natürlich das, was sie am Allerbesten kann schlecht hören - und unterstreicht ihre Unlust, als Babysitter missbraucht zu werden mit lautem Gesang. Mir bleibt also nichts anderes übrig als mit zittrigen Knien zu meinem Sprössling zu wanken. Sanft versuche ich ihn zur Vernunft zu bringen.
Philipp, schau mal, das Wasser ist furchtbar tief und du kannst einfach noch nicht schwimmen.
Die runden Gesichtszüge meines Sohnes verfinstern sich. Er holt tief Luft, fängt an zu brüllen und inszeniert einen Tobsuchtsanfall, als wäre er gerade aus der psychiatrischen Anstalt, die auch einen großen Flügel im Krankenhaus belegt, ausgebrochen. Seine Gezeter dröhnt in meinem Kopf. Philipp, bitte!
KANNST DU NICHT AUF IHN AUFPASSEN? ER LANDET DOCH GLEICH IM WASSER!
Tim nähert sich von hinten wie eine Furie und packt Klein-Philipp gerade noch rechtzeitig am Kragen. Erbost wendet er sich an die unverantwortliche Kindsmutter und stellt mich gleich an Ort und Stelle für mein Fehlverhalten zur Rede. Ina, warum lässt du den Jungen so nahe ans Wasser? Er hätte ertrinken können, weil du nicht auf ihn aufpasst!
So richtig kann ich nicht glauben, was ich da gerade höre und frage mich einmal wieder, warum ich mir ein solches Scheusal von Mann ausgesucht habe und nicht doch den netten Bäckerjungen von nebenan mit den abstehenden Ohren geheiratet habe. Unwillkürlich seufze ich tief. Tims Anschuldigungen und Vorwürfe sind so ungeheuerlich, da fällt meinem lädierten Gehirn nicht wirklich eine passende Antwort ein. Wortlos lasse ich Mann und Kinder stehen und wanke zu unserem Auto, das Tim auf dem Taxistreifen vor dem Haupteingang abgestellt hat, und setze mich vorsichtig auf den Beifahrersitz. Die Ruhe im Wageninneren ist absolut traumhaft, aber leider nicht von langer Dauer. Mein Mann stellt sich bei dem Versuch die Kinder in ihren Sitzen anzugurten an, als wäre er der letzte Mensch. Zugegebenermaßen verursacht es auch einer visierten und alltagserprobten Mutter wie mir Schweißausbrüche, bis ich den zappelnden und um sich tretenden Philipp fest in seinen Sitz geschnallt habe, aber so dämlich kann sich wirklich nur ein Mann anstellen. Mit Engelszungen spricht er auf unseren Sprössling ein.
Schau Philipp, wir müssen dich doch anschnallen. Stell dir vor, wir haben einen Unfall oder Papa muss stark bremsen, dann fliegst du durch die Windschutzscheibe nach draußen und landest irgendwo im Straßengraben.
Marie war auch flogen. Will er auch!
Klein-Philipp versteht natürlich nicht, was Tim ihm damit sagen will. Die Aussicht auf einen Flug jetzt, hier und heute findet er sehr reizvoll und wehrt sich weiterhin mit Leibeskräften gegen die unbeholfenen Bemühungen meines Mannes. In Tim brodelt es und ich weiß genau, dass es nicht mehr allzu lange dauert, ehe ihm die Nerven reißen. Und tatsächlich wendet er sich nach kaum einer weiteren Minute aussichtslosem Kampf mit unserem Spross entnervt an mich. Könntest du vielleicht so nett sein und mir helfen?
Seine Tonlage ist alles andere als freundlich. Seufzend erhebe ich mich und trete neben die Beifahrertüre. Sind eigentlich alle Männer derart unselbstständig und können gar nichts, aber auch gar nichts ohne weibliche Hilfe? Ich schließe mit mir ein Abkommen. Diese Frage muss ich klären. Unbedingt! Selbstverständlich benötige ich dazu einige Anschauungsobjekte, die ich mir irgendwie im Laufe der nächsten Woche besorgen muss. Philipp tobt immer noch in seinem Autositz, während ich mir grundlegende Gedanken mache. Mit meiner geballten mütterlichen Autorität werfe ich ihm einen strengen Blick zu.
Philipp, lass es sofort sein!
Ich bin selbst ziemlich verwundert darüber, dass sich mein Sohn so widerstandslos meinen Anweisungen beugt, und sich ohne weiteres Gezeter anschnallen lässt. Triumphierend wende ich mich an meinen Mann. Einen hochnäsigen Kommentar kann ich nicht herunterschlucken.
Siehst du, so macht man das! Evtl. solltest du lieber deine Kinder etwas mehr studieren und nicht deine Akten!
Angesäuert steigt Tim ein und verleiht seinen unterschwelligen Aggressionen damit Ausdruck, dass er mit Vollgas und durchdrehenden Reifen vom Taxistand fährt. Beinahe wären ihm zwei alte Damen mit Gehwagen zum Opfer gefallen, die langsam vor uns über die Straße humpeln. Auf der Fahrt nach Hause liegt ein eisiges Schweigen in der Luft, sodass es sogar unseren Kindern auffällt, dass wir ziemlich genervt voneinander sind.
Als wir nach einer knappen halben Stunden in den Hof unseres Einfamilienhauses einrollen, stockt mir der Atem. Vor der Haustüre erwartet uns bereits meine Schwiegermutter auf einem Koffer sitzend, der so groß ist, als wolle sie für immer bei uns einziehen. Warum zum Teufel ist sie hier? Hat Tim nicht verstanden, dass ich mich besser von meiner mittelschweren Gehirnerschütterung erholen kann, wenn sie nicht ständig um mich herumschwirrt? Ihre permanenten Verbesserungsvorschläge was Haushaltsführung und Kindererziehung angeht, kann ich schon ohne Kopfschmerzen nicht länger als zwei Stunden ertragen. Vielleicht ist jetzt der Moment gekommen, in dem ich den Krankenwagen rufen und mich direkt auf Dr. Steffens Station einliefern lassen sollte. Stattdessen mache ich jedoch gute Mine zum bösen Spiel und lächele meiner Schwiegermutter tapfer entgegen.
Wie schön, dass du da bist!
Ich wundere mich über mich selbst, wie gekonnt ich ihr meine Freude über ihren Aufenthalt vorspiele. Endlich schließt Tim die Haustüre auf und trägt schwer atmend den Koffer seiner Mutter über die Schwelle.
Wie viel Gepäck hast du denn dabei? Für die paar Tage
Josephine Patschke drückt ihren Sohn fest an sich.
Ich dachte, wenn ich schon mal hier bin, dann bleibe ich zwei Wochen. Wir sehen uns ohnehin so selten und Ina braucht bestimmt Hilfe, so wie es hier immer aussieht!
Darauf habe ich gewartet, obwohl der heutige Hinweis auf meine Unbrauchbarkeit als Hausfrau schon vor der ersten Tasse Kaffee überraschend schnell kam. Tim lächelt gequält und ich sehe ihm auf den ersten Blick an, dass er sich im Geiste alle möglichen Termine auf die kommenden Wochen legen wird, nur um den Besuch seiner Mutter für ihn so angenehm wie möglich zu gestalten.
Wie schön, Mama!
Ich beschließe, meine Familie in der Obhut von Josephine Patschke zu lassen und mache mich wortlos auf den Weg ins Schlafzimmer. Diese Ruhe hier ist wirklich himmlisch. Kein maulender Mann, keine nervende Schwiegermutter und keine knatschenden Kinder weit und breit. Schnell ziehe ich mir meinen gemütlichsten, aber leider auch hässlichsten, Bärchenpyjama über und kuschele mich in die Federn. Es tut so gut, den schmerzenden Kopf endlich auf dem weichen Kopfkissen abzulegen und ein bisschen zu schlummern. Ich weiß nicht, wie lang ich geschlafen habe, als ich plötzlich Josephine wie einen Geist vor meinem Bett auf und ab laufen sehe.
Ina! Ina!
Ich stelle mich schlafend und gebe einen überzeugenden Schnarcher von mir in der Hoffnung, meine Schwiegermutter dazu zu bewegen, mich endlich in Frieden zu lassen. Leider habe ich die Rechnung ohne Josephine Patschke gemacht. Ihre Stimme wird immer lauter und ich höre, wie sie sich laut lärmenden am Rollladen zu schaffen macht.
INA!! Hör mir doch bitte kurz zu!
Es hilft alles nichts. Stöhnend schlage ich meine Augen auf. Meine Schwiegermutter hat um ihre drallen Hüften bereits eine altmodische Küchenschürze gebunden. Ein Geschirrtuch liegt über ihrer Schulter. Sie setzt sich auf den Bettrand, holt tief Luft und legt los.
Ich weiß, dass du krank bist. Trotzdem müssen wir jetzt ein paar organisatorische Dinge klären. Es geht hier ja drunter und drüber und du kannst nicht von mir verlangen, dass ich die nächsten Tage in einem derart unstrukturierten Haushalt tätig bin
Genervt falle ich der selbst erkorenen Putzfee Josephine Patschke ins Wort.
Das hat keiner von dir verlangt! Lass die Hausarbeit sein, das mache ich ohnehin lieber selber, und kümmere dich um deine Enkelkinder! Das genügt vollkommen!
Pikiert erhebt sie sich und wendet sich zum Gehen ab. Die erste Schlacht habe ich erfolgreich geschlagen! 1:0 für Ina Patschke. Ich gratuliere mir selbst zu diesem Ergebnis, zu oft bin ich die Unterlegene in unseren verbalen Schlachtgesprächen. Leider fällt ihr dann doch noch etwas ein.
Du machst es eben nicht und ich kann mich in einer derart ungepflegten Umgebung unmöglich wohl fühlen. Deswegen lasse ich es mir nicht nehmen, das Haus meines Sohnes ein wenig auf Vordermann zu bringen. Da kann mich auch meine Schwiegertochter nicht davon abbringen.
Ich fühle mich heute wirklich zu matt, um mich mit Josephine auf einen handfesten Streit einzulassen, aber so wahr ich Ina Patschke heiße dieser Kommentar wird nicht ungestraft bleiben. 1: 1! Endlich fällt die Tür hinter ihr ins Schloss und ich bin wieder alleine. Wie angenehm das doch manchmal sein kann. Ich schüttele mein Daunenfederkissen wieder etwas auf und drehe mich seufzend auf meine Einschlafseite. Die Kopfschmerzen werden langsam besser. Leider wehrt die Ruhe nicht allzu lange.
MAMA! Die Oma sagt, ich darf keinen Sandmann sehen! Marie steht heulend und kreischend vor meinem Bett. Zunächst beruhige ich mein Kind und gehe dann ganz pädagogisch, vier Jahre Eltern-Abonnement zeigen gelegentlich ihre Wirkung auf das eigentliche Problem ein. Warum darfst du keinen Sandmann sehen?
Die schmalen Lippen meiner Tochter zittern vor Aufregung und es dauert sehr lange, bis sie mir antwortet.
Weil, das ist nicht gut wegen den runden Augen
! OHNE MEINEN SANDMANN SCHLAFE ICH NICHT!
Um ihrer Forderung Ausdruck zu verleihen, hüpft sie wie das Rumpelstilzchen in unserem Schlafzimmer herum. So zornig habe ich sie nicht mehr gesehen, seit ich ihr verboten habe, bei Schneesturm und Minusgraden im Bikini die Vorschulgruppe ihres Kindergartens zu besuchen. Aber diesmal ist es etwas anderes und ich muss mich sofort mit meiner Tochter gegen die Schwiegermutter verbünden. Marie, Oma hat sicher gesagt, davon bekommt man viereckige Augen. Siehst du viereckig ist so wie das Kissen da. Mit eins, zwei, drei, vier Ecken dran!
Marie interessiert sich keinen Deut für meine lehrreichen Versuche, ihr die Unterschiede der geometrischen Formen zu erklären. Ihr geht es nur um den Sandmann. Jetzt ist Tim an der Reihe.
TIM!!
Lauthals schreie ich nach meinem Göttergatten. Tatsächlich kommt er für seine Begriffe relativ schnell. Ich sehe ihm sofort an, dass er reichlich genervt ist, aber, wenn er auf mein Mitleid hofft, kann er lange warten, schließlich war die glorreiche Idee von ihm, seine Mutter ins Haus zu holen. Musst du so laut brüllen? Ich bin doch nicht taub!
Er nicht aber ich schon fast. Kein Wunder bei dem Geräuschpegel, den meine Tochter schon seit beinahe fünf Minuten fabriziert. Ich hebe meine Hand und deute schwach auf das kleine Wutbündel am Boden. Tim scheint nicht zu verstehen. Entgeistert schaut er abwechselnd zwischen unserem Kind und mir hin und her.
Was ist denn jetzt? Was brauchst du?
Ich kann es nicht fassen ich liege hier mit einer mittelschweren Gehirnerschütterung und stechenden Kopfschmerzen. Warum versteht mein Mann einfach nicht, dass er gerufen wurde, um das wütende Kind aus meinem Krankenzimmer zu entfernen und endlich dafür zu sorgen, dass Ruhe herrscht? Für mich ist es mal wieder das beste Beispiel dafür, dass Männer und Frauen einfach anders ticken. Die Wellenlänge stimmt absolut nicht. Ich habe manchmal beinahe das Gefühl, dass der kommunikative Abgrund, der uns beide trennt, von Jahr zu Jahr eine immer tiefer werdende Schlucht in unsere Herzen reißt. In meines zumindest. Es soll ja auch Paare geben, die sich irgendwann blind verstehen ein Blick genügt. Wenn ich da zum Beispiel an meine stinklangweilige Cousine Heidemarie denken, die seit mehreren Jahrzehnten glücklich mit dem bärtigen, ebenso faden Heinz verheiratet ist. Er wirft ihr nach seinem stressigen Beamtenalltag einen auffordernden Blick zu und sie weiß sofort, dass es jetzt schnell an der Zeit ist, ihm sein Abendessen in mundgerecht geschnittenen Häppchen vorzusetzen, wenn sie den Abend nicht mit einer nervenaufreibenden Diskussion über ihre hausfraulichen Qualitäten verbringen möchte. Ich beschließe es mit einem strengen Blick unter meiner Bettdecke heraus zu versuchen. Leider ohne Erfolg!
Was ist denn jetzt? Ich geh jetzt gleich wieder, einer muss sich ja darum kümmern, dass dieser ganze Luxus hier finanziert wird!
Es wird hier nicht ohne eine klare Anweisung gehen, das muss ich jetzt einsehen. Mit Blicken und Gedanken lesen, das funktioniert bei einem solch unsensiblen Mann wie Tim offenbar nicht.
Geh mit Marie runter und sorge dafür, dass sie ihren Sandmann gucken darf!
Er wirft einen so unbeteiligten Blick wie nur irgendwie möglich auf unsere tobende Tochter und zuckt gelangweilt mit den Schultern.
Das muss doch jetzt nicht sein. Oma ist doch da. Überhaupt kennst du meine Meinung zu dem übermäßigem Fernsehkonsum unserer Tochter.
Was heißt hier übermäßiger Fernsehkonsum? Die Kinder dürfen jeden Tag exakt zehn Minuten schauen und das ist der Sandmann. Aber was weißt du eigentlich von deinen Kindern und ihren Abendritualen? Gar nichts! Dann wird es jetzt Zeit, dass du anfängst, dich damit auseinanderzusetzen. Ach, und noch was: Falls du dich nicht mehr an Dr. Steffens Worte erinnerst: ICH BRAUCHE RUHE!!!
Das hat gesessen. Tim wirft mir noch einen letzten beleidigten Blick zu, trollt sich mit Marie im Schlepptau und wirft die Türe hinter sich ins Schloss.
Mitten in der Nacht wache ich schweißgebadet und durstig auf. Die Wasserflasche auf dem Nachttisch ist mal wieder bis auf einen lächerlichen Anstandstropfen geleert. Die roten Digitalzahlen auf dem Display unseres 80er Jahre Radioweckers zeigen 0.23 Uhr. Müde taste ich nach meinem Mann. Der Platz neben mir ist leer. Gähnend rapple ich mich auf und tappe mit der Wasserflasche unterm Arm die Treppe nach unten. Wohnzimmer und Küche liegen im Dunkeln. Keine Spur von meiner Schwiegermutter oder Tim. Die Mischung aus gespenstischer Ruhe und mystischer Dunkelheit schwebt über unserem eigentlich sehr gemütlichen Wohnbereich. Ich schleiche auf leisen Sohlen in die Küche, befülle im Halbdunklen meine mit Kalkflecken gezierte, seit etwa vier Wochen im Gebrauch befindliche, und schon ziemlich schmuddelige PVC-Flasche mit enorm hohem Pfandwert und mache mich auf den Rückweg. Auf dem Weg in das warme kuschelige Wasserbett wage ich einen Abstecher vorbei an unserem kleinen, putzkammernähnlichen Gästezimmer und presse vorsichtig mein Ohr an die Türe. Schließlich weiß seit unserem letzten Schwarzwald-Urlaub keiner besser als ich, dass Josephine Patschkes grunzende Schnarchgeräusche einen 100%igen Reisepreiserstattungsanspruch in der Tourismusbrache rechtfertigen würde und eine Baustelle vor dem Hotelzimmer dagegen der absolute Traum ist. Letzten Sommer wurde mir die zweifelhafte Ehre zuteil, mit ihr das Ehebett zu teilen. Der federnde Lattenrost und die harte Matratze des Zusatzbettes waren Gift für ihren Ischias und so kam es, dass neben den flutartigen Regenfällen auch noch Josephines Anwesenheit dafür sorgte, dass nicht nur die Ferien ins Wasser fielen, sondern auch meine Nerven nach fünf Tagen am Ende waren. Doch eigenartig aus dem Gästezimmer war überhaupt nichts zu hören und ich hielt es einfach für unmöglich, dass sich meine Schwiegermutter dahinter in den Federn wälzte. Um meine Vermutung gesichert zu wissen, riss ich die Türe mit Schwung auf. Verwundert und ebenso ruckartig setzt sich Josephine Patschke auf und starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. In ihrem blütenweißen Nachthemd, dem zerzausten Haar und dem verschlafenem Gesichtsausdruck sieht sie aus wie das kleine Nachtgespenst persönlich. Verschlafen reibt sie sich die Augen.
Ina, was brauchst du? Ich helfe dir sofort!
Meine Schwiegermutter rappelt sich hoch, greift nach meinem Arm und stützt mich, ohne meine Antwort überhaupt abzuwarten. Ich bekomme ein ungefähres Gefühl dafür wie es sein wird, wenn ich einmal die 70er-Marke überschritten habe, alt und gebrechlich bin, und auf die Hilfe der Sozialstation angewiesen bin.
So, jetzt gehen wir langsam nach oben und legen dich wieder hin. Du musst jetzt schlafen.
Ich entreiße mich aus Josephines Klammergriff.
Jetzt ist aber Schluss mit diesem Unsinn! Eigentlich interessiert mich nur, wo Tim abgeblieben ist. Vielleicht hast du darauf eine Antwort?
Voller Erwartung mustere ich mein Gegenüber mit eisernem Blick und stelle fest, dass Josephine ziemlich nervös auf meine Frage reagiert und beginnt verlegen an ihren Haaren herumzufingern.
Na ja, ich habe ihm ein bisschen Freiheit verordnet. Schließlich hat mein Bubi doch auch Wochenende, oder? Meine Schwiegermutter bemüht sich darum, einen möglichst unschuldigen Gesichtsausdruck aufzusetzen.
Was soll das heißen: Freiheit verordnet? Josephine, ich möchte augenblicklich wissen wo MEIN Mann ist und zwar klipp und klar!
Wie immer, wenn meine Schwiegermutter Angst hat, in einen größeren Konflikt zu geraten, so versucht sie auch heute, heimlich still und leise die Flucht anzutreten. Ganz langsam tritt sie mit kleinen Schritten den Rückzug ins Gästezimmer an und kommt ganz genau bis zum Türrahmen, ehe ich ihr wild entschlossen mein Bein in den Weg stelle. Ich halte sie an den Schultern fest und bemühe mich, meiner Stimme einen autoritären Klang zu verleihen. So einfach kommt sie mir nicht davon.
Ich möchte eine Antwort! Wo ist er?
Peinlich berührt kratzt sich meine Schwiegermutter am Hinterkopf, als sie stotternd beginnt, mir Erklärungsversuche zu unterbreiten.
Äh, versteh mich nicht falsch. Aber ich finde schon, dass Tim auch mal ein bisschen rauskommen sollte aus dem Hamsterrad. Deswegen habe ich ihm gesagt, er kann ruhig mit Mark ein Bier trinken gehen und ich halte hier die Stellung.
Schweigend gebe ich ihr den Weg frei und gehe die Treppen nach oben ins Schlafzimmer. Josephine legt offenbar ihre Rolle, die sie in unserer Familie einnimmt, vollkommen falsch aus. Sie ist wahrscheinlich eher gekommen um für die Freiheitsrechte ihres armen, von mir unterdrückten Sohnes zu kämpfen, als mir eine Entlastung zu sein. Mein Magen krampft sich vor Wut zusammen. Die Art und Weise, wie sie mir Tims Feierabendschoppen verkauft hat, ärgert mich zutiefst. Vermittelt mein Mann seiner Mutter wirklich den Eindruck, als habe er es dringend nötig, dass man ihm Freiheit verordnet und er raus aus dem Hamsterrad, das sich Familie nennt, muss? Bestimmt hat er sich theatralisch mit phantasievollen Ausschweifungen bei ihr beklagt, anders würde sie nicht auf solche eigenartigen Ideen kommen. Ich wälze mich eine ganze Zeit lang ruhelos hin und her und lausche, ob ein Motorengeräusch von der Straße an mein Ohr dringt oder ein Schlüssel im Schloss gedreht wird, aber nichts dergleichen passiert. Irgendwann falle ich dann endlich in einen leichten, ruhelosen Schlaf. Im Traum erscheint mir dann die Freiheitskämpferin Josephine bewaffnet mit einem riesigen Schwert und fordert unter Einsatz ihres Kampfwerkzeugs die Freilassung ihres Sohnes.
Mami, habe ganz groß Hunger! MAMI!!
Schlaftrunken öffne ich vorsichtig die Augenlider, um zu orten, aus welcher Richtung der unangenehme Geräuschpegel eigentlich kommt. Klein-Philipp steht direkt neben dem Kopfteil unseres Bettes und brüllt mir seine Bedürfnisse lautstark ins Ohr.
Psst, mein Schatz. Papa schläft noch!
Ich schwinge routiniert die Beine aus dem Bett, als es mir wie kleine, gefährliche Donnerblitze in den Kopf schießt. Vorsichtig bette ich mich wieder und versuche, meinen Sohn an Vater oder Großmutter zu verweisen. Richtig einsichtig scheint mir Klein-Philipp trotz meiner blumigen Erklärungsversuche nicht zu sein. Das kleine runde Gesicht unseres Sprösslings verzieht sich augenblicklich und ich ahne sofort, was jetzt kommen wird. Eins, zwei, drei, vi
MAMA! AHHH!
Tim grunzt noch friedlich neben mir. Ich ahne, dass eine gewisse Parallele zwischen seinem tiefen Schlaf und den ekelhaften Ausdunstungen mit den Ausmaßen einer mittelgroßen Bierfabrik besteht. Ich beschließe sofort, die Probe aufs Exempel zu machen und setze den tobenden Philipp beherzt auf den Rücken meines Mannes. Klein-Philipp geht sofort zum Direktangriff über und boxt Tim mit seinen kleinen Fäusten energisch in die Rippen. Nicht ohne Wirkung! Tim fährt erschrocken hoch.
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