Читать книгу: «Skandal um Zille», страница 6
»Ick fange bei Winckelmann & Söhne an. Professor Hosemann kennt Herrn Winckelmann von seina Zeit in Düsseldorf und hat ma vamittelt.«
»Jott sei Dank!« Fritz Hecht atmet erleichtert auf.
»Ick sare Ihnen ooch herzlichen Dank für allet, wat Sie mir beijebracht ham.«
Fritz Hecht strahlt erst, dann grinst er. »Noch wat, Zille: Wir sind zwar keene Buchdrucker, aba wir drucken ooch, deshalb ham wa uns bei die richtijen Drucka ’n schönen Brauch abjekuckt, det Gautschen.«
Hecht hebt die Hand, und auf dieses Zeichen hin stürzen die Gesellen herbei, packen Heinrich Zille, schleppen ihn auf den Hof und setzen ihn in einen mit Wasser gefüllten Bottich.
»Nu biste ’n waschechter Lithograph. Jottes Segen uff all deinen weiteren Wegen!«

Der Rummelsburger See mit Blick auf die Stralauer Kirche
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1877 — Werkstatt von Winckelmann & Söhne, Spittelmarkt Nr. 14
Das Unternehmen Winckelmann & Söhne ist ein Verlag und eine Druckerei. Heinrich Zille entwirft gerade ein sogenanntes Papiertheater aus mehreren Theater-Ausschneidebögen sowie Figuren und Kulissen. Diese Arbeit ist ihm fremd, und er hat sichtbar Mühe, den Auftrag zu erledigen.
Der Verlagsinhaber kommt vorbei, an seiner Seite ein Händler, dem er seine Ware anpreist. »Mit dem Papiertheater bringen verantwortungsvolle Eltern ihren Kindern die wundervolle Welt unserer Bühnen nahe, bevor diese die echten Theater besuchen dürfen. Das Bürgertum holt sich die Faszination, die von den Werken unserer großen Dichter ausgeht, damit in die eigenen vier Wände. Bekannte Stoffe werden für Kinder bearbeitet. Zudem sorgen wir dafür, dass von exzellenten Autoren eigens für die Jugend pädagogisch wertvolle Stücke geschrieben werden. Wir liefern zum eigentlichen Theaterbau komplett gedruckte, kolorierte oder selbst zu kolorierende Figuren und Kulissen sowie Proszenium und Vorhang, dazu selbstverständlich auch Texthefte und Spielanleitungen.«
Heinrich Zille hört zu, während er eine Prinzessin zeichnet. Besonders gut scheint ihm das nicht zu gelingen.
Ein älterer Kollege kommt vorbei, die tadellose Zeichnung eines Tigers in der Hand. Er sieht Zille einen Augenblick bei der Arbeit zu und gibt dann ein vernichtendes Urteil ab. »Ich weiß nicht, was Sie eigentlich können. Sie können gar nichts!«
Das trifft Heinrich Zille wie ein Messerstich in die Brust. Er reißt sich seine Schürze vom Körper, wirft sie auf den Arbeitstisch und stürzt aus dem Raum.
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1877 — Scheunenviertel
Heinrich Zille schlendert durch das Scheunenviertel, einen Skizzenblock in der Hand. Er geht durch dunkle Torbögen und in ärmliche Hinterhöfe. Vor einer baufälligen Holzbaracke bleibt er stehen und sieht durch ein offenstehendes Fenster Frauen und Männer auf zerschlissenen Pferdedecken schlafen. Zille setzt an, sie auf seinem Skizzenblock festzuhalten.
Ein Schutzmann, dem er verdächtig erscheint, kommt auf ihn zu.
»Wat machen Sie denn hier?«
Zille lächelt und bemüht sich um ein einwandfreies Hochdeutsch. »Ich habe meine Jahre des Forschens genommen.«
»Sind Se wohl eena von diese Sozialisten, wat? Attentate uff’n Kaiser!«
Nun berlinert Zille wieder. »Mein’ Se denn würklich, det der mal in diese Jegend hier kommt? Der weeß doch jar nich, det et die jiebt.«
Damit geht er weiter.
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1877 — Inselbrücke und die Straße An der Fischerbrücke
Zille steht am Ufer der Spree, sieht Hafenarbeitern beim Entladen eines Lastkahns zu, der Zille Hulda, und hält die Szene auf seinem Skizzenblock fest. Wir sehen, dass er langsam Fortschritte macht.
Wissbegierig, wie er ist, nähert er sich den Arbeitern und zögert keinen Augenblick, sie anzusprechen. »Kann ick ma mal euan Kahn von innen anseh’n?«
Der Vorarbeiter schüttelt den Kopf. »Nee, kannste nich. Wenn de dia wat brichst, isset meine Schuld, und dann krieje ick wat uff’n Deckel.«
»Denn ehm nich.«
Zille zieht sich zurück, um seine Skizze zu vollenden. Als er fertig ist, zögert er einen Augenblick und murmelt: »Man müsste noch wat runtaschrei’m unta det Bild. Aba wat?«
Endlich hat er einen Einfall und schreibt mit seiner schwarzen Kreide: Der Zille möchte jerne uff die Zille, darf aba nich.
Danach fällt sein Blick auf eine nahe gelegene Kneipe.
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1877 — Kneipe im Fischerkiez
Zille sitzt in einer Kneipe, hält sein Bierglas in der Hand, nimmt einen Schluck, setzt es wieder ab und beobachtet aufmerksam das Geschehen. Der dicke und verschlagene Wirt steht hinter dem Tresen und sieht mit geschäftsmäßigem Interesse seiner wesentlich jüngeren Frau dabei zu, wie sie versucht, die Gäste zu animieren – ganz offensichtlich nicht nur zum Biertrinken. Sie nähert sich dem Tisch eines Bauern.
»Na, uff’m Molkenmarkt jenüjend Mülch und Eia vakooft?«
Der Bauer antwortet auf Platt: »Ja, aber nu geiht dat al wedder op den Herbst to.«
»Bei mir im Bett isset imma warm. Wat denkst de?«
Der Mann winkt ab. »Lass mal, ik ga tau meine eigene Fru.«
Die Wirtin wendet sich nun Heinrich Zille zu und setzt sich sogar auf den freien Stuhl neben ihm.
»Und Sie? Ham Se ooch uff ’m Molkenmarkt wat vakooft?«
Zille ist interessiert an ihr, aber auch ein wenig unsicher. »Für das, was ich herstelle, gibt es da keinen Stand.«
»Wat machen Se denn so?«
»Wat ick so mache? Ick bin mal in der einen lithographischen Werkstatt und mal in der anderen … als Zinkograph, Kupferätzer und Radierer.«
Die Wirtin sieht ihn mehr als einladend an. »Mir kannste ooch janz nackicht malen, meen Kleena, und nich nur ditte …«
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1877 — Auf der Königstraße
Heinrich Zille, wieder mit seiner Zeichenmappe in der Hand, geht die Königstraße entlang, bleibt stehen und sieht zu, wie ein Arbeiter ein Plakat, das für Concerte in Kroll’s Etablissement wirbt, an eine der neuen Litfaßsäulen kleistert. Als der Arbeiter das nächste Plakat vom Stapel nimmt, merkt er, dass es sich um einen Fehldruck handelt, und will es wegwerfen. Sofort ist Zille bei ihm.
»Warten Se mal, det könn’n Se mir schenken, da kann ick uff da Rückseite wat druff zeichnen.«
Der Plakatkleber grinst. »Ham Se wohl keen Jeld, sich neuet Papier zu koofen?«
»Sieht man mir das an?«, fragt Zille.
»Ja, so isset.«
Der Mann schenkt ihm den gewünschten Bogen. Zille bedankt sich, geht weiter und bleibt vor dem Schaufenster einer Kunsthandlung stehen. Er betrachtet die dort ausgestellten Ölgemälde, Lithographien und Zeichnungen, will ins Geschäft hineingehen, greift schon nach der Türklinke – und weicht wieder zurück.
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1877 — Kunsthandlung an der Königstraße
Der Kunsthändler Louis Sasse ist dabei, einen kaufkräftigen, aber nicht übermäßig gebildeten Bourgeois zu beraten. Er geht an den Wänden seiner Galerie entlang und präsentiert seine Prachtstücke.
»Hier habe ich etwas von Léon Bonnat, einem Schüler von Eugène Delacroix …«
»Nein, Herr Sasse, ich will etwas Deutsches.«
Der Händler wird noch um eine Spur eifriger. »Sehr wohl, der Herr. Wie wäre es mit einem Gemälde von Carl Blechen?«
»Blechen, nee, das hört sich so nach Blech an und ist mir auch zu teuer. Außerdem haben wir Landschaften draußen zur Genüge, die muss ich mir nicht auch noch ins Zimmer hängen.«
»Wie gefällt Ihnen dieses Bild von Georg Waldmüller? Etwas sehr Figürliches …«
Der potentielle Käufer guckt skeptisch. »Wo soll denn das sein?«
»In einer Kleinstadt in Österreich.«
»Der Mann ist auch noch Österreicher?«
»So ist es«, muss Sasse einräumen.
Der Bourgeois fährt auf. »Ich hänge mir doch keinen Österreicher ins Zimmer, wo denken Sie hin!«
Der Händler entschließt sich zu einem letzten Versuch. »Wie ist es mit einem Frauenbildnis von Feuerbach?«
»Was, dieser rote Hetzer gegen unsere christliche Religion hat auch gemalt?«
»Der Maler ist Anselm Feuerbach, der Philosoph heißt Ludwig mit Vornamen.«
»Ach, ist mir doch egal! Guten Tag!«
Der Käufer verlässt die Kunsthandlung und stößt in der Tür mit Heinrich Zille zusammen, der gerade eintreten will.
Zille begreift, was hier geschehen ist, und gibt sich schlagfertig. »Wenn Sie schon nichts verkaufen können, Herr Sasse, dann werden Sie vielleicht etwas kaufen wollen.«
»Der Heinrich Zille wieder, Gott bewahre! Aber zeigen Sie mal her, was Sie mir heute mitgebracht haben.«
Sasse legt die Mappe auf einen Tisch, klappt sie auf und sieht sich die einzelnen Blätter an. Zille schaut ihm zu und hält den Atem an. Hoffnung keimt in ihm auf, zumal der Kunsthändler anerkennend nickt.
»Erstaunlich, welche Fortschritte Sie gemacht haben …«
»Und?«
Sasse schüttelt den Kopf. »Leider reicht es immer noch nicht, mein lieber Zille.«
»Aber ich habe doch genau das getan, was Sie mir geraten haben, und das Porträt von August Borsig und anderen lithographiert.«
Der Kunsthändler nimmt das Blatt mit dem Abbild Borsigs noch einmal auf und betrachtet es eingehend. »Gut, ich will Ihnen den Gefallen tun und es bei mir aufhängen. Zahlen kann ich Ihnen allerdings nichts dafür.«
»Und wie soll es jetzt mit mir weitergehen?«
»Bemühen Sie sich um eine Stelle in einer Werkstatt und verdienen Sie ein paar Taler. Ansonsten gilt: Üben, üben, üben! Pardon, aber die Menschen in Ihren Zeichnungen scheinen allesamt etwas auf den Kopf bekommen zu haben, so platt ist der. Gehen Sie abends wieder in die Akademie zum Aktzeichnen, damit die Proportionen endlich stimmen!«
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1877 — Zeichensaal in der Akademie der Künste
Heinrich Zille ist dabei, einen Männerakt zu skizzieren. Modell steht der Akademiediener, der »Schöne Adolf«. Er ist gänzlich nackt.
»Jede Woche müssen wir den zeichnen«, murrt Zilles Nebenmann zur Rechten.
Auch Zille stöhnt. »Warum kriegen wir keine Frau zum Abmalen, eine, die so richtig drall ist?«
»Weil nur die Meisterklasse Frauen abbilden darf, allerdings auch nicht als Vollakt.«
Der Professor kommt vorbei und besieht sich, was Zille zu Papier gebracht hat. »Hm, nicht schlecht, die Schatten haben Sie sorgfältig gepunktet, aber die Körperkonturen sind etwas unsicher umrissen. Das ist mir alles zu sehr glatte Lithographenmanier.«
Zille lacht. »Keen Wunda, schließlich bin ick jelernta Lithograph.« Das klingt ein wenig patzig, und der Professor zahlt es ihm mit gleicher Münze heim. »Dann gehen Sie doch am besten gleich zur Photographischen Gesellschaft, dort gibt es die schönsten Kunstreproduktionen, und sie müssen nichts Eigenes entwerfen. Emil Werckmeister, einer der beiden Besitzer, ist ein alter Freund von mir. Wenn Sie sich bei ihm vorstellen, mit den besten Empfehlungen von mir, werden Sie sicherlich ein glücklicher Mensch und machen hier den Platz frei für einen richtigen Künstler.«
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1877 — Werkstatt der Photographischen Gesellschaft
Die Photographische Gesellschaft ist 1862 gegründet worden und hat ihren Sitz in der Krausenstraße Nr. 36, nahe dem Dönhoffplatz, damals Dönhofs-Platz oder Dönhofsplatz geschrieben. Wir sehen eine Geschäftsanzeige:
In unserem Verlage sind
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schnell und sorgfältig ausgeführt.
Neben diesem Plakat verdeutlicht uns der großzügig ausgestattete Raum, in dem Heinrich Zille am Zeichentisch sitzt, dass die Photographische Gesellschaft eine ganze andere Adresse ist als die Werkstatt von Fritz Hecht. Zille hat seinen sozialen Aufstieg begonnen.
Ihm gegenüber arbeitet der Kollege Martin Langner.
Emil Werckmeister kommt vorbei und bleibt bei ihnen stehen.
»Na, Herr Zille, haben Sie sich schon gut eingewöhnt bei uns?« Zille erhebt sich, bevor er antwortet. »Aber selbstredend, Herr Werckmeister. Ich habe mir fest vorgenommen, mindestens die nächsten vierzig Jahre meines Lebens in Ihrer Gesellschaft zu verbringen.«
»Brav, mein Lieber, brav! Mit Herrn Langner kommen Sie gut aus?«
»Ja, bestens.«
»Dann will ich Sie nicht länger von der Arbeit abhalten, sonst muss ich noch mit mir selber schimpfen. Es ist ohnehin bald Mittagspause.«
»Auf die freue ich mich nun gar nicht«, brummt Langner. »Denn ich habe mein Essen leider zu Hause vergessen.«
»Sie haben ja direkt eine poetische Ader!«, ruft Zille. »Vielleicht sollte man die für unsere Glückwunschkarten nutzen.«
Werckmeister überhört das und setzt seinen Rundgang fort. Zille und Langner beugen sich wieder über ihre Blätter. Ihre Zeichenstifte fliegen noch über das Papier, als eine attraktive junge Frau in der Tür erscheint. Es ist Hulda Frieske. Sie hält einen Fresskorb in der Hand. Ein Raunen geht durch den Raum, alle Männer blicken auf. Sie steuert auf Langner zu.
»Martin, ich bringe dir das Essen, das du vergessen hast.« Langer springt auf. »Hulda, du bist ein Schatz!«
»Ihre Tochter?«, fragt Heinrich Zille.
»Nein, eine Cousine meiner Frau.«
Man sieht Heinrich Zille an, dass er sich auf den ersten Blick in Hulda verliebt. Er steht auf und sieht sich nach allen Seiten um, wobei er einen leicht verwirrten Eindruck macht. »Ist denn kein Stuhl da für das schöne Fräulein Hulda?«
»Oh, was für ein Kavalier!« Sie strahlt ihn an.
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1878 — Hinter dem Häuschen der Eltern in Rummelsburg
Traugott und Ernestine Zille sind bei der Gartenarbeit. Er hält eine große Gießkanne in der Hand und wässert die Stangenbohnen, sie jätet Unkraut.
Heinrich Zille und Hulda Frieske erscheinen am Gartenzaun.
»Hallo, ihr beiden, ich will euch meine Braut vorstellen!«
Die Eltern fahren hoch und sind ziemlich verblüfft. Es dauert eine kleine Weile, bis sie sich die Hände gesäubert haben. Heinrich Zille hat inzwischen die Gartentür geöffnet und kommt auf sie zu.
Die Mutter breitet die Arme aus und wird, was man ihr gar nicht zugetraut hätte, richtig pathetisch. »Herzlich willkommen, mein Kind, im Schoße unserer Familie!«
Während sie Hulda umarmt, fragt der Vater Heinrich, wann die Hochzeit sei.
»Erst, wenn ick mein’n Militärdienst hinta mir habe.«
Sechs
Es war März geworden. Gustav Budenstieg erwachte an diesem Morgen gegen acht – so nahm er jedenfalls an. Eine Uhr besaß er nicht. Aber der Blick durch die Dachluke ließ darauf schließen. Wo war er hier? Er brauchte einige Sekunden, sich daran zu erinnern: auf einem Dachboden in der Greifenhagener Straße, nicht weit weg vom Bahnhof Schönhauser Allee. Quer durch den Raum waren Wäscheleinen gespannt. Von denen hatte er Betttücher, die schon halbwegs getrocknet waren, gerissen, um sich ein Lager zu bereiten. Eine Matratze hatten sie nicht ersetzen können. Verdammt weh taten ihm jetzt Schultern und Hüften vom Liegen auf den harten Brettern. In seiner Zelle hatte er wesentlich besser geschlafen. Die Ärsche vom Gericht hätten ihm ruhig ein paar Monate mehr aufbrummen können!
Budenstieg stand auf und massierte sich die schmerzenden Körperpartien. Dann pinkelte er in die Ecke, neben die eiserne Leiter für den Schornsteinfeger. Der weiße Putz war noch nass von gestern Abend. Es stank schon gewaltig. Die Bewohner des Hauses würden ihre Freude daran haben. Schadete ihnen gar nichts! Man würde den uringetränkten Putz abschlagen müssen.
Er lauschte. Da waren Schritte auf der Treppe. Dann hörte Budenstieg die Stimmen eines Mannes und einer Frau. Er wollte es nicht auf einen Kampf ankommen lassen. Schnell kletterte er die Leiter hoch, stieß die Luke auf und gelangte hinaus ins Freie. In der Mitte war das Dach mit Teerpappe gedeckt. Darauf ließ sich gefahrlos laufen. Links und recht davon aber lagen die roten Dachziegel auf einer gefährlichen Schräge – Rutschbahnen in den Tod! Budenstieg wurde schwindlig. Er hielt sich an einem Schornstein fest, bis der Anfall vorbei war. Dann kletterte er über die Barriere hinweg, den die Brandmauern dieses und des angrenzenden Mietshauses bildeten. Hinter den Mauern ließ sich eine Luke aufhebeln. Mit akrobatischem Geschick glitt er auf den Dachboden hinunter. Eine halbe Minuten später stand er unten auf der Greifenhagener.
Was nun? Budenstieg überlegte. Nach kurzem Zögern lief er zur Schönhauser und weiter bis zur Schivelbeiner Straße. Dort hatte er vor Antritt seiner letzten Haftstrafe als Hilfskraft in einem Sanitärgeschäft gearbeitet. Gas – Wasser – Scheiße. Immerhin hatte er im Wedding mal eine Klempnerlehre angefangen – und bald wieder abgebrochen. Keine Lust gehabt … und kein Talent. »Du bist zum Scheißen zu dämlich!«, hatte der Meister gerufen. Der Chef in der Schivelbeiner hatte so’n komischen Namen gehabt. Er kam nicht gleich drauf. Dann fiel es ihm wieder ein: Heiße. Gestatten, heiße Heiße! Helmut Heiße. Noch blöder als Gustav Budenstieg.
Als er Heißes Laden betrat, kam der freundlich auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Na, Justav, allet abjesessen?«
»Ja. Gelobt sei, was hart macht!« Der übliche Spruch seines Wärters. »Kann ick wieda anfangen bei Ihnen?«
Heiße seufzte. »Von mir aus jerne. Aba det hat sich doch hier überall rumjesprochen, wie dich die alte Frau beim Klauen erwischt hat und du se so wegjeschubst hast, det se ’n paar Wochen im Krankenhaus liejen musste und fast totjegangen wäre. Ick kann dich zu keem Kunden mehr schicken, det musste doch einsehen!«
»Und hier inna Werkstatt?«, fragte Budenstieg.
»Da hab ick selba nich jenuch zu tun, tut ma leid. Et sind eben miese Zeiten.«
Budenstieg ging zur Schönhauser zurück. Wie bei einer Beerdigung, ganz langsam und voller Trauer. Was sollte er als Nächstes tun? Er bog in eine Nebenstraße ein. Mehr als eine Stunde lief er ziellos durch die Gegend. Immerhin hatte er jetzt etwas mehr Auslauf als auf dem Tegeler Gefängnishof. Am Senefelderplatz fiel er fast in den Eingang zur U-Bahn. Wenn das kein Wink des Schicksals war! Diesmal löste er sogar eine Fahrkarte. In der UBahn konnte man schwerlich während der Fahrt abspringen, wenn Gefahr im Verzug war. Der Zug Richtung Reichskanzlerplatz lief ein. Voll bis obenhin. Manche Berliner fuhren jetzt erst ins Büro. Budenstieg quetschte sich noch in einen Waggon. Die Fahrgäste standen so dicht gedrängt wie die Heringe. Vor ihm war ein aufgeblasener Vertreter. Da die U-Bahn auf dieser Strecke um jeden Kohlenkeller herumfuhr, gab es eine Kurve nach der anderen. Man wurde gegeneinandergepresst. Daher fiel es nicht auf, wie Budenstiegs Hand aus Versehen in das Jackett des aufgeblasenen Vertreters fuhr und eine Brieftasche herausfischte. Das war das große Los! Am Alexanderplatz sprang er aus dem Zug und lief die erstbeste Treppe hoch. Einen stillen Winkel suchen und nachsehen, wie groß die Beute war. Unter der S-Bahn-Brücke konnte er es wagen. »Scheiße, verdammte!« Nur zwanzig Mark. Dabei hatte der Vertreter nach mindestens fünfhundert ausgesehen. Nur einen Trost gab es: In der Brieftasche steckte eine Karte für das nächste Berliner Sechstagerennen. Wenigstens etwas!
Immerhin reichte die Beute, um sich in ein Café zu setzen und zu frühstücken. Viel Spaß machte es allerdings nicht. Budenstieg hatte das Gefühl, als starrten ihn alle an. Was will der stinkende Knastbruder hier? Passt bloß auf eure Portemonnaies auf! Die Leute hatten recht. Wahrscheinlich roch er auch gewaschen noch anders als sie. An der Wand hing eine ältere Ausgabe des Berliner Boulevard Blattes. Er nahm die Zeitung vom Haken und blätterte sie durch. Interessierte ihn alles nicht. Berlin war ihm fremd geworden – eine andere Welt, nicht mehr seine.
Als er zu den Traueranzeigen kam, hatte er eine Idee. Bertie, sein Zellennachbar, hatte ihn darauf gebracht: »Wenn Leute auf ’ner Beerdigung sind, dann musste bei denen einbrechen, da is bestimmt keena zu Hause.« Budenstieg suchte nach Verstorbenen, bei denen es möglicherweise etwas zu holen gab. Viele waren es nicht. Aber da: Der Herr Medizinalrat Prof. Dr. Neidhart Lambey aus der Hartwigstraße in Pankow beklagte den allzu frühen Tod seiner geliebten Ehefrau Isolde. Beisetzung auf dem Wald- und Parkfriedhof Pankow-Schönholz – in einer Stunde! Das Schicksal meinte es gut mit ihm. In Tegel hatte er sich fortgebildet, nicht nur als Taschendieb, sondern auch als Einbrecher. Also auf nach Pankow! Und zwar möglichst schnell. Die U-Bahn fuhr nur bis zum Nordring. An der Schönhauser Allee musste er in die Straßenbahn umsteigen. Das dauerte ewig. Endlich kam die 57 angezuckelt. An der Breite Straße stieg Budenstieg aus. In aller Eile suchte er nach einer Eisenwarenhandlung. Zumindest einen Schraubenzieher musste er sich kaufen, dazu noch einen Dietrich. Da war ein Laden! Er stürzte hinein.
»Wozu brauchen Se’n den?«, wollte der Verkäufer wissen.
»Mein Bruder heißt Dietrich, und ich will ihm damit eine kleine Freude machen.« Budenstieg war stolz darauf, dass er diesen Satz in einer Fremdsprache herausgebracht hatte – in Hochdeutsch.
Er bekam beide Werkzeuge. Anstandslos. Die Leute waren immer noch nicht wachsam genug. Wozu warnte die Kriminalpolizei sie andauernd vor Menschen wie ihm?
Über die Kavalierstraße kam er in die Hartwigstraße. Viele Häuser hier hatten Fassaden wie die im vornehmen Westen. Budenstieg sah sich nach allen Seiten um. Es war kaum jemand unterwegs, und von den wenigen Fußgängern interessierte sich niemand für ihn. Er trat in das Haus, in dem Prof. Dr. Neidhart Lambey laut Traueranzeige wohnte. Ein schneller Blick auf den Stillen Portier. Er war richtig! Vorderhaus, zwei Treppen. Über die Stufen war ein roter Sisalläufer gespannt. Der dämpfte die Schritte. Als Budenstieg oben angekommen war, presste er sein rechtes Ohr an die Wohnungstür. Alles ruhig. Sollte er vorsichtshalber klingeln? Nein, das hätte die Nachbarn hellhörig machen können. Oder waren die auch auf dem Friedhof? Er unterließ es trotzdem. Man konnte nie wissen. Vielleicht war der Lambey mit allen verkracht.
Schnell hatte Budenstieg Schraubenzieher und Dietrich aus der Innentasche seines Mantels gezogen und sich an die Arbeit gemacht. Das Schloss war noch aus dem vorigen Jahrhundert. Es war ein Kinderspiel für ihn, die Tür zu öffnen. Innerhalb von zwei Minuten stand Budenstieg in der Wohnung. Er blickte sich um. Alles sah sehr vornehm aus. Vom Flur gingen mindestens fünf Zimmer ab. Wo hatte der Medizinalrat seinen Schreibtisch stehen? Darin war Bargeld zu vermuten. Wo lag das Schlafzimmer? Dort versteckten die Frauen meistens ihren Schmuck. Budenstieg lauschte. Irgendwo hatte es geraschelt. Offenbar in der Wohnung über ihm. Er öffnete die erste Tür und stand im Schlafzimmer. Budenstieg lief zum Kleiderschrank und riss die Tür auf. Links war das Fach mit der Bettwäsche. Er griff sich Stück für Stück und warf es auf den Boden. Fehlanzeige!
»Was machen Sie denn hier?«
Ein kräftiger Mann stand in der Tür. Offensichtlich der Hausmeister.
»Seh’n Se doch!« Budenstieg war zu erfahren in seinem Metier, um gleich in Panik zu geraten.
»Dann werd ich mal die Polizei rufen.« Der Mann sprang zurück in den Flur und wollte die Zimmertür abschließen.
Damit hätte Budenstieg in der Falle gesessen. Er schnellte nach vorn und riss mit aller Kraft an der Klinke. Die Tür flog auf. Doch der Mann war nicht gewillt, ihn laufen zu lassen, und versperrte ihm den Weg.
»Hau ab!«, schrie Budenstieg.
»So kommst du mir nicht davon!« Der Mann stürzte sich auf ihn.
Da stieß ihm Budenstieg seinen Schraubenzieher in den Bauch. Der Mann brach schreiend zusammen. Budenstieg lief ins Treppenhaus und hastete nach unten. Überall flogen die Wohnungstüren auf. Aber er schaffte es auf die Straße hinunter. Langsam, nicht rennen, nicht auffallen! Sei ein Passant wie jeder andere! Es gelang. Jetzt bloß weg! Er lief zum Bahnhof Pankow-Schönhausen und wartete auf einen Zug Richtung Innenstadt. Da die Bahn hier schon elektrifiziert war, schaffte Budenstieg es schneller als erwartet zum Stettiner Bahnhof. Die Gegend kam ihm bekannt vor. Richtig, in der Borsigstraße wohnte Hella. Mit der hatte er mal eine Weile zusammengelebt. Sie hatte ihr Geld mit ihrer Pflaume verdient. Ihm war es egal gewesen. Nach außen hin jedenfalls. Hella hatte ein gutes Herz. Vielleicht konnte er bei der eine Weile bleiben. Wenigstens ein paar Nächte bei ihr schlafen. Und mit ihr.
Seitenflügel, vier Treppen. Er stieg hinauf. Es müffelte nach Braunkohle, Wirsingkohl und schwarzem Schimmel. Der Papierstreifen mit Hellas Namen klebte noch an alter Stelle. Er drückte auf den Klingelknopf. Drinnen hustete jemand. Das Husten wurde zu einem Anfall. Er klingelte noch einmal.
Schritte. Jemand zog das Guckloch auf. Budenstieg lächelte, als würde er photographiert werden.
Von drinnen war eine unwirsche männliche Stimme zu vernehmen: »Wat woll’n Sie’n hier?«
»Die Hella sprechen.«
»Wer sind Sie eijentlich?«
»Der Justav, Gustav Budenstieg, ’n alta Freund von ihr.«
»Sie lässt keen Freia mehr ran, sie hat mächtig Tb.«
Daher kam der Husten. Dennoch fragte Budenstieg, ob er vielleicht eine Nacht bei Hella schlafen könne.
Jetzt wurde die Wohnungstür geöffnet. Hella tauchte auf. Im Nachthemd.
»Nee, jeht nich. Aba wende dia mal an Muskel-Adolf, mit’m schönen Jruß von mir, und frag ihn, ob a wat hat für dich!«
»Mach ick, danke. Und allet Jute für dich!«
Det is nich mein Tach heute, dachte Budenstieg. Immer wieder dieselbe Frage: Was nun?
Max Liebermann konnte als überführt gelten. Karl-Heinz hatte in dessen Villa am Wannsee ein Photo gemacht, auf dem deutlich zu erkennen war, wie Liebermann Zille kopierte.
Als Nächster stand nun Hermann Frey auf Kowolleks Liste. Wie war der zu überlisten? Kowollek hörte es gern, wenn man von ihm – halb spöttelnd, halb anklagend – behauptete, er sei der findigste und gerissenste Reporter, den ganz Berlin zu bieten habe. Auch diesmal kam er schnell auf eine Idee, für die ihm das Wort »genial« fast noch zu schwach erschien. Er kaufte sich Zilles Kinder der Straße und suchte einige Zeichnungen heraus, die nur mit einem knappen Titel versehen waren und nicht mit den typischen Zille-Dialogen. Gewöhnlich wurden die Bilder durch eine fette Bildunterschrift und ein kurzes Gespräch zwischen den abgebildeten Figuren ergänzt. Die nicht betexteten Zeichnungen nun wollte Kowollek Hermann Frey vorlegen und ihn bitten, sich in Zille-Art etwas auszudenken, das man den Protagonisten in den Mund legen konnte. So wollte Kowollek herausfinden, ob Frey in dieser Tätigkeit Übung hatte.
Heiner fand es besser, Zilles Sprüche zu überkleben und später Freys Texte mit dem jeweiligen Original zu vergleichen.
Kowollek dachte nach und entschied sich dann gegen den Vorschlag seines Freundes. »Das ist mir zu direkt.«
Der Photograph legte einen neuen Rollfilm in seine Kamera.
»Wo finden wir Hermann Frey?«
»Er ist heute Vormittag bei Otto Wrede in Dahlem, dort bin ich mit ihm verabredet.«
»Wer ist Otto Wrede?«
»Ein Musikverleger, der mehrere Titelbilder von Zille verwendet hat und für seine Operetten die Texte von Hermann Frey schreiben lässt, so auch für Walter Kollos Maskenball im Ziegenstall.«
»Na jut, dann auf nach Dahlem. Du befiehlst, ich folge dir!« Von einem rasenden Reporter erwartete man, dass er in Berlin jede Straße kannte, mochte sie noch so unbedeutend sein. Aber Kowollek hatte keine Ahnung, wo Im Schwarzen Grund zu finden war. Das Straßenverzeichnis in seinem Stadtplan verriet es ihm: Sie mussten nach Dahlem, in die Nähe des U-Bahnhofs Thielplatz.
»Jetzt weeß ick endlich, warum se damals die Wilmersdorfer U-Bahn jebaut ham«, bemerkte Heiner, als er von ihrem Ausflug in eine der vornehmsten Gegenden Berlins erfuhr. »Unsatwejen.«
Als die U-Bahn am Thielplatz hielt, hörten sie die Stimme des Stationsvorstehers: »Alles aussteigen, der Zug endet hier!« Kowollek stand auf. »Weiter nach Krumme Lanke geht es erst nächstes Jahr. Aber sie bauen schon kräftig.«
Heiner staunte, als sie vom Bahnsteig, der im Einschnitt lag, die Treppen nach oben stiegen. »Det is ja keen richtija Bahnhof hier, det is ’n Landhaus!«
Das Verlags- und Wohnhaus von Otto Wrede trug die Hausnummer 21, und von der U-Bahn aus hatten sie es in ein paar Minuten erreicht.
Hermann Frey stand schon am Gartentor und erwartete sie.
»Immer frisch, fromm, fröhlich, Frey, wie der Turnvater Jahn es von einem deutschen Jüngling erwartet. Wenn die Herren von der Zeitung kommen, muss man sofort zur Stelle sein! Von ihrem Wohlwollen hängt es ab, ob man bejubelt wird oder sich aufhängen kann. Kommen Sie, meine Herren, bei Otto Wrede in der Bibliothek steht ein kleines Frühstück für Sie bereit! Beim Essen können wir auch über alles reden. Ick fühle ma richtich jebauchpinselt, det ma det BBB zu den berühmtesten Berlinern zählt.« Er stockte einen Augenblick. »Eijentlich müsste et ja heißen: zu die berühmtesten Berliner. Hier lang bitte!«
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