Читать книгу: «Otto mit dem Pfeil im Kopf», страница 9
Vier
Darko schrie auf. Er hatte schon die ganze Nacht über schlecht geschlafen, und nun hockte ein Mahr auf seiner Brust, um ihm das Blut aus der Halsschlagader zu saugen. Der Hausgeist entstand aus der Seele eines verstorbenen Ahnen oder eines lebenden Menschen, dessen Seele ihn nachts verließ. Darkos Meinung nach konnte er sich nur aus der Seele dieses dreimal verfluchten Lando gebildet haben. Er schlug wild um sich, um den Hausgeist zu vertreiben. Dann setzte er sich auf die Bettkante und beschuldigte Domovoj, den Schutzgeist seiner Hütte, nicht sorgsam genug über ihn gewacht zu haben. Aber wahrscheinlich hatten diese verdammten Christen ihn mit ihrem Kreuz außer Gefecht gesetzt. Deren Kirche niederzubrennen hatte wohl nicht viel gebracht. Man war erst gerettet, wenn man alle erschlagen hatte.
Gerade stieg im Osten die Sonne über den Bäumen empor, und Darko beeilte sich, nach draußen zu kommen, um zu Dahzbog zu beten, der ansetzte, mit seinem diamantenen Streitwagen über den Himmel zu ziehen.
»Lass diesen Tag einen reichen Tag für mich werden!«
Über den Wassern der Havel hörte er es wispern. Das waren die Wassernymphen, die Geister ertrunkener Mädchen. Fingen sie schrill an zu lachen, konnte dieses Gelächter einen Menschen töten. Er wagte es schon gar nicht mehr, ein Bad zu nehmen, weil er befürchten musste, dass sie ihn in die Tiefe rissen. Schnell lief er in seine Hütte zurück.
Als es Tag geworden war, klopfte Jarosław an seine Tür, und sie liefen von Poztupimi nach Nahmitz, um die Fischer gegen die Zisterzienser aufzuwiegeln. Und Darko hatte schon einen Plan.
»Man muss die Mönche in eine Falle locken. Und das geht so: Miloš, der Dorfälteste, geht ins Kloster und sagt, in Nahmitz möchten sie sich alle taufen lassen. Dann ziehen die Mönche los, und an einer geeigneten Stelle fallen wir über sie her, erschlagen sie und machen ihr Kloster dem Erdboden gleich.«
Jarosław hörte das zwar mit Begeisterung, konnte aber seine Bedenken nicht ganz verhehlen. »Und wenn der Markgraf nun seine Ritter ausschickt, die Zisterzienser zu rächen?«
»Wenn wir bis auf den letzten Mann alle erledigen, wer soll es ihm dann melden? Niemand!«
»Sie schicken doch immer einen, der nach dem Rechten sehen soll …«
»Den Visitator meinst du.« Darko lachte. »Der ist gerade da, wie ich gehört habe, und so schnell werden sie keinen neuen finden. Außerdem werden wir mit der Unterstützung unserer Brüder im Norden, Osten und Süden rechnen können, der polnischen Piasten vor allem. Es muss gewagt werden!«
Ricario Accorsi konnte aufatmen. Pater Vigilius hatte sich schnell einen Eindruck vom Zustand des Klosters verschafft und war nach Magdeburg zurückgekehrt, ohne ihn als Ricario Accorsi zu erkennen. So weit, so gut – doch was nun? Lange war für ihn das Leben in Lehnin nicht mehr zu ertragen. Kaum hatte er die Terz, den vierten Gottesdienst, hinter sich gebracht, folgte schon der Mittagsgottesdienst, die Sext. Dass deren Name ihn an ganz etwas anderes erinnerte, versteht sich …
Gemeinsam mit den anderen Ordensbrüdern wusch er sich am Brunnen die Hände, dann begab man sich zum Mittagessen ins Refektorium. Jeder trat still an den ihm zugewiesenen Platz. Der Abt läutete, und der 51. Psalm wurde in aller Stille gebetet: Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünde nach deiner großen Barmherzigkeit. Wasche mich wohl von meiner Missetat und reinige mich von meiner Sünde. Denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor mir.
Ricario Accorsi hatte den Eindruck, dies alles sei auf ihn gemünzt. Verdammt noch mal, dachte er, was soll der Mist, ich habe diesen Peter Drackstedt nicht ermordet!
Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist. Errette mich von den Blutschulden …
Gott, das war ja nicht mehr auszuhalten! Ricario machte drei Kreuze, als der 51. Psalm zu Ende gebetet war und alle »Benedicite« riefen. Es folgten das Gloria und das Kyrie eleison, den Schluss bildete ein halblautes Vaterunser. Nachdem der Wochenpriester »Wir flehen, Herr, segne deine Gaben!« gerufen hatte, bekreuzigten sich alle und nahmen Platz. Ricario löffelte den faden Erbsenbrei ohne jeden Appetit in sich hinein. Was sie zu trinken bekamen, konnte ihn ebenso wenig erfreuen: Es war viel Wasser mit ein wenig Weingeschmack. Sprechen durfte man während des Mittagsmahls nicht. Wer es dennoch tat, musste sofort aufstehen und bekam, wenn er Pech hatte, auch noch eins mit der Rute übergezogen. Auf der Kanzel des Speisesaals stand Pater Hilarius und las mit lauter und eifernder Stimme aus der Bibel: »Es ist Trauern besser denn Lachen; denn durch Trauern wird das Herz gebessert. Das Herz des Weisen ist im Klagehause, und das Herz der Narren im Hause der Freude.«
Diese Worte des Predigers Salomo (7,3 und 4) ließen Ricario leise aufstöhnen. Wie gerne wäre er in diesem Augenblick in einem Freudenhaus gewesen! Oder wenigstens im Bett von Jasna, die er vor Tagen beim Nahmitzer Dorfältesten gesehen hatte und die ihm seither nicht mehr aus dem Sinn ging. Er hatte ein paar Worte mit ihr gewechselt und versucht, sie mit seinen Blicken zu besiegen, war aber gescheitert. Aber gerade das regte ihn besonders an.
Endlich schwang der Abt die Glocke, um das Ende der mittäglichen Zusammenkunft zu verkünden. Alle erhoben sich nun und sprachen den Dankvers. Dann zog man unter Absingen eines Psalms, diesmal des 119., paarweise zu einem Dankgebet in die Kirche, das heißt in die Brandruine.
Siehe, ich liebe deine Befehle;
Herr, erquicke mich nach deiner Gnade.
Dein Wort ist nichts denn Wahrheit; alle Rechte
deiner Gerechtigkeit währen ewiglich.
Ich bin wie ein verirrtes und
verlorenes Schaf …
Das nun, fand Ricario, passte wiederum ganz gut zu ihm. Nun zog man in Reih und Glied zum Schlafsaal, damit jeder ein wenig ruhen konnte. Aber kaum war er eingenickt, kam schon wieder das Zeichen zum Aufstehen, und alle eilten zur Brunnenkapelle, um sich die Augen auszuwaschen. Dann rief die Glocke zur Non, die in der Kirchenruine mit Gebet, Hymnen, Psalmen und Lesungen aus der Bibel gefeiert wurde. Anschließend ging es wieder ins Refektorium, wo unter allerlei Zeremonien das Bibere eingenommen wurde, etwas Wasser mit ein paar Tropfen Wein.
Bis zur Vesper folgte nun dem vielen ora das labora, und Ricario konnte ins Dorf Nahmitz eilen, um sich wieder der Missionierung der Slawen zu widmen – insbesondere der Slawinnen.
»Mit Liebe!«, rief ihm Sibold hinterher.
»Aber ja!«
Heute wollte er Jasna erobern. Er musste sich ans Haus des Dorfältesten anschleichen, sie beobachten und einen günstigen Augenblick abwarten. Und den fand er, als er sie im Garten des elterlichen Anwesens eine Ziege melken sah. Er stellte sich vor, wie sie statt der Zitzen des Tieres seinen Penis knetete, und dies erregte ihn so sehr, dass es kein Halten mehr für ihn gab. Er trat an ihre Seite, um seine Blicke in ihren Augen zu versenken und sie sich willig zu machen. Doch bei Jasna versagte sein Zauber. Sie sprang auf, versetzte ihm eine saftige Ohrfeige und schrie, er, der verdorbene Christenlümmel, möge sich davonmachen, sonst hole sie ihren Bruder, der ihn auf der Stelle entmannen würde.
»Lass dich bloß in Nahmitz nicht mehr sehen, du, du elender …« Wonach sie suchte, war der Begriff Macho – doch der sollte wackeren Frauen wie ihr erst rund 800 Jahre später zur Verfügung stehen.
Was blieb Ricario anderes übrig, als sich davonzustehlen! Diese Niederlage schmerzte ihn tief. Er fühlte sich, als wäre er gerade kastriert worden. Schnell begriff er, dass es in Nahmitz für ihn in absehbarer Zeit nichts mehr zu holen gab. Aber das Kloster Lehnin war ja nicht nur für diese Ortschaft zuständig, sondern auch noch für die Dörfer Göritz, Rädel, Cistecal, Schwina und Kolpin. Da bot sich Rädel an, das eine Wegstunde südlich von Lehnin zu finden war, gleich hinter dem Gohlitzsee.
Dort stieß er auf Wojćisława, die liebestolle Witwe eines Bauern, dem ein Tritt seines Ochsen die Manneskraft genommen hatte. Ihre Lustschreie waren so laut, dass sie eine Nachbarin anlockten, die zuerst glaubte, Erste Hilfe leisten zu müssen. Ein Blick durch das Fenster zeigte ihr jedoch, dass dies nicht nötig war. Gebannt verfolgte sie das Schauspiel und war so begeistert von allem, dass sie sogleich ihrer Schwester Bericht erstattete.
Zwei Tage später wusste auch Darko Bescheid, und der konnte nicht anders, als auszurufen: »Dieser Lando muss sterben! Tod und Verderben allen Deutschen und allen Zisterziensern!«
Das Kloster Lehnin war, wie bereits gesagt, für die Askanier von herausragender Bedeutung. Markgraf Otto I. hatte es gegründet, und er war auch, verstorben am 7. März 1184, hier beigesetzt worden. Im Betkirchlein noch, da zu dieser Zeit der Bau der Klosterkirche erst in den Anfängen steckte. Otto II., sein Sohn und der Enkel von Albrecht dem Bär, wollte nun, dass auch alle weiteren Markgrafen aus seinem Hause hier ihre letzte Ruhe finden sollten, angefangen mit ihm selbst. So zog es ihn immer wieder nach Lehnin, um dort nach dem Rechten zu sehen.
Als Ricario Accorsi von der Ankunft des Markgrafen erfuhr, wurde er ein wenig blass, denn es war anzunehmen, dass Otto II. von Lennhart Drackstedt gebeten worden war, den Zisterzienser, den er für den Mörder seines Bruders hielt und mit einiger Sicherheit im Kloster Lehnin vermutete, dingfest zu machen und seiner irdischen Gerechtigkeit zuzuführen. Zwar hatte der Markgraf ihn nie zu Gesicht bekommen, aber er brauchte ja nur den Abt nach einem Bruder zu fragen, der italienischer Herkunft war und erst vor kurzem zu ihm und seiner Gemeinschaft gestoßen war.
Da gab es für Ricario nur zwei Möglichkeiten: die Flucht aus dem Kloster und die Vorwärtsverteidigung. In der grünen Ödnis der Mark herumzuirren, scheute er. Ihm blieb also nur, Otto II. entgegenzugehen und mit ihm zu reden, bevor man zuschlagen konnte. Aber kaum hatte er dieses Vorgehen ins Auge gefasst, kamen ihm auch schon Bedenken. Wenn nun Jacopp von Colno an Ottos Seite ritt und sofort Alarm schlug?
Es konnte aber genauso gut sein, dass Veytt von Gonna den Markgrafen begleitete, und dann war dieses Vorpreschen eigentlich überflüssig, weil der Freund sicherlich schon alles klargestellt hatte. Oder? Ricario kam zu keinem Entschluss, bis die Sext kurz bevorstand. Mechanisch memorierte er noch einmal den 118. Psalm, den sie heute beten sollten:
Danket dem Herrn; denn er ist freundlich,
und seine Güte währet ewiglich.
Der Herr züchtigt mich wohl; aber er gibt mich
dem Tode nicht.
Ich danke dir, dass du mich bemütigst und hilfst mir.
O Herr, hilf! O Herr, laß wohl gelingen!
In diesem Augenblick kam Otto II. mit seinem Gefolge in den Innenhof geritten. Ricario Accorsi erschrak über alle Maßen, denn nicht nur Jacopp von Colno sah er an seiner Seite, sondern auch Lennhart Drackstedt. Zweierlei schoss ihm in diesem Augenblick durch den Kopf. Das eine: Katharina ist jetzt allein zu Hause, und ich kann sie noch einmal haben! Das Zweite: Du musst jetzt nach Magdeburg und selber den Mörder Peter Drackstedts finden! Vielleicht gelang es ihm, sich unbemerkt davonzustehlen …
Veytt von Gonna war mit seinen Gedanken im Kloster Lehnin. Wenn Jacopp von Colno und Lennhart Drackstedt den Abt fragten, welcher Bruder in letzter Zeit zu ihnen gestoßen war, und der Markgraf dabei auch noch Druck ausübte, hatte sein Freund Ricario keine Chance mehr. Nur er hätte das Schlimmste verhindern können, doch eine schwere Magen-Darm-Erkrankung hatte ihn daran gehindert, im Tross des Markgrafen nach Lehnin zu reiten. So blieb ihm nichts anderes, als zu beten. Er begann mit den Klageliedern Jeremias 3, 31 und 32: Denn der Herr verstößt nicht ewiglich; sondern er betrübt wohl, und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. – So bitte ich dich, o Herr, nimm dich auch unseres Bruders Lando an, der unschuldig ist und zu Unrecht verfolgt wird!
Ricario Accorsi hatte es mit viel Glück und Geschick geschafft, seinen Häschern zu entkommen und sich auf den Weg nach Magdeburg zu machen. Als Zisterzienser konnte er es nicht wagen, die Stadt zu betreten, denn er war ja vogelfrei. Manch einer würde ihn erkennen und sofort festnehmen lassen, also musste eine andere Verkleidung her. Und da bot es sich an, nach Rädel zu laufen und die Witwe Wojćisława zu bitten, ihm alte Kleider ihres verstorbenen Mannes zu überlassen und die Ordenstracht bis zu seiner Rückkehr in Verwahrung zu nehmen. Das gelang auch ohne Probleme, und er erreichte die Stadt an der Elbe nach einem Fußmarsch von 24 Stunden am späten Nachmittag des folgenden Tages. Übernachtet hatte er in einer Feldscheune.
Sein erster Gang führte ihn zu Katharina Drackstedt. Da ihr Schwager garantiert nicht zu Hause war, brauchte er sich nicht sonderlich vorzusehen. Als unauffälliges Bäuerlein, einen Korb mit Äpfeln in der Hand, klopfte er an die Tür des Drackstedt’schen Hauses. Ein Knecht erschien.
»Was willst du hier?«, herrschte er Ricario Accorsi an. »Wir haben alles, wir brauchen nichts!«
»Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.« Ricario erschrak. Da hatte er das Mönchsein doch tatsächlich schon so verinnerlicht, dass er spontan mit Matthäus 8, Vers 20 geantwortet hatte!
Der Knecht starrte ihn an. »Bist du blöd?«
Nun reagierte Ricario auf profane Art. »Blöd schon, aber nicht so blöd wie du!« Damit griff er in seinen Korb, nahm einen Apfel heraus und warf ihn dem Knecht mit einiger Wucht an den Kopf. »Da! Damit dein Gehirn wieder in Ordnung kommt!«
Der Knecht schrie auf, und da er sich in seiner Ehre gekränkt fühlte, bückte er sich, hob einen Erdklumpen auf und feuerte ihn in Richtung Ricario Accorsi – jedoch ohne den zu treffen. Dessen Gelächter machte ihn noch wütender, und so griff er nach einem herumliegenden Knüppel, um damit auf Ricario loszugehen. Der wich geschickt aus, so dass der Knecht ihn verfehlte und seitlich an ihm vorbeischoss. Pech für ihn, dass ihm dabei Ricarios schnell vorgestrecktes Bein im Wege war. Er stürzte lang hin und fluchte so laut, dass damit Katharina Drackstedt auf den Plan gerufen wurde.
»Jochen, bist du blöd geworden?!«, schrie sie ihm zu. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du …« Hier brach sie ab, denn in diesem Augenblick hatte sie Ricario erkannt. Sie erfasste die Situation blitzschnell und reagierte kühl und gelassen. »Jochen, lass ihn zufrieden, das ist der Mathes aus Plötzky. Ich habe ihn bestellt, weil ich seine Äpfel mal probieren möchte. Komm herein, Mathes!«
Wenig später lag Katharina in seinen Armen und war glücklich, dass er noch lebte und sie ihn wiedersehen durfte.
»Mein Ricario!«
»Du hast nie an meiner Unschuld gezweifelt?«, fragte er.
»Nein, keinen Augenblick, und ich habe gebetet, dass mein Schwager und Jacopp von Colno dich nicht finden.«
Ricario seufzte. »Es war knapp, aber der Himmel hat es gut mit mir gemeint.« Er erzählte ihr vom Leben in Lehnin und wie er beim Eintreffen des Markgrafen und derer, die ihn jagten, knapp entkommen war. »Und eines ist mir dabei klargeworden: dass es nicht reicht, mich irgendwo zu verstecken, um heil aus der ganzen Sache herauszukommen. Nein, ich muss es selbst in die Hand nehmen und den Mörder deines Mannes suchen. Denn Recht muss doch Recht bleiben … Wer steht bei mir wider die Bosheiten? Wer tritt zu mir wider die Übeltäter? 94. Psalm, Verse 15 und 16.«
Katharina Drackstedt lächelte. »Du hast in Lehnin eine Menge gelernt.«
»Ja, notgedrungen.«
»Du musst dich auch wieder um deine Geschäfte kümmern, oder?«
»Nein, das ist nicht so dringend, da meine Kompagnons schon den Ruin zu verhindern wissen.« Während er dies sprach, fiel sein Blick auf den Tisch, wo Papiere aller Art ausgebreitet waren. »Oh, suchst du bestimmte Unterlagen?«
»Nein, ich gehe nur alles durch, was mein Mann hinterlassen hat, um zu sehen, was wichtig ist und was weggeworfen werden kann.«
Ricario Accorsi war zu neugierig, nicht den einen oder anderen Brief und Zettel in die Hand zu nehmen – was sie ihm auch nicht verwehrte, denn Ricario war ja ebenfalls Kaufmann und konnte vielleicht Verträge finden, mit denen sie noch zu größeren Einkünften kommen konnte. Je mehr Gold sie in der geheimen Truhe liegen hatte, desto eher konnte sie sich dem Werben ihres Schwagers entziehen.
»Was den Mörder meines Mannes betrifft«, sagte sie leise zu Ricario, »komme ich, je länger ich darüber nachdenke, zu dem Schluss, dass Lennhart es gewesen ist. Vielleicht auch Jacopp von Colno. Oder beide zusammen. Die Jagd nach dir inszenieren sie nur, um von sich selbst abzulenken.«
Ricario nickte. »Genau das denke ich auch.« Er stockte, als er ein Stück Pergament in der Hand hielt, das mit merkwürdigen Zeichen bedeckt war. »Was ist denn das hier?«
»Das stammt von meinem Mann, aber ich kann es nicht lesen.«
»Das ist ja die Kurzschrift, die Nova Ars Notaria, die dieser Johannes von Tilbury entwickelt hat, ein gelehrter Mönch aus England.«
»Peter hat mir gesagt, es sei eine Geheimschrift. Da könnte er Dinge aufschreiben, die nicht für jedermanns Augen bestimmt sind.« Sie sah Ricario an. »Du kannst es aber entschlüsseln?«
Ricario lächelte. »Ich glaube schon …« Das Lächeln verging ihm aber, als er den Text von Peter Drackstedt entschlüsselt hatte.
Schon lange ist mir dieser Pater Vigilius suspekt gewesen. Er sagte, er sei in Florenz geboren worden und dort aufgewachsen, doch ich habe mit Kaufleuten aus Florenz gesprochen: Da kennt ihn niemand. Auch im Umkreis des Papstes ist er völlig unbekannt, wie man mir versichert hat. Ich war schon überzeugt davon, dass er ein ganz anderer ist, da flüstert mir heute ein Kaufmann aus Köln zu, dass er in diesem Vigilius mit Sicherheit den Baumeister Hermo Hückes wiedererkannt hat, der in seiner Heimatstadt mehrere Männer ermordet haben soll. Ich werde das weiterverfolgen …
»Und das wird ihm das Leben gekostet haben«, sagte Ricario Accorsi nach einiger Zeit, als sie sich von diesem Schock erholt hatten. »Dein Mann muss nahe daran gewesen sein, ihn zu überführen – da hat der falsche Pater zugeschlagen.«
Otto II. war mit seinem Gefolge auf dem Rückweg vom Kloster Lehnin. Man wollte gemeinsam nach Magdeburg reiten, weil der Markgraf einige politische Dinge mit dem Erzbischof zu besprechen hatte. Alle saßen missmutig im Sattel. Otto II. machte sich Sorgen, weil er in Lehnin den Eindruck gewonnen hatte, dass die Slawen ringsum kräftig murrten. Vielleicht war ja sogar ein neuer Aufstand zu befürchten, zumindest aber ein Versuch, die Zisterzienser dahin zu bringen, ihr Kloster wieder aufzugeben. Dass man ihre Kirche in Brand gesteckt hatte, war ein schlimmes Zeichen. Jacopp von Colno und Lennhart Drackstedt verfluchten Gott und die Welt, weil ihnen Lando alias Ricario Accorsi so knapp durch die Lappen gegangen war. Ihre Dialoge variierten über Stunden nur unwesentlich.
»Ein unerträglicher Gedanke, dass der Mörder meines Bruders noch immer nicht am Galgen hängt!«
»Wenn einer mit dem Teufel im Bunde ist, dann …«
Mehrere Mönche und Laienbrüder des Klosters Lehnin schwärmten, kaum war die Terz beendet, nach allen Seiten aus, um Lando zu suchen, der am Abend als verschwunden gemeldet worden war. Er war bei allen sehr beliebt, lauschten sie doch seinen Erzählungen aus Italien und der weiten Welt immer gern.
Auch Abt Sibold wollte nicht zurückstehen und hatte verkündet, im Klosterdorfe Prützke nach dem Vermissten fragen zu wollen. Als Begleiter hatte er Pater Hilarius ausgewählt. Beide marschierten nun nach Westen und unterhielten sich dabei über dieses und jenes, knieten aber auch öfter nieder, um zu beten, so zum Beispiel den 130. Psalm, der Aus tiefer Not hieß:
Herr, höre meine Stimme, lass deine Ohren merken
auf die Stimme meines Flehens.
So du willst, Herr, Sünden zurechnen,
Herr, wer wird bestehen?
Ich harre des Herrn; meine Seele harret, und
ich hoffe auf sein Wort.
Sibold fügte hinzu, dass der Herr sich des Bruders Lando erbarmen möge. »Irgendetwas ist mir an diesem Menschen von Anfang an eigenartig erschienen …«
»So ganz sattelfest im Glauben ist er wohl nicht«, fügte Hilarius hinzu. »Auch bei unseren Ritualen war er des Öfteren etwas unsicher und hat immer erst geschaut, wie es die anderen machen.«
»Also könnten der Markgraf und seine Begleiter recht haben, dass er gar kein echter Zisterzienser ist, sondern den Bruder Lando nur gespielt hat, damit sie ihn in Magdeburg nicht als Mörder aufs Schafott schaffen …«
»Ich weiß nicht …« Hilarius seufzte. »Man kann zwar keinem Menschen ins Herz sehen, aber Lando mag alles andere sein, aber nie und nimmer ein Mörder.«
So kamen sie nach Prützke. Aber sosehr sie auch nach Lando suchten und die Leute nach ihm fragten, es brachte nichts. Es blieb ihnen nichts anderes, als nach Lehnin zurückzukehren.
Diesmal wählten sie den Weg über Nahmitz, wo sie gegen Mittag eintrafen und in der brütenden Hitze mächtig schwitzten. Der Abt trat in das Haus eines slawischen Fischers, um einen kühlen Trunk zu erbitten. Doch kaum war man seiner ansichtig geworden, stob alles auseinander, Frau wie Kinder, und lief schreiend davon. Die Kinder versteckten sich in Küche und Kammer, während die Frau des Hauses ängstlich unter einen Backtrog kroch, der nichts anderes war als ein ausgehöhlter Eichenstamm und zum Austrocknen vor dem Hause lag.
Sibold war von dem langen Fußmarsch derart erschöpft, dass er sich nichtsahnend mit dem Rücken auf den umgestülpten Backtrog legte, ihn gleichsam als Bettgestell benutzend.
Die Kinder kamen nun langsam aus ihren Verstecken hervor und liefen zum See hinunter, wo ihr Vater gemeinsam mit anderen Fischersleuten bei der Arbeit war.
»Vater, schnell nach Hause!«, riefen die Kinder von Radomér schon von weitem. »Der Abt liegt auf der Mutter!«
Die Männer hatten sofort ein ganz bestimmtes Bild vor Augen, zumal sie ein gewisser Darko davon unterrichtet hatte, dass sich ein Zisterzienser in ihrer Abwesenheit über ihre Frauen und Töchter hermachte. Also stürzten sie blind vor Zorn und Eifersucht zum Haus von Radomér. Der allgemeine Groll, den sie gegen alles Deutsche hegten, brach sich jetzt Bahn. Mit wildem Geschrei stürzten alle ins Dorf, umstellten das Haus und setzten an, den Abt zu erschlagen. Doch Sibold gelang es noch, durch ihre Reihen hindurchzuschlüpfen und in den nahen Wald zu flüchten – Hilarius dicht hinter ihm. Da der Abt wusste, dass die Meute ihn alsbald einholen würde, zog er es vor, auf eine Eiche zu klettern und sich in deren dichtem Blattwerk zu verbergen, während Hilarius zum Kloster lief, um von dort Hilfe zu holen.
Sibold saß nun oben im Geäst und betete leise den 152. und den 153. Psalm: »Siehe mein Elend und errette mich; hilf mir aus, denn ich vergesse deines Gesetzes nicht. Führe meine Sache und erlöse mich; erquicke mich durch dein Wort.«
Und das Gebet schien zu wirken, denn die Nahmitzer Slawen entdeckten ihn nicht und glaubten schon, der Christengott hätte ihn wie einen Engel zum Himmel auffliegen lassen. Sie waren bereits im Begriff, die Jagd auf Sibold aufzugeben und zu ihrem Ort zurückzukehren, da klirrte es in ihrer Nähe ganz gewaltig. Und da weder Fauna noch Flora ein solches Geräusch jemals zustande bringen konnten, eilten sie hin, um zu sehen, was es da gegeben hatte. Dabei stolperte Dušas Mann über ein riesiges Schlüsselbund. Er hob es auf und staunte.
»Das kann doch aus keinem Nest gefallen sein!«
»Doch, eine Elster wird es irgendwo gestohlen haben«, meinte sein Nebenmann.
Ein anderer, der oft im Kloster gewesen war, um mit Sibold zu verhandeln, rief nach kurzem Überlegen aus, dass er diese gewaltigen Schlüssel schon einmal gesehen habe. »Das sind die vom Abt, die haben bei ihm am Gürtel gehangen.«
Da starrten alle nach oben, und bald darauf hatten sie Sibold entdeckt.
»Komm herunter, du Schänder unserer Frauen!«, schrie der Dorfälteste, und es wurden Forderungen laut, ihn an Ort und Stelle zu kastrieren.
In diesem Augenblick waren die Mönche, die Hilarius alarmiert hatte, zur Stelle und beschworen das tobende Volk, von seinem Vorhaben um Gottes willen abzulassen.
»Unser Abt hat es immer gut mit euch gemeint!«, rief der Mönch Honorius. »Seine Botschaft ist die Liebe.«
»Ja, er liebt mit seinem Pinsel!«, höhnte einer. »Runter mit dem Schwein! Schlagt es tot!«
Der Säckelmeister des Klosters suchte mit den Slawen zu verhandeln. »Ich biete euch eine Belohnung, wenn ihr von ihm ablasst.«
»Wir wollen seinen Tod, nichts anderes!«
»Seid doch vernünftig«, ließ sich der Abt von oben vernehmen. »Ich verspreche euch bei Gott den Erlass des Zehnten, und ich verspreche euch Feld und Heide, so viel ihr wollt und bebauen könnt.«
Doch die Nahmitzer wollten nichts als ihre Rache, und es liefen einige zurück ins Dorf, um alles herbeizuschaffen, was sie an Beilen, Äxten und Sägen in ihren Schuppen liegen hatten. Damit machten sie sich daran, die Eiche zu fällen, auf die sich der Abt geflüchtet hatte. Die mutigsten der Mönche wollten sie noch daran hindern, doch sie waren ja im Kampfe überhaupt nicht geübt und dazu völlig waffenlos, so dass sie bald blutend am Boden lagen.
»Aufgepasst!« Die ersten Äxte wurden geschwungen, und ihre scharf geschliffenen Blätter drangen tief ins Holz. Eine Eiche zu fällen war keine Kleinigkeit, aber die Männer gingen mit solch einem Feuereifer ans Werk, dass am schnellen Erfolg ihrer Bemühungen nicht zu zweifeln war.
Da ging Sibold nur noch durch den Kopf, was im Evangelium des Markus im 15. Kapitel, Vers 33 geschrieben stand: Eli, Eli, lama asabthani? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Und es kam, wie es kommen musste: Die Eiche fiel – und die Slawen erschlugen Sibold auf der Stelle.
Die Zeit im Kloster Lehnin, so kurz sie auch gewesen war, hatte Ricario Accorsi derart geprägt, dass er auch bei seiner Suche nach Pater Vigilius alias Hermo Hückes betete. Diesmal den 68. Psalm: »Gelobet sei der Herr täglich. Gott legt uns eine Last auf; aber er hilft uns auch. Ja, Gott wird den Kopf seiner Feinde zerschmettern!«
Katharina, die neben ihm stand, lächelte zufrieden. »So gefällst du mir.«
»Ich wäre dem Herrn noch dankbarer, wenn er mir verraten hätte, wo wir den falschen Pater finden können.«
»Solche Kleinigkeiten überlässt er uns Menschen, nach dem Motto ›Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott‹, und deshalb würde ich vorschlagen, dass wir erst einmal zu Veytt von Gonna gehen und den zu Rate ziehen.«
Ricario Accorsi fand, dass das eine gute Idee war, und so machten sie sich auf den Weg. Und sie hatten Glück, der Pater Immediat des Klosters Lehnin war zu Hause.
Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass Ricario Accorsi diesmal im Gewande eines armen Bäuerleins gekommen war. Er war entsetzt. »Sich in dieser Gestalt in die Höhle des Löwen zu wagen erscheint mir doch ein wenig zu verwegen, mein Lieber!«
»Wieso redest du von der Höhle des Löwen? Hat Heinrich inzwischen vom Kaiser auch Magdeburg als Lehen bekommen?« An der Seite Katharinas wollte Ricario besonders geistreich erscheinen.
Veytt von Gonna schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Die Reichsacht ist über dich verhängt, und du bist vogelfrei!«
»Mag ja sein, aber ich habe inzwischen hieb- und stichfeste Beweise für meine Unschuld.« Und er erzählte Veytt von Gonna alles, was er im Hause Peter Drackstedts herausgefunden hatte.
Katharina Drackstedt konnte es bestätigen. »Ich schwöre bei Gott und allem, was mir heilig ist, dass es genau so ist, wie Ricario es eben dargelegt hat.«
»Ich will es auch gerne glauben.« Veytt von Gonna bekannte, diesem Pater Vigilius nie so recht getraut zu haben. »Bei seinem Anblick hatte ich immer ein merkwürdiges Gefühl …«
»Was unternehmen wir nun?« Katharina Drackstedt wurde schon ungeduldig.
»Wie jeder Mensch hat er einen Anspruch auf rechtliches Gehör«, erklärte Veytt von Gonna. »Wir werden also zu ihm gehen und von ihm verlangen, dass er uns Rede und Antwort steht.«
»Und wo finden wir ihn?«, wollte Ricario Accorsi wissen.
Veytt von Gonna überlegte. »Zu dieser späten Nachmittagsstunde müsste er beim Erzbischof sein. Wichmann wollte ihn heute empfangen.«
»Dann auf ins erzbischöfliche Palais!«
Da Veytt von Gonna den Wachen wohlbekannt war und beim Erzbischof hohes Ansehen genoss, fanden er und seine Begleitung Einlass, ohne lange nach dem Grund ihres Besuches befragt zu werden. »Nur zu, Hochwürdiger Pater, auch wenn sich Seine Exzellenz der Hochwürdigste Herr Bischof gerade in einer Unterredung befindet.«
Sie hatten Glück, denn kaum waren sie eingetreten, kam ihnen der Erzbischof entgegen, an seiner Seite der vorgebliche Pater Vigilius.
Veytt von Gonna wandte sich ohne Umschweife an Wichmann. »Eure Erzbischöfliche Gnaden, wir sind gekommen, um Anklage gegen den Mann an Eurer Seite zu erheben.«
»Was?«
»Er ist nicht der, der er vorgibt zu sein!«, rief Ricario Accorsi. »Sondern ein Schwindler, nämlich der Kölner Baumeister Hermo Hückes, der in seiner Heimatstadt mehrere Morde begangen hat!«
»Und der hier im Dom meinen Mann erschlagen hat«, fügte Katharina Drackstedt hinzu.
»Die Beweise sind erdrückend«, sagte Veytt von Gonna. »Ich schwöre es bei Gott dem Allmächtigen!«
Бесплатный фрагмент закончился.
Начислим
+27
Покупайте книги и получайте бонусы в Литрес, Читай-городе и Буквоеде.
Участвовать в бонусной программе