Читать книгу: «Grillparzerkomplott», страница 4

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»Ich kenne David und halte ihn für keinen Mörder«, machte Leopold deutlich. »Deshalb frage ich mich, ob Frau Winkler Kontakte hier im Schopenhauer geknüpft oder jemanden getroffen hat.«

»Nicht, dass es mir aufgefallen wäre«, gab Oliver Auskunft. »Obwohl, etwas war schon komisch. Sie ist meistens sehr abrupt aufgebrochen, hat ihr Achtel Rotwein hastig ausgetrunken und ungeduldig nach der Rechnung verlangt. Wie wenn sich plötzlich etwas ergeben hätte.« Dann stieß er Leopold mit dem Ellenbogen an, um ihn daran zu erinnern, dass er eigentlich zum Arbeiten und nicht zum Plaudern da war. Zielstrebig bewegte sich Leopold deshalb auf einen Mann zu, der soeben zur Tür hereingeschneit war. Er vermeinte ihn erst unlängst gesehen zu haben. Aber wo?

Sofort fiel es ihm wieder ein. Es war auf einem der Fotos gewesen, die ihm Richard Juricek gegeben hatte. Das war Gottfried Winkler, Katjas geschiedener Ehemann.

Sein Gesicht war von einer großen Sonnenbrille halb verdeckt, obwohl Leopold nicht vermutete, dass er sie trug, um trauernde, verweinte Augen zu verbergen. Die schwarzen, strähnigen Haare hatte er glatt zurückgekämmt, auf den Schultern seines Sakkos zeigten sich mehrere Schuppen. »Ein Bier – kalt!«, ordnete er an.

»Wie kalt?«

»Sehr kalt!«

Wiederum eine Bestellung ohne Komplikationen. Vielleicht würde die Arbeit im Schopenhauer doch nicht so mühsam werden, wie Leopold befürchtet hatte. Er beeilte sich, Gottfried Winkler sein Bier zu bringen. »Mein herzliches Beileid«, raunte er ihm zu, während er das Tablett abstellte.

»Was soll diese Bemerkung?«, reagierte Winkler unwirsch.

»Sie entschuldigen schon, aber ich habe Sie gleich erkannt, und das hat mich an das traurige Schicksal Ihrer Ex-Gattin erinnert«, eröffnete Leopold ihm. »Sie hat ja da vorn gewohnt, nur wenige Schritte vom Kaffeehaus entfernt. So ein furchtbares Ende! Das hat Sie sicher auch sehr mitgenommen, obwohl Sie sich von ihr getrennt haben.«

Winkler merkte, dass es nicht gut aussah, wenn er sich weiterhin so schroff zeigte. »Natürlich«, lenkte er ein. »Eine schreckliche Sache! Ich habe es nie für eine gute Idee gehalten, dass sie jedem dahergelaufenen Menschen ihren Schmuck gezeigt hat. Einmal musste das ja böse enden. Aber dass man sie gleich umbringt …«

»Können Sie sich auch ein anderes Motiv außer dem Schmuck vorstellen?«

Winkler wetzte unruhig auf seinem Sessel herum. »Hören Sie, ich will jetzt in Ruhe mein Bier trinken«, gab er Leopold zu verstehen. »Ich schätze Ihre Anteilnahme, aber deswegen muss ich Ihnen nicht Rede und Antwort stehen.«

»Sie würden mir außerordentlich helfen, wenn Ihnen etwas einfallen würde«, ließ Leopold nicht locker. »Der arme Kerl, den sie verhaftet haben, ist nicht nur ein Kollege, sondern auch ein Freund von mir. Ich kenne ihn gut. Der tut so etwas nicht. Er bringt es nie im Leben fertig.«

»Haben Sie eine Ahnung, was die Menschen alles fertigbringen, wenn’s um die Marie geht«, meinte Winkler abschätzig.

»Trotzdem frage ich mich, ob es nicht auch einen anderen Grund gegeben haben könnte, Ihre Frau – verzeihen Sie, Ex-Frau – umzubringen.«

»Hunderte«, grinste Winkler Leopold schäbig ins Gesicht. »Ich selbst habe mich mehrmals mit dem Gedanken getragen, sie zu töten, habe Pläne gewälzt, den perfekten Mord betreffend. Schließlich habe ich mich doch lieber scheiden lassen. Das war unkomplizierter.«

»Welche Rolle hat denn ihre Verletzung …?«

Leopold getraute sich jedoch nicht, diesen Satz zu vollenden, so sehr zeigte ihm Winklers durchdringender Blick, für wie deplatziert er die Frage hielt. Oliver deutete ihm in wilden Zeichen an, er solle den Gast in Ruhe lassen. »Das gehört sich nicht, so aufdringlich zu sein«, eröffnete er Leopold, als sie unter sich waren.

»Da gehen die Meinungen auseinander. Das ist doch der Mann von der Winkler«, raunte der ihm zu. »Den muss ich schon ein bisschen ausfratscheln. Schließlich geht es um Davids Unschuld.«

»So kommst du aber bei dem nicht weiter«, beteuerte Oliver. »Er trägt die Nase ganz schön oben. Für den sind wir Servicepersonal, sonst nichts. Vergräm ihn nicht! Angeblich hat er sich bei uns wegen einer Kleinigkeit jahrelang nicht blicken lassen. Dann hatte er ein paar Engagements an der Volksoper, seither kommt er wieder. Hoffentlich macht er uns dort nicht schlecht.«

Ungern ließ Leopold Gottfried Winkler daraufhin in Ruhe. Er beobachtete ihn nur während seiner Arbeit aus den Augenwinkeln, wie er sein Bier trank und dazwischen immer wieder auf die Uhr schaute.

Dann hörte er ein Geräusch, das er bereits kannte: das Geräusch einer mit Inbrunst falsch gesummten Melodie. Burckhardt war da. Er bestellte einen kleinen Mokka, zahlte gleich und blieb, nachdem er zu summen aufgehört hatte, schweigsam. Eigentlich mussten er und Winkler sich doch kennen, ging es Leopold durch den Kopf. Dennoch nahmen sie, in entsprechendem Abstand zueinander sitzend, keine Notiz voneinander.

Kaum versuchte Leopold, ein Gespräch mit Burckhardt anzuknüpfen, trank dieser seinen Kaffee aus, stand auf und ging zur Tür hinaus. Nun hatte es auch Winkler eilig. »Zahlen!«, rief er Leopold herbei.

»Bitte sehr, bitte gleich!« Dienstbeflissen setzte sich Leopold in Bewegung. Trinkgeld erhielt er freilich keines. Wie zur Revanche blieb er vor Winkler stehen und klimperte mit den Münzen in seiner Hand.

»Ist noch was?«, schnauzte Winkler ihn an.

»Leider sind Sie so einsilbig«, setzte ihm Leopold auseinander. »Deshalb bin ich’s jetzt auch. Aber ich kenne mich ein bisschen in der Theaterszene aus. Die ›Grillparzer-Geschichte‹ ist wieder aktuell, habe ich gehört.«

Winkler lief rot im Gesicht an. Er fing sich gleich wieder, aber eine Verunsicherung war deutlich zu erkennen. »Was wollen Sie?«, fragte er.

»Beehren Sie uns bald wieder«, legte ihm Leopold ans Herz. »Vielleicht haben wir dann mehr Zeit für ein Plauscherl.«

Winkler fixierte ihn noch einmal böse und war dann auch schon aus dem Lokal draußen. Leopold gratulierte sich im Stillen. Er hatte einen Köder ausgelegt, und der erste Fisch hatte bereits angebissen.

*

Am frühen Abend schaute Seniorchef Moritz Bäcker für gewöhnlich auf einen Sprung im Schopenhauer vorbei. Die Auswahl an alten Stammgästen, die er bereits selbst betreut hatte, war meist groß, sodass er keine Schwierigkeiten hatte, einen Gesprächspartner für einen Plausch zu finden. Diesmal blieb er jedoch im Thekenbereich stehen, um mit Leopold ein paar Worte zu wechseln.

Der alte Bäcker trat immer noch würdevoll auf. Die leicht gewellten Haare, von denen er eine Locke verführerisch in die Stirn fallen ließ, hatten dieselbe Fülle wie eh und je, sie waren nur grau geworden. Das Gesicht wirkte trotz der paar Fältchen mehr genauso frisch wie vor 20 Jahren. Wenn er es wollte, konnte er bei Frauen auch heute noch erfolgreich sein. Leopold verstand, warum Frau Heller in Erinnerungen an ihn schwelgte.

»Das ist eine besondere Ehre«, begrüßte Bäcker ihn. »Mein Lebetag hätte ich mir nicht gedacht, dass der Herr Leopold einmal bei uns arbeiten würde.«

»Na ja, die Umstände«, meinte Leopold achselzuckend.

»Wie hat es die Sidonie aufgenommen?«, wollte Bäcker wissen.

»Sie lässt dich schön grüßen«, richtete Leopold ihm aus.

Bäckers Augen funkelten. »Sie ist immer noch eine ausnehmend fesche Frau«, schwärmte er. »Ich habe Fotos von ihr im Internet gesehen.«

»Sie würde dich gern wieder einmal sehen.«

Bäcker entfuhr ein Lachen. »Das ist schön«, freute er sich. »Ich fürchte nur, es wird kompliziert. Wir wollten uns schon einmal in den letzten Jahren treffen, konnten uns aber nicht einigen, wo. Ich wollte nicht ins Heller kommen, sie nicht ins Schopenhauer. Man wird eigenbrötlerisch und stolz mit dem Alter.«

Leopold wiegte vorsichtig den Kopf hin und her. »Ein Abendessen in einem netten Restaurant würde ihr sicher gefallen«, schlug er vor.

»Vielleicht wird’s ja was, nach so langer Zeit«, befand Bäcker. »Wie geht es ihr? Was macht das Geschäft?«

»Alles bestens«, antwortete Leopold ausweichend.

»Sie wird es mir dann wohl selber erzählen. Und wie hast du dich bei uns eingelebt?«, wechselte Bäcker das Thema.

»Es braucht noch seine Zeit«, gab Leopold Auskunft. »Alles ist ein bisschen anders. Die Adjustierung zum Beispiel.« Er deutete auf sein weißes Hemd, in dem er sich immer noch ziemlich nackt vorkam.

»Das sind die Ideen meines Sohnes Herbert«, berichtete Bäcker. »Ich habe noch auf die Tradition gehalten, aber heute ist das offenbar nicht mehr so wichtig. Hast du übrigens schon etwas herausgefunden?« Er war eingeweiht und natürlich neugierig.

»Da bin ich wohl erst zu kurz da«, erinnerte Leopold den Seniorchef. »Du könntest mir aber ein bisschen helfen. Was weißt du über Katja Winkler und ihren Bekanntenkreis?«

»Sie war eine undurchsichtige Frau, hat sich nie in die Karten blicken lassen«, gab Bäcker an. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Sie hat erst hier im 18. Bezirk gelebt, seit sie von Gottfried Winkler geschieden war. Vorher war sie eine waschechte Floridsdorferin. Wusstest du das nicht?«

»Nein«, antwortete Leopold verdattert. Da hätte sie doch auch im Heller verkehren müssen. Auf dem Foto, das er von Richard Juricek erhalten hatte, war sie ihm jedoch nicht bekannt vorgekommen. Hatte sie sich derart verändert?

»Du siehst, du kannst dich auch in deiner Heimat auf die Spurensuche machen, nicht nur bei uns. Sie hat oft im Theater am Spitz gespielt«, informierte Bäcker ihn.

»Weißt du etwas über ihren Unfall? Das war doch ein entscheidender Einschnitt in ihrem Leben«, erkundigte Leopold sich.

»Darüber hat man nie Genaueres erfahren«, gab Bäcker sich bedeckt. »Sie ist in der Nacht die Treppe hinuntergestürzt, angeblich alkoholisiert. Ihr Mann hat sie gefunden. Es wollen allerdings auch Gerüchte nicht verstummen, dass sie bei dem Unglück nicht allein war.«

»Dass jemand nachgeholfen hat?«

»So in etwa, ja! Aber das sind, wie gesagt, Gerüchte, wie sie in solchen Fällen oft auftauchen.«

»Sind Personennamen genannt worden?«

»Nein. Wenn du Glück hast, triffst du am Vormittag einmal Primar Jaros vom Spital um die Ecke, der sie damals operiert hat.«

Leopold nahm zufrieden zur Kenntnis, dass immer mehr Details zum Vorschein kamen. »Wenn du Augen und Ohren offen hältst, wirst du bei uns auf Leute stoßen, die mit Katja Winkler zu tun hatten«, gab ihm Bäcker noch einen Rat mit auf den Weg. »Ich bin überzeugt, dass sie im Kaffeehaus ihre Bekannten hatte. Sie hat nur vermieden, hier mit ihnen in Kontakt zu treten.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Leopold.

»Es ist ein Gefühl. Begründen kann ich es nicht, aber so etwas spürt man als Cafétier, der seinen Job jahrzehntelang ausgeübt hat«, ließ Bäcker ihn wissen. »Sei wachsam, aber vergiss dabei die Arbeit nicht. Und was die Sidonie betrifft …«

»Sie wird sich freuen, von dir zu hören«, zwinkerte Leopold ihm zu. Dann machte er sich wieder ans Servieren.

Kapitel 6

»Vier Frauen und ein Mord!«

Leopold, der gerade dabei war, sich in seiner Zweitarbeitsstätte einzugewöhnen, horchte auf. »Was meinst du?«, fragte er Oliver.

»Schau dich um, dann weißt du es«, raunte Oliver ihm zu.

Leopold warf einen Blick hinter sich ins mittlerweile gut gefüllte Schopenhauer. Er sah, worauf sein junger Kollege sich bezogen hatte. Vier ältere Frauen saßen an einem der Kartentische und spielten einen Bauernschnapser. Das war neu für ihn. Im Heller hatte das Schnapsen keine große Tradition. Es galt, besonders in der Vierervariante, als einfach und vorhersehbar. 20 Karten, fünf in jeder Hand, kein Talon, zwei Teams, wobei die Spielpartner einander gegenübersaßen. 66 Punkte brauchte man, um ein Spiel zu gewinnen, mehrere solcher Spiele ergaben das entscheidende »Bummerl«. Oft siegten nicht die Besseren, sondern die Glücklicheren. Man praktizierte es eher in Wirtshäusern, um den Alkoholkonsum zu steigern. Ein »Bummerl« war schnell um, und die Verlierer wurden meist zur Kasse in Form von Getränken gebeten.

»Bei euch wird geschnapst?«, wunderte sich Leopold.

»Warum nicht? Die einen spielen Tarock, die anderen Bridge, wieder andere einen gepflegten Schnapser«, vertraute Oliver ihm an. »Wäre an sich keine Besonderheit. Aber bei dieser Damenrunde warten wir nur mehr darauf, dass ein Mord geschieht.«

»Ach so?« Leopold spitzte die Ohren.

»Die können einander nicht ausstehen, sage ich dir. Trotzdem kommen sie her und spielen miteinander Karten. Dabei gibt es eine Feindseligkeit nach der anderen.«

»Dass beim Kartenspielen gestritten wird, ist nichts Neues«, bemerkte Leopold. »Da fliegen zuerst die Fetzen, aber nachher sind bei uns im Heller die meisten wieder gut Freund – bis zur nächsten Partie.«

»Bei denen ist es ein bisschen anders«, schilderte Oliver. »Die streiten nicht, die schauen sich nur die ganze Zeit giftig an. Dann kommen ein paar gezielte Nadelstiche. Es brodelt. Wenn man ihnen zu der Zeit als Ober zu nahe kommt, kriegt man unter Umständen auch was ab. Ich bleibe ihnen deshalb fern, so gut es geht. Sie geben eh kaum Trinkgeld.«

Wenn’s keinen Schmattes gab, war’s also auch im Schopenhauer mit der Freundlichkeit vorbei. Leopold interessierte die Sache. »Soll ich mich um sie kümmern?«, bot er Oliver an.

»Von mir aus«, hatte sein junger Kollege nichts dagegen. »Du bist neugierig, was? Eine oder zwei von denen waren übrigens auch einmal Schauspielerinnen wie die Ermordete.« Oliver zwinkerte ihm zu.

Leopold begab sich sofort zu dem Tisch, wo die vier Frauen schnapsten. Dort herrschte eisige Stille, die Karten wurden wortlos ausgespielt und die Stiche ebenso wortlos eingesammelt. Dann notierte eine von ihnen, deren weißgrauer Lockenkopf so wirkte, als sei sie eben vom Friseur gekommen, den neuen Spielstand.

»Haben die Damen einen Wunsch?«, erkundigte sich Leopold, um auf sich aufmerksam zu machen.

Die Blicke der vier Spielerinnen durchbohrten ihn. »Wir haben Sie nicht gerufen«, teilte ihm schließlich die Kleinste von ihnen, die wie ein sprungbereites Raubtier in ihrem Sessel hockte, leise, aber deutlich mit.

»Ich möchte, dass es Ihnen an nichts fehlt«, erklärte Leopold entschuldigend und wischte dabei ein paar Brösel vom Tisch.

»Lassen Sie das«, forderte ihn die Dritte, die ein wenig zu viel Speck um die Hüften trug, auf. »Wir können auf uns selbst schauen. Wer sind Sie eigentlich?«

»Ein Neuer, der sich nicht auskennt, das siehst du doch«, befand die Schreiberin hüstelnd.

»Er kennt sich sehr wohl aus. Das ist der Leopold aus dem Café Heller in Floridsdorf. Ein bisschen älter ist er geworden, aber das sind wir ja alle«, ließ sich nun die Vierte in der Runde vernehmen. Ihr festes Gesicht wirkte durch die wachen Augen jünger als das ihrer Mitspielerinnen.

Wenn sie mich kennt, müsste ich sie eigentlich auch kennen, überlegte Leopold. Er erinnerte sich allerdings nicht, sie schon einmal gesehen zu haben. Unterdessen hatte die Runde ein neues Spiel begonnen und hüllte sich wieder in Schweigen. Leopold entfernte sich diskret. Da war im Augenblick nichts zu holen. Vielleicht später.

Aber auch nachdem sie ihre Kartenpartie beendet hatten, waren die vier Frauen nicht gesprächiger. Jede bezahlte das eine Getränk, das sie während des Spiels konsumiert hatte, wie erwartet ohne Trinkgeld. Dann standen sie auf und gingen. »Es ist allein deine Schuld, dass wir verloren haben. Ich werde mir noch eine Strafe für dich ausdenken«, bemerkte die Schreiberin zu ihrer Partnerin, der Kleinsten, ohne sie dabei anzusehen. Sonst fiel kein Wort mehr.

Leopold zermarterte sich noch längere Zeit den Kopf darüber, wer die Frau sein mochte, die ihn erkannt hatte. Es fiel ihm aber kein Name zu ihrem Gesicht ein, so angestrengt er auch nachdachte.

*

Eine Stunde später kam die Frau wieder. Sie schaute kurz bei der Tür herein und bedeutete Oliver, dass sich Leopold zu ihr nach draußen begeben solle.

»Haben Sie Zeit?«, fragte sie ihn vor dem Schopenhauer. »Spazieren wir eine Runde um den Häuserblock?«

»Ich werde mir die Zeit wohl nehmen müssen, wenn Sie mich extra aufsuchen«, erwiderte Leopold.

»Erinnern Sie sich denn nicht mehr an mich?«, wollte die Frau von ihm wissen, als sie in die Schopenhauergasse hineinspazierten.

»Ehrlich gesagt, nein. Das ist mir peinlich, weil Sie sicher Gast im Heller waren«, gab Leopold zu.

»Wir sind abends nach der Vorstellung gern dort gesessen, ich und meine Freunde vom Theater«, führte die Frau an. »Das ist schon eine Weile her. Alexandra Malik ist mein Name.«

Dunkel kamen Eindrücke in Leopolds Gedächtnis zurück. Es mochte 15 oder gar 20 Jahre her sein, da waren die Schauspieler und Schauspielerinnen vom Theater am Spitz noch gemeinsam ins Heller gegangen, nachdem sie ihr Tagewerk vollendet hatten. Der damalige Direktor Benedikt Rötzer war ein Freund des geselligen Zusammenseins und eines edlen Tropfens gewesen. »Die Theaterleute sind da«, hatte es immer geheißen, wenn nach 22 Uhr eine größere Gruppe hereingeströmt war. Ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte, war es dann auch wieder vorbei gewesen. Die Gesichter hatte Leopold kaum mehr im Kopf – Gesichter, die sich im Lauf der Zeit überdies verändert hatten.

»Ihr wart eine lustige Partie«, bekundete er. Mehr fiel ihm nicht ein.

»Es waren schöne Zeiten, unbeschwerte Zeiten«, nickte Alexandra Malik. »Das Ensemble hat dann in der Form nicht weiterbestanden, und so sind wir auch nicht mehr als Gruppe ins Heller gekommen. Sie sind allerdings ein Oberkellner, den man nicht leicht vergisst, darum habe ich Sie heute gleich erkannt. Ich habe mich sogar in der Zwischenzeit immer wieder bei der Christl Kowarik nach Ihnen erkundigt.«

»Die Frau Kowarik kennen Sie?«, entfuhr es Leopold. Die war ein Stammgast, da wusste er gleich Bescheid.

»Sie ist eine Freundin von mir«, antwortete Frau Malik. »Wie geht es dem Herrn Leopold, frage ich sie oft, wenn ich sie sehe. Ich höre dann, dass Sie noch immer in Ihrer unnachahmlichen Art im Café Heller im Einsatz sind. Und jetzt kommt der springende Punkt: Plötzlich sehe ich Sie im Schopenhauer vor mir, vorlaut und unverkennbar. Das kann doch nicht sein, denke ich mir. Warum sind Sie auf einmal hier?«

»Das ist halt so in unserem Geschäft«, antwortete Leopold ausweichend. »Manchmal wird man um eine kurzfristige Vertretung gebeten und muss einspringen.«

»Verkaufen Sie mich doch nicht für dumm«, bat ihn Alexandra Malik. »Die Christl erzählt mir immer, dass Sie so etwas wie eine kriminalistische Ader haben und der Polizei bereits geholfen haben, so manches Verbrechen aufzuklären. Gehe ich recht in der Annahme, dass das der Grund Ihrer plötzlichen Beschäftigung hier ist?«

Jetzt hat sie mich, dachte Leopold, während sie zügig voranspazierten. Seine sorgsam aufgebaute Tarnung war schon am ersten Tag dahin. »Ich vertrete einen jungen Oberkellner …«, hub er an.

»… der des Mordes verdächtigt wird«, vervollständigte Frau Malik den Satz, ohne ihn ausreden zu lassen.

»An einer Kollegin von Ihnen«, betonte Leopold.

»Tun Sie nicht so, als ob Sie sie nicht kennen. Sie ist auch im Heller verkehrt. Öfter und regelmäßiger als ich, weil sie in Floridsdorf gewohnt hat«, stellte Alexandra Malik fest.

Leopold stand immer noch auf der Leitung. Das Foto hatte ihm nicht geholfen. Sie sah seine Ratlosigkeit. »Damals hieß sie noch Katja Valenta«, half sie deshalb ein wenig nach.

»Ach ja«, lächelte Leopold, obwohl er immer noch im Dunkeln tappte. Er musste an frühere Fotos von Katja Winkler herankommen, als sie noch jünger gewesen war. Dazu würde er morgen die Hilfe seiner Tochter Sabine in Anspruch nehmen, die mit Internet und Smartphone weitaus vertrauter war als er.

»Da wird eine Frau umgebracht, die früher häufiger Gast im Café Heller war, und einen Tag später kellneriert der Herr Leopold im Schopenhauer, als ob er das schon immer getan hätte«, nahm die Malik ihn weiter in die Zange. »Mir können Sie nichts vormachen. Die beiden Dinge haben selbstverständlich miteinander zu tun. Sie sind hier, um zu spionieren.«

»Warum sind Sie eigentlich so sehr an der Sache interessiert?«, drehte Leopold nun den Spieß um.

»Man interessiert sich für so manches«, erwiderte Alexandra Malik. »Katja war, wie Sie richtig bemerkt haben, eine Kollegin von mir. Gut möglich, dass das Bürscherl sie getötet hat, vielleicht aber auch nicht. Auf jeden Fall gebe ich Ihnen einen Tipp: Sie bewegen sich hier auf einem Terrain, das Sie nicht kennen. Sie werden auf eine Mauer des Schweigens stoßen. Geredet wird nur, um jemanden anzuschwärzen, wenn es gerade opportun erscheint. Sie werden es nicht leicht haben.«

War das so etwas wie eine Warnung? Oder stand Alexandra Malik auf Leopolds Seite? »Warum sind Sie zurückgekommen? Nur, um mir das zu sagen? Oder gibt es da noch etwas anderes?«, forschte er.

»Sie dürfen nicht so direkt sein«, instruierte Alexandra Malik ihn. »Damit erreichen Sie hier überhaupt nichts.«

»Das ist eben so meine Art«, ging Leopold darüber hinweg. »Man muss die Leute aufrütteln, aus ihrer gewohnten Sicherheit bringen. Verdächtig ist ja im Grunde jeder, der engeren Kontakt mit Frau Winkler hatte. Da ist sicher mehr an versteckten Verbindungen gelaufen, als es den Anschein hat. Wer sind denn Ihre drei Partnerinnen vom Bauernschnapsen? Auch Schauspielerinnen? Die würden gut ins Bild passen: eiskaltes Schweigen bis auf ein paar Gemeinheiten, tödlicher Blick.«

»Da müssen Sie schon selber draufkommen«, ließ Frau Malik ihn wissen. »Ich werde doch nichts über meine Kolleginnen ausplaudern. Sie haben einige Anhaltspunkte. Machen Sie was draus!«

Leopold fröstelte. Erst jetzt merkte er, dass er nur in Hemd und Hose, seiner neuen Livree, hinaus auf die Straße gegangen war. Der Wind blies ihm um die Ohren. Er versuchte sich zu orientieren. Seinem Gefühl nach waren sie bereits ein gutes Stück vom Café Schopenhauer entfernt. Vor sich nahm er die Umrisse von Bäumen wahr. Das musste, seinem räumlichen Vorstellungsvermögen nach, der Schubert-Park sein, eine nicht allzu große Grünanlage an der Stelle des ehemaligen Währinger Friedhofes, auf dem ursprünglich so berühmte österreichische Schriftsteller wie Johann Nestroy oder Franz Grillparzer oder der Musiker Ludwig van Beethoven ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.

Grillparzer. War es Zufall, dass Leopold gerade jetzt an ihn erinnert wurde? Er konnte das Stichwort »Grillparzer-Geschichte« fallen lassen, um zu sehen, wie seine Begleiterin darauf reagierte.

Aber es rächte sich, dass er sie für einen Moment aus den Augen gelassen hatte. Alexandra Malik war still und heimlich irgendwo in Richtung der Bäume verschwunden.

*

Leopold war rechtschaffen müde, als er nach getaner Arbeit in seiner neuen Heimstätte, die er nun gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Erika Haller bewohnte, eintraf. Als er ins Wohnzimmer trat, erinnerte er sich, wie er dort vor einigen Monaten mitten in der Nacht seine Tochter Sabine aufgeschreckt hatte. Diesmal wohnte sie nicht bei ihm und Erika. So konnte er noch ein wenig in Ruhe und allein seinen Gedanken nachhängen. Mit Sabine würde er sich morgen im Heller treffen.

Er öffnete das Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Es war gut, wieder daheim in Floridsdorf, dem Bezirk, in dem er aufgewachsen war, zu sein. Von der Donau her kam durch die Jedleseer Au die unverwechselbare frische Luft, die er liebte. Leopold sog sie mit ein paar tiefen Atemzügen ein, ehe er sich daranmachte, seine bisherigen Erkenntnisse auf einem Blatt Papier aufzuzeichnen.

Bemerkung 1: Katja Winkler lebte zurückgezogener, als man es von ihr als Schauspielerin erwartet hätte. Bisher festgestellte Kontaktpersonen: Tochter Jennifer, Ex-Ehemann Gottfried, Ex-Anbeter Burckhardt und Ex-Kollegin Alexandra Malik. Es muss aber zahlreiche weitere Bekannte geben, die natürlich auch als Mörder infrage kommen.

Wichtig: An weitere Fotos von Katja Winkler (zusammen mit anderen Personen!) herankommen und feststellen, mit wem sie in früheren Produktionen gemeinsam spielte (Sabine ansetzen!).

Bemerkung 2: Mögliche Tatmotive: a) eine »Grillparzer-Geschichte«, deren Hintergrund noch im Dunkeln liegt, b) die Verletzung, die zu Katja Winklers Karriereende führte, c) ihr Charakter: Von ihrem Ex-Gatten wird sie als boshaft geschildert, von Oliver als scharf auf junge Männer.

Wichtig: Weitere Personen auf die »Grillparzer-Geschichte« ansprechen und bei Unsicherheiten nachhaken.

Bemerkung 3: Einige Spuren weisen nach Floridsdorf. Katja Winkler kommt aus dem Bezirk, Tochter Jennifer lebt dort und geht dort ins Gymnasium. Katja spielte im Theater am Spitz und war mit Kolleginnen und Kollegen im Café Heller.

Wichtig: a) Informationen über Jennifer einholen (Thomas Korber!), b) Kontakt zum ehemaligen Theaterdirektor Benedikt Rötzer aufnehmen, c) eigene Erinnerungen abrufen, soweit möglich.

Bemerkung 4: Was bezweckte Alexandra Malik mit dem Gespräch mit mir? Will sie mich auf ihre Partnerinnen beim Bauernschnapsen ansetzen? Oder auf die Spur, die nach Floridsdorf führt, aufmerksam machen?

Wichtig: So schnell wie möglich mehr über die vier Frauen herausfinden.

Während er so schrieb, merkte Leopold gar nicht, dass seine Lebensgefährtin Erika Haller ins Wohnzimmer gekommen war. Als er sie sah, fuhr er erschreckt in die Höhe. »Oh, ich dachte, du schläfst schon«, begrüßte er sie ein wenig verlegen.

»Ich wollte auf dich warten, Schnucki! Aber dann bist du nicht dahergekommen, und ich bin eingenickt«, teilte sie ihm mit. »Na, wie war dein erster Tag in der Fremde?«

»Es ging so«, erklärte er ihr. »Viel habe ich noch nicht herausgefunden. Gut, dass Sabine morgen im Heller ein paar Stunden für mich einspringt. Da werde ich mich zunächst ein wenig ausruhen. Dann schaue ich kurz bei ihr vorbei, und sie kann mir gleich helfen.«

»Das sieht dir wieder ähnlich«, schalt Erika ihren Liebling. »Kaum kommt dich deine Tochter besuchen, wird sie gnadenlos von dir ausgenutzt. Und woanders lässt du sie auch wohnen, wo sie womöglich bezahlen muss.«

»Sie will das so«, befand Leopold achselzuckend. »Sie möchte sich ein wenig von mir abnabeln. Ich finde nichts dabei. Und wie war’s bei dir?«

Erika sah ihn ungläubig an. Es war sehr lange her, dass er sie so etwas gefragt hatte. »Im Moment ist alles ein wenig anstrengend«, erzählte sie ihm. »Die Umsätze in der Papeterie gehen zurück. Da ist die Konkurrenz durch das Internet, die Tatsache, dass alles, was mit Papier zusammenhängt, immer weniger interessant für die Leute wird … Nein, Sorgen brauchst du dir keine zu machen, Schnucki«, beruhigte sie ihn, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Ich habe schon noch mein Auslangen. Aber beizeiten muss ich mir überlegen, wie’s weitergeht.«

Leopold nahm Erika bei der Hand. »Denk nicht zu viel darüber nach«, bat er sie.

»Das sagst gerade du«, gab sie lächelnd zurück.

»Müde?«, wollte er wissen.

Erika ahnte, was er vorhatte. »Wir können noch ein wenig kuscheln, aber mehr nicht«, ließ sie ihn wissen.

»Niemand stört uns, nicht einmal Sabine«, versuchte Leopold, sie rumzukriegen.

Erika hob den Zeigefinger: »Nur kuscheln!«

Wenig später konnte man draußen durch das gekippte Fenster lustvolle Geräusche hören, die anzeigten, dass es doch nicht beim Kuscheln geblieben war.

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18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
263 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839265826
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