SO VIEL LIEBE WIE DU BRAUCHST

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Aus allem, was wir nun bereits über Liebesbeziehungen gesagt haben, lässt sich Wesentliches über das Geheimnis der romantischen Anziehungskraft ableiten. Mehr als uns bewusst ist, suchen wir nach einem Menschen, der ähnliche Charaktereigenschaften besitzt wie jene Menschen, die uns großgezogen haben. Dahinter verbirgt sich der Wunsch, der unserer Imago entsprechende Partner möge unsere unbewussten und bisher unerfüllten Bedürfnisse stillen.

Gleichzeitig verstehen wir jetzt auch die Konflikte, die in einer Ehe oder dauerhaften Partnerschaft auftreten können, sehr viel besser: Suchen wir in erster Linie Partner, die unseren Eltern in einem besonderen Maße ähneln, sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht, werden wir fast unweigerlich wieder mit unseren alten Wunden konfrontiert. Aber wir wählten jenen Partner, da genau jene Charaktereigenschaften am besten geeignet sind, um unsere frühesten Kindheitserinnerungen an unsere primären Bezugspersonen zu aktivieren.

Bevor wir jedoch in den Morast von Konflikten und Verwirrungen eintauchen, den wir als Machtkampf bezeichnen, möchten wir uns mit der Ekstase der romantischen Liebe beschäftigen, mit den ersten Monaten oder Jahren einer Liebesbeziehung, in welchen uns Tag für Tag die wunderbare Erwartung erfüllt, tiefe Lebendigkeit und Lebensfreude genießen zu können.

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Die Phase der romantischen Liebe

In uns beiden verbergen sich viele.

Ovid

Aus unserer eigenen Partnerschaft und auch aus Erzählungen anderer wissen wir, dass die meisten Verliebten glauben, die Phase ihrer Verliebtheit sei ganz außergewöhnlich und einzigartig, nicht zu vergleichen mit den Erfahrungen, die andere Menschen machen. Ohne es zu wissen, finden wir während unserer Verliebtheit zurück zu unserer wahren inneren Natur – einem Zustand wahren Glücks und tiefer Verbundenheit. Während unserer Kindheit haben wir den bewussten Zugang hierzu verloren. Da wir süchtig nach dieser authentischen Erfahrung sind, kehren wir in unseren Erinnerungen immer wieder dorthin zurück. Bitten wir Paare, uns über die wunderbaren ersten Wochen ihrer Beziehung zu erzählen, beschreiben sie eine perfekte Welt. Alle Menschen rund um sie waren freundlicher, die Farben leuchteten bunter, das Essen schmeckte besser – alles um sie herum erstrahlte in einem ganz neuen Glanz.

Sie fühlten sich unglaublich wohl in ihrer Haut. Sie hatten einfach mehr Energien und einen positiveren Blick auf ihr Leben. Sie empfanden sich als geistreicher, spielerischer und optimistischer. Sahen sie in einen Spiegel, konnten sie das Gesicht, das sie ansah, mit ganz neuem Wohlwollen betrachten – denn vielleicht hatten sie tatsächlich die Liebe ihres Partners verdient! Manche Menschen fühlten sich so wohl in ihrer Haut, dass sie vorübergehend dazu imstande waren, das Streben nach Ersatzbefriedigungen aufzugeben, die ein Gefühl von Verbundenheit und voller Lebendigkeit vortäuschten. Das Bedürfnis verschwand, sich mit Süßigkeiten, Drogen oder Alkohol zu berauschen, und sie mussten sich weder durch Videospiele noch durch alte TV-Serien ablenken und so das Fehlen der vollen Lebendigkeit kompensieren. Überstunden verloren ihren Reiz und selbst das Streben nach Geld und Macht verlor an Bedeutung. Die Erfahrung des Verliebtseins ließ sie mit wenig zufrieden sein und steigerte ihr Interesse an allem. Das Leben bestand aus purer Freude und sie fühlten sich wie der Mittelpunkt des Universums.

Am Gipfel dieser Zeit der romantischen Liebe strahlen diese intensiven positiven Gefühle auch nach außen, als wollen sie die ganze Welt umarmen. Verliebte sind anderen gegenüber viel liebevoller und fühlen mehr Verbundenheit. Manche sind mit einer höheren spirituellen Bewusstheit gesegnet, manche verspüren eine innere Ganzheit und eine Verbundenheit mit der Natur, die sie seit Langem nicht mehr erlebt haben. Sie nehmen die Welt nicht durch das Prisma ihres verwundeten Selbst wahr, sondern durch die frisch polierte Linse ihrer ursprünglichen Haltung der Freude und Verbundenheit.1

Lynn und Peter, das Ehepaar, das wir Ihnen am Ende des vorangegangenen Kapitels vorgestellt haben, erzählten, als sie frisch verliebt waren, haben sie einen Tag mit Sightseeing in New York verbracht. Nach dem Essen fuhren sie spontan mit dem Fahrstuhl auf das Empire State Building, wo sie den Sonnenuntergang erleben wollten. Sie hielten sich an den Händen und sahen auf die vielen Menschen hinunter, voll Mitgefühl, dass diese ihr Gefühl der Ekstase nicht teilen konnten.

Zu allen Zeiten erlebten Menschen Verliebtheit auf ähnliche Weise, wie wir sehr schön einem Brief von Sophia Peabody an Nathaniel Hawthorne, geschrieben am 31. Dezember 1839, entnehmen können:2

Mein Liebster,

… was für ein Jahr liegt hinter uns! So wie ich Schönheit deute, so ist sie wahre Liebe, und deshalb liegen all das Gute und alle Wahrheit in ihr. Doch nur Menschen, die einander so lieben wie wir beide, können ihre wahre Bedeutung und Kraft spüren.

Meine Gedanken wollen sich den ungelenken Strichen meiner Schreibfeder nicht anpassen. Gott sei dir nahe mit seiner Liebe. Mir geht es sehr gut und heute Morgen bin ich in Danvers weit gewandert, obwohl es recht kalt war. Der Glanz dieses Tages erfüllt mich nun ganz. Gott segne dich in dieser letzten Nacht des alten Jahres. Es war das Jahr, in dem wir beide neu geboren wurden. Unser altes Leben, unsere alte Welt fiel von uns ab. Erleben wir nun nicht alle Dinge ganz neu?

Deine Sophie

Die Chemie der Liebe

Wie entsteht nun dieses Hochgefühl, das wir Verliebtheit nennen? Psychopharmakologen haben herausgefunden, dass Liebende fast immer „high“ sind, allerdings auf der Basis natürlicher Hormone und Chemikalien, die ihren Körper durchströmen und das Gefühl des Wohlseins bedingen.3 Während dieser Anziehungsphase schüttet das Gehirn Dopamin und Noradrenalin, zwei der vielen menschlichen Neurotransmitter, aus. Beide verursachen ein rosarot gefärbtes Weltbild, der Puls schlägt schneller, unsere Energie wächst und wir haben das Gefühl, die Dinge um uns herum schärfer wahrnehmen zu können.

Während dieser Phase wird auch verstärkt Oxytocin ausgeschüttet. Dieses äußerst wirkungsvolle Hormon beeinflusst viele Aspekte unseres Lebens, beispielsweise Geburt, Stillen, Orgasmus, das Bonding zwischen Mutter und Neugeborenem und das Gefühl von Verbundenheit zwischen Individuen. Manche nennen es auch das „Liebes- und Sexualhormon“. Während jener Zeit, in der Liebende fast jede Minute zusammen verbringen wollen, verstärkt das Gehirn auch die Produktion von Endorphinen und Enkephalinen, vom Körper selbst produzierte Opioide, die das Gefühl der Sicherheit und des Getragenseins eines Menschen noch verstärken. Dr. Michael R. Liebowitz, Professor für klinische Psychiatrie an der Universität Columbia, führt diesen Gedanken noch weiter, indem er davon ausgeht, dass das Empfinden einer fast mystischen Einheit, die Liebende beschreiben, durch den Anstieg des Neurotransmitters Serotonin bewirkt wird – jenes Hormons, das durch viele Antidepressiva angekurbelt wird.

Doch wie bestechend logisch aus pharmakologischer Sicht diese Erklärung auch erscheinen mag, es bleibt nach wie vor unklar, wie diese Chemikalien freigesetzt oder wann und warum sie wieder reduziert werden. In erster Linie wird so die Tatsache dokumentiert, dass Verliebtheit eine intensive, physische Erfahrung mit messbaren biologischen Komponenten ist – die Herzfrequenz steigt an, wir schwitzen mehr, benötigen weniger Schlaf und unsere Fähigkeit, uns zu konzentrieren, ist beeinträchtigt. Doch um diesen Prozess genauer verstehen zu können, müssen wir uns wieder der Psychologie zuwenden und der These, dass Verliebtheit in unserem Unbewussten entsteht und ein neuerliches Erleben jener tiefen Freude und Verbundenheit darstellt, die uns aus unserer frühesten Kindheit vertraut erscheinen können.

Die universelle Sprache der Liebe

Im vorangegangenen Kapitel haben wir versucht, eine Erklärung für das Phänomen der Verliebtheit anzubieten. Am Anfang einer Liebesbeziehung sind wir sehr euphorisch, weil ein Teil unseres Gehirns der Überzeugung ist, endlich die Chance zu haben, ausreichend geliebt zu werden und die ursprüngliche Ganzheit wiedererlangen zu können.

Wenn wir uns näher damit befassen, finden wir auch ausreichend Beweise für diese Überzeugung. Hören wir Liebeslieder, lesen wir Liebesgedichte, Liebesromane oder sehen wir Liebesdramen in Film, Theater oder Oper, dann erkennen wir die universelle Sprache der Liebenden. Ich habe sie mit den Hunderten von Beschreibungen verglichen, mit denen Paare den Beginn ihrer Beziehung in Worte zu fassen versuchten. Und ich bin zu der Erkenntnis gelangt, dass alle Worte, die seit Beginn unserer Zeit zwischen Liebenden ausgetauscht wurden, sich auf vier essenzielle Aussagen reduzieren lassen – der Rest ist schmückendes Beiwerk. Gerade diese vier Aussagen eröffnen uns den Blick auf das unbewusste Reich der romantischen Liebe.

Die erste dieser Aussagen fällt relativ früh in einer Beziehung, vielleicht während des ersten oder zweiten Treffens, und sie lautet etwa so: „Ich weiß, dass wir uns gerade erst getroffen haben, doch irgendwie habe ich das Gefühl, dich schon seit Jahren zu kennen.“ Dieser Ausspruch kann nicht nur als einfaches Ritual gedeutet werden. Aus ihnen selbst unerklärlichen Gründen fühlen sich Liebende sehr entspannt, wenn sie zusammen sind. Sie haben das Gefühl, in Resonanz zueinander zu sein, fast, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Wir möchten dieses Gefühl als das Phänomen der Wiedererkennung bezeichnen.

Etwas später tauschen die Liebenden dann vermutlich einen zweiten, bedeutsamen Satz aus: „So merkwürdig es klingen mag“, sagen sie, „ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass es eine Zeit gab, in der ich dich nicht kannte.“ Obwohl sie einander vielleicht erst seit einigen Wochen oder Monaten kennen, haben sie das Gefühl einer großen Vertrautheit miteinander, so, als hätten Zeit und Raum nie eine Rolle gespielt. Diesen Eindruck möchten wir als das Phänomen der Zeitlosigkeit bezeichnen.

 

Während nun die Beziehung weiter reift, sehen sich die Liebenden gegenseitig in die Augen, um die dritte, wichtige Aussage zu tätigen: „Bin ich mit dir zusammen, bin ich nicht mehr einsam. Ich fühle mich von dir einfach ergänzt.“ Patrick, einer unserer Klienten, drückte das folgendermaßen aus: „Bevor ich Diane traf, hatte ich das Gefühl, ich sei mein ganzes Leben lang durch ein großes Haus mit leeren Zimmern gewandert. Als ich sie traf, war mir, als würde ich eine Tür öffnen und endlich jemanden im Haus finden.“ Das Zusammensein mit Diane beendete seine verzweifelte Suche nach seelischer Ganzheit. Das schenkte ihm eine ganz neue Art der Erfüllung. Wir möchten es das Phänomen der Wiedervereinigung nennen.

Schließlich, am richtigen Punkt ihrer Beziehung, sagen Liebende den entscheidenden Satz: „Ich liebe dich so sehr, dass ich nicht mehr ohne dich leben kann.“ Sie haben sich so aufeinander eingelassen, dass sich keiner von beiden mehr eine unabhängige Existenz vorstellen kann. Das möchten wir als Phänomen der Abhängigkeit bezeichnen.

Ob die Liebenden diese Worte tatsächlich aussprechen oder „nur“ die Gefühle erleben, die sich dahinter verbergen, sie bestätigen unsere Gedanken über die Phase der romantischen Liebe und die Natur des Unbewussten.

Der erste Satz – durch den die Liebenden ein vages Gefühl des Wiedererkennens formulieren – verliert etwas von seinem geheimnisvollen Charakter, wenn wir bedenken, dass Menschen einen Partner auswählen, der den eigenen, primären Bezugspersonen ähnelt. Das erklärt, warum es ein Déjà-vu-Erlebnis, ein Gefühl fast familiärer Vertrautheit gibt. Unbewusst fühlen sie sich wieder in Kontakt mit ihren Bezugspersonen, nur glauben sie, dass dieses Mal ihre tiefsten, elementarsten kindlichen Bedürfnisse erfüllt werden können. Hier ist ein Mensch, der sich um sie kümmern wird, sodass sie sich nie mehr bedürftig oder einsam fühlen werden.

Die zweite Aussage: „Ich kann mich an keine Zeit zurückerinnern, wo ich dich noch nicht kannte“, belegt, dass sich die romantische Liebe aus der Funktionsweise des Alten Gehirns erklärt. Verlieben sich Menschen, vermischt ihr Altes Gehirn das Bild ihres Partners mit dem ihrer primären Bezugspersonen, und damit betreten sie das vermeintliche „Paradies“. Für das Unbewusste erzeugt die intensive Liebesbeziehung die Vorstellung, wieder in den Armen einer einfühlsamen Mutter zu liegen.

So können wir tatsächlich an Liebenden, die sich am Beginn ihrer Beziehung in der entscheidenden Phase der romantischen Liebe befinden, beobachten, dass beide einen ähnlichen Bindungsprozess durchlaufen wie Mütter mit ihren neugeborenen Kindern. Die Forschung meint, das Hormon Ocytocin befeuert die Verhaltensweisen beider Partner.4 Sie gurren miteinander, nennen sich mit Kosenamen und tauschen selbsterfundene Laute oder Wörter aus, die ihnen in der Öffentlichkeit höchst peinlich wären. Sie streicheln, tätscheln und erfreuen sich an jedem Quadratzentimeter Haut des anderen. „Was du für einen hübschen Bauchnabel hast!“ Oder: „Deine Haut ist so weich!“ – ganz ähnlich wie die Worte einer Mutter, die ihr neugeborenes Baby bewundert. Gleichzeitig bestätigen sie auch, dass sie füreinander die „Elternrolle“ übernehmen wollen: „Ich werde dich so lieben, wie noch nie ein Mensch zuvor!“ Das Unbewusste interpretiert diese Aussage sofort im Sinne von: „Mehr als Vater und Mutter!“

Unnötig zu sagen, dass das Alte Gehirn sich bei diesen regressiven Verhaltensäußerungen äußerst wohl fühlt. Die Liebenden glauben „geheilt“ zu sein – nicht etwa durch mühevolle Arbeit in Form von Selbsterkenntnis, sondern durch den schlichten Verschmelzungsakt mit jemandem, den ihr Altes Gehirn mit ihren primären Bezugspersonen verwechselt.

Wie steht es nun mit der dritten Aussage – dem Gefühl der Ganzheit und tiefen Verbundenheit, das Liebende empfinden? Bestätigen sie einander: „Wenn ich mit dir zusammen bin, fühle ich mich endlich ergänzt“, so geben sie unbewusst zu, dass sie diesen Menschen ausgesucht haben, weil er für jene Anteile ihrer Persönlichkeit steht, die in ihrer Kindheit verloren gegangen sind. Sie haben ihr Verlorenes Selbst wiedergefunden. Ein Mensch, der lernen musste seine Gefühle weitgehend zu unterdrücken, wird sich jemanden suchen, der extrovertiert ist. Ist jemand unsicher in seiner Sexualität, wird er einen Partner wählen, der sinnlich und frei ist. Verlieben sich nun Menschen mit ihren gegensätzlichen Charaktereigenschaften, haben sie plötzlich das Gefühl, die Zeiten der Repression und der Verdrängung hinter sich gelassen zu haben. Wie die androgynen, halbierten, mythischen Wesen in Platons Sage waren beide vorher nur halbe Menschen. Jetzt erst können sie sich als vollständige menschliche Wesen erleben. Zusammen fühlen sie sich wieder als ein Ganzes. All ihre Wünsche scheinen sich endlich zu erfüllen, denn sie erleben nun wieder den ursprünglichen Zustand der tiefen Verbundenheit.

Was sagt die vierte Aussage – dass Liebende meinen, ohne einander nicht mehr leben zu können, ja sterben zu müssen – über die Natur der romantischen Liebe aus? Zuerst einmal wird deutlich, dass Liebende unbewusst die Verantwortung für ihr Wohlergehen und sogar ihr Überleben statt wie in ihrer Kindheit auf ihre Eltern nun auf ihre Partner übertragen. Dieses wunderbare Wesen, das Eros in ihnen geweckt hat, muss sie nun immerfort vor Thanatos, dem Gott des Todes in der griechischen Mythologie, bewahren. Kümmern sich die Partner nun auch noch um die früher nicht befriedigten kindlichen Bedürfnisse, werden sie zu wichtigen Verbündeten im Überlebenskampf. Auf einer tieferen Bewusstseinsebene macht dieser Satz deutlich, dass Liebende fürchten, bei einer möglichen Trennung ihre wiedergewonnene Ganzheit und Verbundenheit zu verlieren, ebenso wie ihr Gefühl, ein wertvoller Teil unserer Welt zu sein.

Ein kurzes Zwischenspiel

Für eine gewisse Zeitspanne können diese Ängste erfolgreich unterdrückt werden und die Liebenden glauben, dass sie in der Gemeinsamkeit heil und ganz werden. Alleine schon das Zusammensein wirkt heilsam und wohltuend auf sie. Da sie so viel Zeit wie nur möglich miteinander verbringen, fühlen sie sich nicht mehr einsam oder isoliert. Während ihr gegenseitiges Vertrauen wächst, vertiefen sie ihre Intimität. Vielleicht erzählen sie auch von frühen Verletzungen aus ihrer Kindheit, worauf ihr Partner sein Mitgefühl bekundet: „Es macht mich so traurig, dass du das erleben musstest!“ Oder: „Wie schrecklich, dass du als Kind so viel leiden musstest!“ Die Liebenden haben den Eindruck, noch nie zuvor habe ein anderes menschliches Wesen sich so für ihr Innenleben interessiert, nicht einmal ihre eigenen Eltern.

Während sie nun einander diese intimen Gedanken anvertrauen, erleben sie Momente empathischen Einfühlens und nehmen bewusst an der Welt des anderen teil. In diesen seltenen Momenten bewerten sie einander nicht gegenseitig, sie interpretieren die Worte des Geliebten auch nicht oder vergleichen sie mit ihren eigenen Kindheitserlebnissen. Sie sind ganz beim anderen. Für eine kurze Zeitspanne hören sie auf, sich nur für sich selbst zu interessieren, und nehmen an der Wirklichkeit eines anderen Menschen teil.

Doch die Verliebtheit hilft uns auch auf andere Art und Weise, nicht nur durch Worte und einfühlsame Gesten. Mit einer Art sechstem Sinn ausgestattet erspüren Liebende ganz genau, was ihrem Partner fehlt, eine Fähigkeit, die oft in späteren Phasen der Beziehung wieder verloren geht. Möchte der Partner liebevoller umsorgt werden, spielen sie gerne Mutter oder Vater für ihn. Wünscht er sich mehr Freiraum, geben sie ihm Freiraum. Sucht er nach Unterstützung, beschützen und bestätigen sie ihn. Sie überschütten einander mit liebevollen Aufmerksamkeiten, die ihre frühen Kindheitsentbehrungen aufzuheben scheinen. Die Phase der romantischen Liebe ähnelt der seltenen Situation, das bevorzugte Kind in einer Idealfamilie zu sein.

Illusionen

Lange Zeit glauben Liebende bedingungslos an ihre große Liebe. Dabei ist jedoch eine Art unbewusstes Rollenspiel beteiligt. Der Versuch etwa, sich dem anderen gegenüber als psychisch viel gesünder auszugeben, als man in Wirklichkeit ist, gehört auf jeden Fall dazu. Denn wir erscheinen besonders attraktiv für unseren Partner, wenn wir wenig eigene Bedürfnisse haben und unseren Partner offensichtlich gut umsorgen.

Ein Paar, Louise und Steve, beschrieb uns, wie sehr sie sich angestrengt hatten, um einander als perfekte Partner zu erscheinen. Eine Woche nachdem sie einander ihre Liebe gestanden hatten, lud Louise Steve zu einem Abendessen zu zweit in ihre Wohnung ein. „Ich wollte ihm mein Talent als Hausfrau zeigen“, sagte sie. „Er sah in mir nur die Karrierefrau und ich wollte ihm beweisen, dass ich auch gut kochen kann. In Wahrheit kann ich zwar kochen, aber nicht besonders gut. Und ich koche auch nicht gern – das habe ich Steve damals jedoch nicht gestanden. Seit meiner Scheidung ernährte ich mich von Fast Food oder durch Restaurantbesuche.“ Da ihr eigenes Leben so unproblematisch wie nur möglich aussehen sollte, schickte sie ihren elf Jahre alten Sohn aus einer früheren Ehe zu einer Freundin – es erschien ihr nicht opportun, ihrem neuen Liebhaber gleich alle Alltagsprobleme vorzuführen. Dann putzte sie das Haus und stellte ein Menü zusammen, das zwei Dinge enthielt, die sie wirklich gut zubereiten konnte – Quiche und gegrilltes Gemüse. Alle Räume hatte sie mit frischen Blumen dekoriert. Als Steve das Haus betrat, war das Essen fertig, ihr Make-up frisch, im Hintergrund spielte leise klassische Musik.

Steve selbst war besonders charmant und hilfsbereit. „Ich brachte einen sehr edlen Wein mit, teurer als jener, den ich sonst trinke. Und nach dem Essen bestand ich darauf, mit ihr abzuwaschen und sogar noch eine Lampe zu reparieren.“ Steve demonstrierte seine Begabungen als Ernährer und Techniker. In folgenden Monaten gelang es ihnen, ihr Leben so aufeinander abzustimmen, dass beide nur wenig eigene Bedürfnisse zeigten.

Bei manchen Paaren nehmen diese Illusionen so extreme Formen an, dass die Beziehung daran zerbrechen kann. Das traf auch auf Brad und Jessica zu. Jessica ging immer wieder Beziehungen zu Männern ein, die besonders unzuverlässig waren. Sie hatte schon zwei gescheiterte Ehen und zwei weitere schwierige Beziehungen hinter sich. Die Partnerschaft, in der sie endgültig erkannte, dass sie therapeutischer Hilfe bedürfe, war die zu einem Mann namens Brad, der ihr zuerst vollkommen ergeben zu sein schien. Sie wandte sich an mich (Harville), da ihr Wunsch nach einer dauerhaften Partnerschaft übermächtig wurde.

Jessica erzählte, dass sie sich sehr zu Brad hingezogen gefühlt hatte bei ihrer ersten Begegnung. Nachdem er ihr Vertrauen gewonnen hatte, erzählte sie ihm von ihren früheren Enttäuschungen. Brad hörte ihr voll Mitgefühl zu und versicherte, er würde sie nie verlassen: „Geht hier jemand, dann wirst du es sein!“ Er erschien wie der berühmte Fels in der Brandung, stabil und vertrauenswürdig, und genau danach hatte Jessica ihr ganzes Leben lang schon gesucht.

Während der nächsten sechs Monate verbrachten sie fast ihre ganze freie Zeit zusammen. Jessica entspannte sich sichtlich in dieser Beziehung, die ihr so viel Sicherheit vermittelte. Doch eines Tages kam sie von der Arbeit nach Hause und fand eine E-Mail von Brad. Er teilte ihr mit, man hätte ihm einen besser bezahlten Job in Alaska angeboten, den er einfach nicht ausschlagen könnte. Er hätte es ihr zwar lieber persönlich erzählt, doch habe er Angst vor ihrer Reaktion. Er hoffte, dass sie ihn verstehen könnte.

Nachdem Jessica sich von ihrem ersten Schock erholt hatte, rief sie Brads besten Freund an, ob er ihr Näheres erzählen könnte. Während sie ihm zuhörte, entstand plötzlich vor ihrem geistigen Auge eine ganz andere Persönlichkeit. Brad hatte es noch nie lange an einem Ort ausgehalten. In den vergangenen 15 Jahren war er bereits fünf- oder sechsmal umgezogen und hatte zweimal geheiratet.

Wir haben den Verdacht, dass Brad ursprünglich wirklich gute Absichten hatte, diese Rolle zu übernehmen. Es ist unwahrscheinlich, dass er eine Partnerschaft mit Jessica aufbaute und ihre Liebe vertiefte, mit dem Gedanken spielend, sie wieder zu verlassen. Doch seine Kräfte reichten nicht aus, diesen Part wirklich auszufüllen und zu Ende zu spielen.

 

Verleugnen

In einem gewissen Maße greifen wir alle hin und wieder auf das Instrument des „Verleugnens“ zurück, um mit unserem Leben zurechtzukommen. Immer wenn wir vor schwierigen Aufgaben oder schmerzlichen Entscheidungen stehen, sind wir versucht, die Wirklichkeit zu ignorieren. Wir schaffen uns lieber eine angenehmere Fantasie. Doch zu keiner Zeit ist unsere Tendenz, Unangenehmes zu leugnen, stärker entwickelt als in der ersten, romantischen Phase einer Liebesbeziehung.

John, ein Mann von 30 Jahren, der in meine (Harville) Praxis kam, hatte eine besondere Vorliebe für das Verleugnen entwickelt. Er hatte als Programmierer ein so erfolgreiches Software-Programm entwickelt, dass er bald seine eigene Firma gründen konnte. Die ersten zehn bis fünfzehn Minuten jeder Therapiesitzung sprach er über seine Firma und wie gut die Geschäfte gingen. Dann stockte die Unterhaltung, und während er seinen Blick von mir abwandte, sprach er über das eigentliche Thema unseres Treffens, Cheryl, die Frau, die er liebte. Er war regelrecht besessen von ihr und hätte sie auf der Stelle geheiratet, wenn sie nur „Ja“ gesagt hätte. Doch Cheryl weigerte sich konstant, seine Hoffnungen auf eine feste Partnerschaft zu erfüllen.

Als John Cheryl zum ersten Mal traf, schien sie für ihn das zu repräsentieren, was er sich von einer Frau immer gewünscht hatte. Sie war attraktiv, intelligent und äußerst sinnlich. Doch nach einigen Monaten erkannte er auch negative Seiten an ihr. Gingen sie gemeinsam in ein Restaurant, konnte er sehr oft miterleben, wie sie an allem herummäkelte, gleichgültig, wie gut das Essen in Wirklichkeit war. Gleichzeitig bemerkte er, dass sie sich fast endlos über ihren Beruf beklagte, ohne irgendwelche Anstrengungen zu unternehmen, diese Probleme zu lösen.

Damit er diese negativen Charaktereigenschaften nicht so deutlich wahrnehmen musste, bediente sich John einer wahren Gehirnakrobatik. Ging er mit ihr in ein Restaurant, interpretierte er ihre Nörgelei als Beweis dafür, dass sie ein echter Gourmet war. Klagte und stöhnte sie über ihre Arbeitsbedingungen, sagte er zu sich, was sie doch für eine kämpferische Frau sei, die solch ein berufliches Umfeld ertragen könnte. „Andere hätten diese Tätigkeit längst aufgegeben“, berichtete er mir nicht ohne Stolz.

Schließlich blieb nur noch eine einzige Eigenschaft übrig, die ihn an Cheryl

störte: Immer schien sie ihn auf Distanz zu halten. Die Situation verschlimmerte sich, nachdem Cheryl ihn gebeten hatte, sie während der Woche nicht mehr einzuladen, da sie „mehr Freiraum“ brauchte. Sie kannten einander gerade sechs Monate. Widerstrebend ging John auf ihre Bedingung ein, wenngleich er wusste, dass sie sich in der Zwischenzeit immer wieder mit anderen Männern traf.

Gleichsam als Ausgleich dazu begann John, sich mit einer anderen Frau, Patricia, zu treffen, die Cheryl überhaupt nicht ähnelte. Sie war ihm ergeben, verständnisvoll und geduldig, kurz, sie liebte ihn. „Sie würde mich sofort heiraten“, erzählte John eines Tages, „genauso wie ich Cheryl jederzeit heiraten würde. Doch ich liebe Patricia einfach nicht genug. Zwar ist das Zusammensein mit ihr viel angenehmer. Aber wenn ich nicht mit ihr zusammen bin, denke ich fast nie an sie. Es kommt mir dann vor, als würde sie nicht mehr existieren. Vielleicht nütze ich sie aus, doch ich möchte einfach nicht alleine sein, wenn Cheryl keine Zeit für mich hat. Patricia hilft mir, dieses Loch zu füllen.“ Gleichzeitig dachte er jedoch ständig an Cheryl. „Immer, wenn ich nicht mit meiner Arbeit beschäftigt bin“, so sagte er mir, „träume ich von Cheryl.“

Warum war John nun Patricias liebevoller und hingebender Art gegenüber immun, aber übereifrig, wenn es galt, Cheryls Fehler zu leugnen? Es überrascht uns nicht, dass Johns Mutter eine sehr kritische, distanzierte Frau war, ähnlich wie Cheryl. Oft trat ein besorgter Ausdruck in das Gesicht seiner Mutter und sie schien John einfach nicht mehr wahrzunehmen. John wusste nie, was in ihr vorging. Wie alle Kinder, so interessierte auch er sich nur wenig dafür, was seine Mutter dachte oder fühlte. Er registrierte nur, dass sie für ihn oft nicht greifbar war, was Angst in ihm auslöste. Wenn sie diesen abwesenden Gesichtsausdruck hatte, wurde John manchmal zornig und versuchte sie zu schlagen. Doch sie stieß ihn einfach zurück und schickte ihn auf sein Zimmer. Wurde er besonders wütend, schlug sie ihn und sprach mehrere Stunden lang kein Wort mehr mit ihm.

Schließlich lernte John, stumm zu leiden. Er kann sich noch sehr gut an den Tag erinnern, als er diese neue Verhaltensweise ausprobierte. Seine Mutter hatte ihn gerade angeschrien und mit einer Haarbürste geschlagen. Er erinnert sich nicht mehr genau, was sie so wütend gemacht hatte. Allerdings blieb ihm bewusst, dass er ungerecht behandelt worden war. Schluchzend zog er sich in sein Zimmer zurück, wo er sich in seinem Schrank versteckte. Er zog die Schranktür zu, auf deren Innenseite ein Spiegel angebracht war. Er knipste das Licht an und betrachtete sein Tränen überströmtes Gesicht. Niemand kümmert sich darum, wenn ich hier oben weine, sagte er zu sich selbst, was hilft es mir also? Nach einer Weile versiegten seine Tränen und er trocknete sein Gesicht. An diesem Tag hatte er gelernt, seine Wut und seine Traurigkeit hinter einer undurchdringlichen Maske zu verbergen.

Auf dem Hintergrund dieser Kindheitserinnerungen wird auch Johns merkwürdige Abhängigkeit von Cheryl verständlich. Stieß sie ihn zurück, um sich mit anderen Männern zu treffen, oder bat sie ihn, in den nächsten Tagen nicht anzurufen, empfand er wieder das gleiche elementare Verlangen nach Nähe, das er seiner Mutter gegenüber empfunden hatte. Tatsächlich ähnelten sich die beiden Frauen auf einer unbewussten Ebene derartig, dass er nicht zwischen ihnen unterscheiden konnte. Cheryls Kälte aktivierte in ihm die gleiche intensive Sehnsucht, die er seiner Mutter gegenüber empfunden hatte. Für sein Altes Gehirn war Cheryl seine Mutter und seine verzweifelten Anstrengungen, sie zu gewinnen, waren Ausdruck des kindlichen Weinens und Schreiens, das er eingesetzt hatte, um die Aufmerksamkeit seiner Mutter auf sich zu lenken.

Noch andere Dinge zogen ihn zu Cheryl hin – obwohl er es selbst heftig leugnen würde. Ihre giftigen, überkritischen Bemerkungen fand er irgendwie attraktiv. Diese dunkle Seite ihrer Persönlichkeit sprach ihn aus zwei Gründen an. Zum Ersten, wie wir bereits gesehen haben, erinnerte ihn diese Eigenschaft an seine Mutter. Zum Zweiten, und das war noch viel wichtiger für ihn, konnte John durch die Wut, die Cheryl immer recht freimütig äußerte, in Kontakt zu seinen eigenen negativen Gefühlen kommen. Denn innerlich fühlte er sich mindestens ebenso wütend wie Cheryl, nur hatte er gelernt, seine Feindseligkeit hinter einer verständnisvollen, sozial akzeptierten Maske stetiger Freundlichkeit zu verstecken. Während seiner Kindheit hatte sich diese Fassade als überlebensnotwendiger Schutz erwiesen, da er so den Launen seiner Mutter weitaus weniger ausgesetzt war. Doch als Erwachsener fühlte er sich innerlich leer, da er starke Gefühle weder spüren noch ausdrücken konnte. Im Zusammensein mit Cheryl brauchte er nicht selbst wütend zu werden. Das war sein unbewusster Weg, wieder mit seinem eigenen unterdrückten Ärger in Kontakt zu kommen.

Unser Heimkino

„Projektion“ nennt man die Tatsache, dass John unbewusste Selbstanteile wie seine Wut auf seine Geliebte überträgt. Er „projiziert“ seine eigene, unterdrückte Wut in Cheryls sichtbare Wut hinein. Natürlich hatte sie einen Charakter, der gern Ärger ausdrückte. Darüber hinaus erkannte er aber einen eigenen Anteil in Cheryl, einen Teil, der bisher mit seinem Selbstbild nicht vereinbar schien. Wie John, so projizieren auch wir immer wieder Anteile unseres Verleugneten oder Verlorenen Selbst wie ein Bild auf eine andere Person. Projektionen sind Teil unseres Lebens und treten keineswegs nur in unseren Liebesbeziehungen auf. Verliebte Menschen neigen dazu, Projektionen fast in einem Übermaß zu verwenden. Manche Menschen scheinen ihre Partnerschaft permanent zu einer Art Heimkino zu degradieren, da sie wie Fremde in einem verdunkelten Kinoraum sitzen, während sie einander mit flimmernden Bildern bewerfen. Sie nehmen sich nicht einmal genug Zeit, ihre Projektoren so lange abzuschalten, dass sie erkennen können, wer ihnen gegenüber sitzt und als Projektionsfläche für ihr Heimkino dient.

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