SO VIEL LIEBE WIE DU BRAUCHST

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Aufgrund dieser biologischen Fakten können wir sagen, dass ein Fötus ein ruhiges, schwebendes und angenehmes Leben führt. Er wird nicht mit Einschränkungen konfrontiert, ist sich seiner selbst nicht bewusst und weiß auch nicht, dass er in der Gebärmutter eingeschlossen ist. Weit verbreitet ist die Auffassung, dass ein Kind im Bauch seiner Mutter einen paradiesischen Zustand der Einheit erlebt, der frei von Wünschen ist. Der bekannte jüdische Theologe Martin Buber beschreibt es so: „Im Bauch unserer Mutter leben wir völlig im Einklang mit dem Universum.“2 Dieses idyllische Dasein findet ein abruptes Ende, wenn die ersten Wehen einsetzen, die das Baby aus der Gebärmutter hinausschieben. Draußen in der Welt verspürt das Baby das neue Bedürfnis nach Nahrung, Trost, Aufstoßen und einer sauberen Windel.

Wir erlebten dies bewusst und hautnah mit, als unsere Tochter Leah geboren wurde. Waren all ihre körperlichen Bedürfnisse befriedigt, kuschelte Leah sich in unseren Arm und blickte mit der Zufriedenheit eines kleinen Buddhas um sich. Sie wurde drei Stunden nach den ersten Anzeichen, dass sie bereit war, sich der menschlichen Gesellschaft anzuschließen, geboren. Ich (Harville) genoss das Privileg, sie aus dem Mutterleib holen zu helfen, die Nabelschnur durchschneiden zu dürfen und sie während der ersten 30 Minuten ihres Lebens im Arm zu halten. Ich hatte ein erschöpftes Gesicht, unkontrollierte Augenbewegungen und Mimik oder andere instinktive Reaktionen wie Rülpsen oder Weinen erwartet. Was ich stattdessen erlebte, entsprach meinen Erwartungen und den Beschreibungen der Bücher, die ich zum Thema Geburt gelesen hatte, nicht im Geringsten. Leah nahm sofort Augenkontakt mit mir auf, und wenn ich lächelte, lächelte sie zurück, was mich völlig verblüffte. Ich bewegte meinen Finger vor ihren Augen hin und her und ihr Blick folgte meinem Finger. Ich lächelte neuerlich und wieder lächelte sie zurück. Sie spiegelte auch das Öffnen und Schließen meines Mundes und lauschte aufmerksam meiner Stimme. Wenn Wissenschafter auch bisweilen behaupten, dass Neugeborene kein Gefühl für ihre Eigenständigkeit haben, kam Leah doch als soziales Wesen auf die Welt und trat sofort mit mir und anderen in Beziehung. Um unsere Wahrnehmungen zu überprüfen, suchten wir in wissenschaftlichen Artikeln nach Erklärungen. Wir fanden brandneue Erkenntnisse, die damals noch nicht allgemein anerkannt waren, selbst in der Entwicklungspsychologie noch nicht. Inzwischen entsprechen sie jedoch dem allgemeinen Stand der Wissenschaften.

Die Quintessenz lautet: Wird ein Baby durch Schmerzmedikamente betäubt, die seine Mutter bei der Geburt erhält, kann das Baby nicht zwischen sich selbst und dem Rest der Welt unterscheiden. Diesen Entwicklungszustand nennt man Symbiose. Das Kind interagiert, als wäre es mit der Mutter verschmolzen und hätte keine eigene Realität. Wenn Babys jedoch nicht unter Medikamenteneinfluss stehen, so sind sie wach und ganz klar im Kopf, haben Interesse für ihre Umgebung und beginnen sofort, als soziale Wesen mit ihrer Umwelt in Beziehung zu treten. Da Leah es so eilig gehabt hatte, zur Welt zu kommen, war keine Zeit geblieben, dass ich (Helen) Medikamente gegen die Geburtsschmerzen erhielt. So startete Leah ihr Leben ohne Drogen, mit dem Bewusstsein, ein eigenständiges Wesen zu sein, das sofort mit uns in Beziehung trat. Auch wenn sie noch unreif war und ihr Überleben ganz von uns abhing, war sie doch ein lebendiges, neugieriges und interaktives menschliches Wesen. In diesen ersten Momenten bauten wir eine ganz besondere Verbindung auf, die bis ins Erwachsenenleben geblieben ist und die auch andere Menschen wahrnehmen, wenn wir zusammen sind.

Inzwischen sind wir auch Großeltern und hatten das Privileg, diese idyllische Erfahrung auch mit Enkelkindern machen zu dürfen. Ich (Harville) durfte Clare, eine unserer Enkelinnen, als Neugeborenes begrüßen. Nach einer schweren Geburt brauchte unsere Tochter Schlaf, und so hatte ich das Glück, Clare die ersten sechs Stunden ihres neuen Lebens halten zu dürfen. Sie schlief die meiste Zeit davon und ich legte ihr kleines Köpfchen behutsam in die Nähe meines Herzens. Die ganze Zeit über war mir völlig bewusst, dass ich ein wunderbares kleines Geschöpf voll Leben und Freude in den Armen hielt. Als sie erwachte, wiederholten Clare und ich den intensiven Austausch, den ich vor vielen Jahren mit unserer Tochter Leah erlebt hatte, und auch mit Clare besteht nun eine tiefe Verbundenheit.

Als Erwachsene scheinen wir noch flüchtige Erinnerungen an diesen Zustand der ursprünglichen Verbundenheit zu besitzen. Es scheint, als könnten wir uns an eine entfernte Zeit erinnern, wo wir uns in einem Zustand tiefer Verbundenheit mit anderen und mit der ganzen Welt befanden. Martin Buber schildert, dass die Verbundenheit mit anderen auch das Einssein mit dem Universum bewirkt, eine Erfahrung, die wir immer wieder machen möchten. Sie birgt wunderbare Lebensfreude und Glück, denen wir fortan nachjagen möchten. In den Mythen vieler Kulturen wird genau das beschrieben, als könnten Worte ihm mehr Realität verleihen. Es ist die Geschichte eines besonderen Paradieses, des biblischen Garten Eden; die Geschichte vom goldenen Zeitalter des griechischen Dichters Hesiod; die Schilderung des hinduistischen Konzepts von Purusha oder des Sumerischen Berichts von Dilmun. Immer wieder berühren uns diese Mythen mit großer Macht.

Das Glück eines neugeborenen Kindes hält nicht für immer an. Freud bezeichnete uns als unersättliche Wesen, und nicht einmal die besten Eltern der Welt können sich perfekt auf ständig veränderte Bedürfnisse einstellen. Erwacht ein Kind am Morgen, beginnt es mit der Welt in Beziehung zu treten. Es weint, weil es Hunger hat. Es weint, weil die Windeln gewechselt werden müssen. Es möchte gehalten werden – die Sehnsucht nach körperlicher Nähe ist genauso stark wie das Bedürfnis nach Nahrung. Bekommt das Baby Magendrücken, so signalisiert es Unwohlsein auf die einzig mögliche Weise – mit undifferenziertem Weinen oder Schreien.

Wenn die Bezugspersonen einfühlsam sind, füttern sie das Baby, wickeln es, halten es zärtlich, wiegen es sanft – dann ist es vorübergehend zufrieden. Verstehen seine Bezugspersonen nicht, was das Baby braucht, oder halten sie ihre Aufmerksamkeit bewusst zurück aus Angst, das Baby zu sehr zu verwöhnen, oder sind sie überfordert oder mit sich selbst beschäftigt, erfährt das Baby einen Verlust an Verbundenheit und entwickelt Ängste: Die Welt scheint kein sicherer Ort zu sein. Die pulsierende und glückliche Atmosphäre verwandelt sich in graue Schatten. Das Baby hat keine Chance, sich um sich selbst zu kümmern, und nicht die Möglichkeit, die Befriedigung seiner Bedürfnisse aufzuschieben. Die Notwendigkeit, seine Umgebung zu einer Reaktion auf seine Bedürfnisse zu bewegen, ist eine Frage von Leben und Tod. Das schmerzhafte Gefühl von Angst wird getriggert und gleichzeitig wird die Sehnsucht aktiviert, das frühere Gefühl der perfekten Einheit wiederzuerlangen.

Dieses Bedürfnis nach Verbundenheit kann auch mit dem Wort Eros umschrieben werden, ein griechisches Wort, das wir normalerweise für romantische oder sexuelle Liebe verwenden, das aber ursprünglich die umfassendere Bedeutung von Lebensenergie hatte.3 Wenn die Bezugsperson präsent bleibt und in Resonanz mit dem Kind ist, wendet sich diese Lebenskraft nicht nur an Bezugspersonen, sondern das Kind wird ermutigt, sich auch an Geschwister, Verwandte und andere nahestehende Menschen zu wenden. Wenn die primäre Bezugsperson emotional nicht erreichbar ist, kann die Verbundenheit zwischen ihr und dem Kind verloren gehen und Eros wendet sich nach innen. Schon wenige Minuten eines unbeantworteten Bedürfnisses können in einem Kind große Ängste und Einsamkeit hervorrufen und sogar Panik und Eskalation, sodass das Kind die Gewissheit verliert, mit anderen und dem Universum verbunden zu sein.

Das „Still Face“-Experiment

Ein klassisches Beispiel dieser Realität fanden wir, als wir ein kurzes Video mit dem Titel „Still Face“ sahen, das von Spezialisten für Entwicklungspsychologie an einer größeren Universität in Massachusetts aufgenommen wurde. Das Video dokumentiert eine Studie über die Bindung zwischen Eltern und Kind und zeigt unserer Meinung nach ein Muster der drei Phasen der menschlichen Entwicklungsreise. Am Anfang ist die Situation sehr positiv, dann entwickelt sich alles in eine eher negative Richtung; den Rest unseres Lebens versuchen wir, zurück zur positiven Anfangssituation zu gelangen.

Das Video beginnt damit (entsprechend der ersten Phase unseres Lebens), dass wir ein fröhliches Baby in einem Hochstuhl sehen. Seine Mutter lächelt und sitzt ihm gegenüber. Sie schenkt dem Kind ihre volle Aufmerksamkeit. Die Mutter beugt sich vor zu ihrem Kind, sodass die beiden Gesichter ungefähr 60 cm voneinander entfernt sind. Sobald das Baby einen Ton von sich gibt, spiegelt die Mutter diese Laute. Als das Baby seinen Blick auf etwas richtet, dreht die Mutter ihren Kopf, um zu sehen, worauf das Baby blickt. Zeigt die Mutter auf einen Gegenstand, zeigt auch das Baby darauf. Verbundenheit in ihrer primären Form wird hier anschaulich nachvollziehbar.

Die zweite Phase der menschlichen Entwicklungsreise spiegelt sich in der zweiten Szene wider, wo sich vieles zum Schlechten wendet. Der Leiter des Experiments weist die Mutter an, sie möge sich kurz von ihrem Kind abwenden und danach mit regungslosem Gesicht, ohne jegliche Anteilnahme, zurückwenden und in keiner Weise mehr auf ihr Kind reagieren. Sobald das Kind das ausdruckslose Gesicht der Mutter sieht, fühlt es, dass hier irgendetwas falsch läuft, und setzt alles daran, um die Aufmerksamkeit der Mutter zurückzugewinnen. Das Baby lächelt die Mutter an, aber die Mutter reagiert nicht. Es zeigt auf verschiedene Dinge im Raum, aber die Mutter blickt dort nicht hin, wohin es zeigt. Es streckt die Arme in die Höhe und gibt zu verstehen, dass es aus dem Hochstuhl genommen werden möchte, aber die Mutter reagiert nicht. Nun wird das Kind sichtbar verzweifelt. Es wirft sich im Hochstuhl nach hinten und wendet den Kopf zur Seite. Dann stößt es einen schrillen Schrei aus und steckt die Faust in den Mund. Das Kind versucht alles, was seiner Erfahrung nach in der Vergangenheit die Aufmerksamkeit der Mutter erweckte. Die Mutter aber bleibt völlig ungerührt und apathisch, während das Baby zu weinen beginnt.

 

Die Verwandlung von einem lächelnden und interagierenden Baby zu einem weinenden und völlig verzweifelten dauert weniger als zwei Minuten. Sobald das Baby die Erfahrung der ursprünglichen Verbundenheit verliert, wird es von Angst über diesen Verlust überwältigt und versucht verzweifelt, die Aufmerksamkeit der Mutter zurückzuerlangen.

Die dritte Phase unserer menschlichen Entwicklungsreise lässt sich mit der dritten Phase des Experiments vergleichen, wo die Mutter angewiesen wird, wieder auf ihr Kind zu reagieren, mit Lächeln und mit Bewegungen, die in Resonanz mit jenen ihres Babys stehen. Das Kind braucht einige Momente, um sich an die neue Situation zu gewöhnen, dann hellt sich seine Miene rasch auf und alles scheint wieder gut zu sein. Die Krise ist abgewendet. Die Verbundenheit ist wieder spürbar und auch die Freude kommt zurück. Das Baby hat nun eine bleibende Erinnerung an den Schmerz des Getrenntseins, der seine Zukunft beeinflussen wird. Da der Bruch minimal war, ist auch die Wirkung minimal. Da menschliche Erinnerungen dauerhaft sind, wurde eine negative Erwartung gespeichert.

Wird die Verbundenheit zwischen Kind und Elternteil immer wieder gestört, beginnen emotionale Schäden aufzutreten. Das Kind lernt, dass die Welt unverlässlich ist und nicht immer auf seine Bedürfnisse reagiert. Wer in früher Kindheit Bezugspersonen hat, die sehr beschäftigt, unberechenbar oder vernachlässigend sind, wird emotionale Narben davontragen, die bis ins Erwachsenenleben schmerzen.

Aus unserer Sicht wirken derartige Narben sich definitiv und aktiv auf Liebesbeziehungen im Erwachsenenleben aus und werden angetriggert, wenn ein Partner sich abwendet oder ein teilnahmsloses Gesicht zeigt, während der andere versucht, in Verbindung zu treten. Hier ein persönliches Beispiel, das wir bei einem Aufenthalt in einem Hotel in Florida erlebten. Ich (Helen) erwachte, blickte aus dem Fenster, sah die Sonne aufgehen und den Sandstrand glänzen – und wendete mich meiner Arbeit zu. Als Harville erwachte, blickte er ebenso zum Fenster hinaus und verlieh seiner Begeisterung lautstark Ausdruck. Ich war versucht, ihm zu erklären, dass ich diesen wunderbaren Ausblick bereits vor ihm entdeckt hatte und nun mit einer wichtigen E-Mail beschäftigt war. Da erinnerte ich mich an das „Still Face“-Video, stand auf und ging zum Fenster, um Harvilles Begeisterung für den Sonnenaufgang und den wunderschönen Strand zu teilen, anstatt ein teilnahmsloses Gesicht zu zeigen. Hätte ich diese Erfahrung nicht mit ihm geteilt, hätte seine Begeisterung keinerlei Echo gefunden. Die Kraft dieser Erfahrung ließ uns eine neue Technik für Paare erarbeiten. In unseren Workshops und Therapiesitzungen empfehlen wir Paaren, Offenheit und Staunen zu kultivieren, indem sie die Freude (oder Traurigkeit) ihres Partners einem Echo ähnlich wiederholen.

Die gefährliche Reise

Entwächst ein Kind dem Babyalter, entstehen neue Bedürfnisse – und jedes Bedürfnis ist auch ein Risiko für neue Verletzungen. Mit ungefähr eineinhalb Jahren entwickelt ein Kind ein wachsendes Interesse daran, seine Umgebung zu erforschen. Es entdeckt, dass es eine Welt voller Wunder und anderer Menschen gibt und dass neue Dinge seine Aufmerksamkeit erregen. Mit dieser Welt möchte es in Interaktion treten. Diese Entwicklungsphase wird auch Entdeckerphase genannt. Könnte ein kleines Kind sich so ausdrücken wie wir Erwachsenen, würde es vielleicht sagen: „Ich fühle mich schon groß genug, von dir weg zu gehen. Ich möchte ein wenig Zeit allein verbringen. Ich bin mir aber noch nicht so sicher, deshalb werde ich in ein paar Minuten zurückkommen, um zu sehen, ob du noch da bist.“ Da dem Kind noch die Worte dazu fehlen, klettert es einfach vom Schoß seiner Mutter, dreht ihr den Rücken zu und wackelt auf unsicheren Beinen aus dem Raum.

Im Idealfall lächelt seine Mutter und reagiert in etwa so: „Tschüss, mein Kleines, wir sehen uns bald wieder!“ Kommt das Kind einige Minuten später zurück – in der plötzlichen Erkenntnis, dass es abhängig von der Mutter ist –, wird diese sagen: „Hallo, hast du Spaß gehabt?“ Sie lässt das Kind spüren, dass es in Ordnung ist, sich für einige Minuten von ihr zu entfernen und Abenteuer zu erleben. Dennoch bleibt sie jederzeit verfügbar. So kann das Kind die verlässliche Präsenz seiner Bezugspersonen internalisieren und die Welt als sicheren Ort kennenlernen, der aufregende Entdeckungsreisen erlaubt. Wenn es einen sicheren Heimathafen gibt, ist Verbundenheit mit anderen möglich und macht Freude.

Manche Kinder erleben in dieser Entwicklungsphase Enttäuschungen. Nicht das Kind, sondern Mutter oder Vater sind unsicher und möchten es ständig im Blickfeld behalten – aus Gründen, die in ihrer eigenen Lebensgeschichte wurzeln. Manche Eltern haben das Bedürfnis, ihr Kind in einer gewissen Abhängigkeit zu halten. Spaziert nun ein kleines Mädchen aus dem Zimmer, könnte eine unsichere Mutter ihm nachrufen: „Bleib lieber hier, gehe nicht ins andere Zimmer! Dort kann ich dich nicht sehen.“ Pflichtbewusst könnte das Mädchen zurückkommen. Werden Kinder in den ersten Lebensjahren übermäßig beschützt, werden sie ärgerlich und angstvoll. Der innere Drang nach Erforschen und Autonomie wird verleugnet und nicht respektiert. Das Kind entwickelt Angst, vereinnahmt zu werden, wenn es seiner Bezugsperson zu nahe bleibt; Angst, für immer in einer symbiotischen Umklammerung gefangen zu sein.

Während der unterschiedlichen Entwicklungsstadien von der frühesten Kindheit bis zur Jugendzeit ergeben sich weitere Bedürfnisse und dadurch auch mehr Möglichkeiten, wo Eltern die Verbundenheit unterstützen oder zerstören können. Niemand von uns hat perfekte Eltern, und auch unsere Eltern sind das Ergebnis von Eltern, die nicht perfekt waren. In den vielen Jahren unserer Arbeit mit Paaren entdeckten wir, dass es vereinfacht dargestellt zwei Kategorien von Elternschaft gibt: einengende oder vernachlässigende. Manche Eltern bringen sich zu stark ein; sie erklären uns ständig, was wir tun, denken oder fühlen sollen. Andere bringen sich zu wenig ein und sind körperlich oder emotional zu abwesend. Diese Probleme lassen sich auf einer Skala einordnen, die von „gering“ bis „sehr stark“ reicht. Als Reaktion darauf entwickeln wir Ängste, beginnen um uns selbst zu kreisen und verlieren unsere Fähigkeit zur Einfühlsamkeit – ähnlich wie verwundete Soldaten, die auf dem Schlachtfeld umherirren.

Kinder, deren Eltern zu vereinnahmend sind, werden sich in späteren Jahren zu Menschen mit starkem Distanzbedürfnis entwickeln, die andere unbewusst auf Distanz halten. Sie halten Abstand, weil sie viel Freiraum brauchen. Sie möchten den Freiraum haben, zu kommen und zu gehen, wie es ihnen gefällt. Sie möchten unabhängig denken, frei reden, ihre Gefühle für sich allein verarbeiten und stolz eine selbstsichere, äußere Haltung zeigen. Hinter ihrer kühlen Fassade könnte sich jedoch ein zwei Jahre altes Mädchen verbergen, dem es nicht erlaubt war, seinen natürlichen Drang nach Unabhängigkeit zu stillen. Heiratet sie eines Tages, wird ihr Bedürfnis, sich stark abzugrenzen, an oberster Stelle ihrer unbewussten Prioritäten stehen.

Anders ist es für ein Kind, das vernachlässigende Eltern erlebt, Eltern, die es fortstoßen, wenn es zu ihnen kommt und Trost braucht: „Geh weg, ich bin beschäftigt, du hast genug Spielzeug, spiel doch damit! Hör auf, ständig an mir zu hängen …!“ Jene Bezugspersonen können nur ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und ihre Kinder wachsen in emotionaler Hinsicht vernachlässigt auf. Sie werden zu Menschen, die ein fast unstillbares Verlangen nach Nähe haben. Sie möchten am liebsten alles zusammen unternehmen, ohne Ausnahme. Verspätet sich jemand bei einer Verabredung, fühlen sie sich gleich verlassen. Allein der Gedanke an eine Scheidung erfüllt sie mit Schrecken. Sie sehnen sich nach körperlicher Nähe und Bestätigung und brauchen es, ständig in verbalem Kontakt zu bleiben. Hinter diesem anklammernden Verhalten versteckt sich ein kleines Kind, das mehr Zeit und Zärtlichkeit auf dem Schoß seiner Eltern gebraucht hätte.

Originellerweise – die Gründe dafür wollen wir später ausführen – fühlen sich Menschen mit starkem Distanzbedürfnis (die von ihren Bezugspersonen eher vereinnahmt wurden) und Menschen mit starkem Nähebedürfnis (die von ihren Bezugspersonen eher vernachlässigt wurden) meist zueinander hingezogen und gehen Liebesbeziehungen oder Ehen ein. So beginnt ein unaufhörliches Spiel von Nähe und Distanz, das letztlich beide unbefriedigt lässt.

Als unsere Tochter Leah drei Jahre alt war, wollte sie ihre Umgebung entdecken. Sie war so ein vitales Kind, dass sie den ganzen Tag herumlief, ohne müde zu werden. „Lauf mit mir, Papa! Machen wir einen Purzelbaum!“ Sie drehte sich so schnell im Kreis, dass ihr schwindlig wurde und sie fast umfiel, dabei lachte und lachte sie. Sie jagte Leuchtkäfer, unterhielt sich mit Blättern, schaukelte vor Vergnügen und streichelte jeden Hund, den sie sah. Es bereitete ihr große Freude, allen Dingen einen Namen zu geben, und sie entwickelte ein feines Gespür für Worte. Wenn wir Leah betrachteten, sahen wir eine Fontäne wunderbar pulsierender Lebensfreude. Wir beneideten sie und betrauerten, dass wir selbst diesen Zustand längst verloren hatten.

Wir bemühten uns sehr, Eros, diese Lebenskraft, in Leah lebendig zu halten, ihre leuchtenden Augen und ihr helles Lachen zu bewahren, doch trotz unserer besten Absichten entwickelte sie Ängste. Einmal wurde sie von einem großen Hund erschreckt und verhielt sich Tieren gegenüber fortan vorsichtiger. Ein anderes Mal fiel sie in ein Schwimmbecken und entwickelte augenblicklich Angst vor Wasser. Manchmal waren zweifellos wir schuld daran. Wir haben neben Leah noch fünf andere Kinder und es gab Momente, wo sie sich übergangen fühlte. Es gab arbeitsreiche Tage, da kamen wir einfach zu müde nach Hause, um ihr wirklich zuzuhören und ihr unsere volle Aufmerksamkeit zu schenken.

Bedauerlicherweise gaben wir unwissentlich auch die Verletzungen unserer eigenen Kindheit an sie weiter – das emotionale Erbe von Generationen. Entweder begingen wir den Fehler der Überkompensation und wollten unseren Kindern alles schenken, was wir selbst nicht bekommen hatten, oder wir wiederholten – oft ohne es zu bemerken – unsere eigenen schmerzlichen Familiensituationen. Dies kann man als Erbe des Verwundens bezeichnen.

Wenn eines von Leahs Bedürfnissen nach Verbundenheit nicht erfüllt wurde, befiel ein fragender Blick ihr kleines Gesicht. Sie schien dann die Schönheit der Welt rund um sie kaum mehr zu bemerken, ihre vibrierende und freudvolle Welt wurde von Grautönen überschattet. Leahs sonst so ansteckendes Gefühl der vollen Lebendigkeit wich der Angst. Sie zog sich in sich selbst zurück, ganz mit ihrem Schmerz beschäftigt.

Das Verlorene Selbst

Nachdem wir uns nun mit den unerfüllten Kindheitsbedürfnissen befasst haben, einem wesentlichen Anteil dessen, was wir unbewusste Partnerschaft nennen, mit unserer unerfüllten Sehnsucht nach Geborgenheit und Zärtlichkeit sowie unserem Bedürfnis, ohne Beeinträchtigung erwachsen und reif werden zu dürfen, wollen wir uns den subtileren Formen von Kindheitsverwundungen zuwenden, den psychischen Verletzungen durch die sogenannte Sozialisierung, durch alle Botschaften, die wir von unseren Bezugspersonen und der Gesellschaft insgesamt erhalten, die uns erklären, wer wir sind und wie wir uns zu verhalten haben. Auch diese Einflüsse spielen später eine versteckte, aber sehr bedeutende Rolle für unsere Partnerschaft.

Zuerst mag es befremdlich erscheinen, den Prozess der Sozialisierung mit seelischen Verletzungen gleichzusetzen. Um zu verdeutlichen, was wir meinen, möchten wir Ihnen von Sarah erzählen. (Wie bei allen anderen Fallbeispielen in diesem Buch wurde ihre Identität verändert, damit die Anonymität gewahrt bleibt.) Sarah ist eine sehr attraktive, sympathische Frau Mitte 30. Ihr Hauptproblem besteht darin, dass sie von sich selbst glaubt, nicht logisch und klar denken zu können. „Ich kann nicht logisch denken!“, sagt sie immer wieder. „Ich kann einfach nicht klar denken.“ Sarah ist seit 15 Jahren in einer Computerfirma beschäftigt und hat sich als fleißige Mitarbeiterin erwiesen. Sie wäre wohl auf der Karriereleiter schon viel weiter aufgestiegen, sobald sie sich aber mit einer komplexen Situation konfrontiert sieht, gerät sie in Panik und sucht Unterstützung bei ihren Vorgesetzten. Jene geben ihr dann guten Rat und Sarah fühlt sich in ihrer Überzeugung bestätigt, unfähig zu sein, schwierige Entscheidungen alleine treffen zu können.

 

Es war nicht schwer, einen Teil der Ursachen für Sarahs Ängste zu finden. Schon sehr früh hatte ihr ihre Mutter deutlich vermittelt, dass sie nicht sonderlich intelligent sei. „Du bist nicht so klug wie dein älterer Bruder!“, sagte ihre Mutter immer wieder. „Du heiratest besser einen gescheiten Mann, denn du wirst viel Unterstützung im Leben brauchen. Ich zweifle aber daran, dass ein kluger Mann dich überhaupt nehmen wird.“ So extrem die Bemerkungen ihrer Mutter waren, konnten sie Sarahs vermeintliche Unfähigkeit, selbstständig zu denken, nicht ganz erklären. Die Sichtweise ihrer Mutter war in den Jahren um 1950 nicht ganz unüblich, da man kleine Mädchen als süß, hübsch und angepasst ansah und ihre beruflichen Ziele sich auf helfende Berufe beschränken sollten. Die Mädchen in Sarahs Schule träumten von einem späteren Leben als Ehefrau, Krankenschwester oder Lehrerin und keineswegs von einem Leben als Managerin, Astronautin oder Ärztin.

Sarahs geringe Selbsteinschätzung wurde noch durch die Tatsache verstärkt, dass auch ihre Mutter glaubte, nur geringe intellektuelle Fähigkeiten zu haben. Sie führte den Haushalt und versorgte ihre Kinder, alle größeren Entscheidungen aber delegierte sie an ihren Ehemann. Dieses passive und abhängige Vorbild für „Weiblichkeit“ definierte Sarahs spätere Rollenbilder.

Als sie 15 Jahre alt war, erkannte einer ihrer Lehrer glücklicherweise ihre wahren Fähigkeiten und ermutigte sie, mehr Engagement in der Schule zu zeigen. Zum ersten Mal in ihrem Leben brachte Sarah ein Zeugnis mit fast lauter „Sehr gut“ nach Hause. Die Reaktion ihrer Mutter konnte sie aber bis heute nicht vergessen: „Wie um alles in der Welt hast du das geschafft? Ich glaube, du hast dieses eine Mal einfach Glück gehabt!“ Tatsächlich ließ Sarah sich neuerlich entmutigen und verdrängte fortan jenen Teil ihres Gehirns, der für klares und rationales Denken zuständig ist.

Das Tragische an ihrer Entwicklung war, dass Sarah nicht nur ihre Fähigkeit für rationales Denken als eingeschränkt erlebte, sondern unbewusst zu glauben begann, dass Denken gefährlich sei. Wie konnte es dazu kommen? Da Sarahs Mutter ihre intellektuellen Fähigkeiten stark ablehnte, meinte Sarah, sie würde ihre Mutter enttäuschen, wenn sie klar denken würde, denn so würde sie den Überzeugungen ihrer Mutter widersprechen. Sie wollte es nicht riskieren, sich von ihrer Mutter zu entfremden, da sie unbewusst ihr Überleben als abhängig von ihrer Mutter sah. Aus diesem Grund schien es Sarah zu gefährlich, selbstständig zu denken. Dennoch gelang es ihr nicht, ihre Intelligenz vollständig zu verleugnen. Sie beneidete Menschen, die sehr intelligent schienen, und heiratete einen Mann, der überaus intelligent war – ein unbewusster Versuch, ihre Kindheitswunde zu heilen.

Wie bei Sarah, so gibt es auch bei jedem von uns Anteile, die unserem wachen Bewusstsein entzogen sind. Diese fehlenden Elemente nennen wir das „Verlorene Selbst“. Immer wenn wir klagen, wir könnten „nicht denken“, „zu wenig empfinden“ oder „nicht tanzen“, wenn wir klagen, wir „hätten nie einen Orgasmus“ oder „seien einfach nicht kreativ“, so benennen wir natürliche Fähigkeiten, Gedanken oder Gefühle, die wir mit fast chirurgischer Präzision in unserem frühen Erleben aus unserem Bewusstsein entfernt haben. Diese Anteile sind keineswegs vollständig verschwunden. Wir könnten noch über sie verfügen, wären sie unserem Bewusstsein nur zugänglich. Doch momentan scheinen sie nicht zu existieren.

Wie bei Sarah formte sich auch unser Verlorenes Selbst sehr früh in der Kindheit – als Ergebnis der gut gemeinten Bemühungen unserer Bezugspersonen, uns über den Umgang mit anderen Menschen zu belehren. Jede Gesellschaft besitzt eine Sammlung von Erfahrungen, Verhaltensmaßregeln, Wertvorstellungen und Glaubenssätzen, die von den Kindern übernommen werden sollen, und zumeist sind es die Eltern, die ihnen dies vermitteln. Dieser Prozess der Indoktrination findet in jeder Familie und in jeder Gesellschaftsform statt. Es scheint eine allgemeingültige Überzeugung zu sein, dass ein Individuum zur Gefahr für die Gruppe werden kann, sobald ihm keine Einschränkungen und Grenzen gesetzt werden. Sigmund Freud formulierte es so: „Mag der Wunsch nach einem starken und ungehinderten Ego für uns auch verständlich sein, so zeigt uns doch die Zeit, in der wir leben, dass es in einem ganz tiefen Sinn ein Antagonismus zu jeder Form der Zivilisation ist.“

Auch wenn unsere Eltern die besten Absichten uns gegenüber hatten, klangen diese Verhaltensregeln oft wenig verlockend. Es gab eine Reihe von Gedanken und Gefühlen, die wir nicht haben sollten, einige Angewohnheiten, die wir abstellen, und manche Talente und Fähigkeiten, die wir verleugnen mussten. Auf unterschiedliche Weise, ganz direkt oder eher subtil, teilten unsere Eltern uns mit, dass sie nur einen ganz bestimmten Teil von uns akzeptieren konnten. Im Endeffekt lernten wir, dass es einfach nicht möglich war, in unserer Gesellschaft mit allen unseren Selbstanteilen angenommen zu werden und zu existieren.

Manche Eltern ziehen den Prozess der Abwertung ins Extreme. Sie verleugnen nicht nur manche Gefühle und Verhaltensweisen ihres Kindes, sondern ihr Kind als Ganzes: „Du existierst nicht. Du bist in unserer Familie nicht wichtig. Deine Bedürfnisse, Gefühle, Wünsche sind nicht wichtig für uns.“ Die Wirkung solcher Botschaften ist absolut zerstörerisch für ein Kind und resultiert in einem lebenslangen Kampf darum, sich wertvoll, wertgeschätzt und liebenswert zu fühlen. Häufig geben solche Menschen vor, eine andere Identität zu haben, während sie ihre Gefühle des Ärgers, der Angst und/oder Depression unterdrücken oder sich in Süchte flüchten, um ihre mentalen Schmerzen zu lindern.

Das Unterdrücken von Gefühlen

und Verhaltensweisen

Eltern wählen unterschiedliche Vorgangsweisen, um Gedanken, Gefühle und unerwünschtes Verhalten ihrer Kinder zu unterdrücken. Manchmal gehen sie sehr manipulativ vor: „Das glaubst du doch nicht wirklich!“ „Große Jungen weinen nicht!“ „Berühre dich nicht an dieser Stelle!“ „Ich möchte so etwas nie wieder von dir hören!“ Oder: „Dieses Verhalten gibt es in unserer Familie einfach nicht!“ Eltern beginnen auch zu schimpfen, ihren Kindern zu drohen oder sie körperlich zu bestrafen. Oft formen und beeinflussen sie ihre Kinder durch einen subtilen Prozess der Abwertung, indem sie manches einfach nicht sehen wollen oder nicht wertschätzen. Legen Eltern beispielsweise nur wenig Wert auf die intellektuellen Entwicklungsmöglichkeiten ihres Kindes, werden sie es eher mit Spielsachen oder Sportgeräten versorgen als mit Büchern oder naturwissenschaftlichen Hobbykästen. Sind Eltern der Ansicht, Mädchen sollten sich in erster Linie angepasst und feminin verhalten, Jungen dagegen stark und selbstbewusst, werden sie ihre Kinder auch entsprechend geschlechtsspezifisch belohnen. Kommt zum Beispiel ein kleiner Junge ins Zimmer und zieht ein großes Spielzeug hinter sich her, werden sie sagen: „Was bist du doch für ein starker Junge!“ Trägt ihre Tochter dasselbe Spielzeug, rufen sie besorgt aus: „Sei vorsichtig! Dein schönes Kleid!“

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