SO VIEL LIEBE WIE DU BRAUCHST

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Zweitens bricht uns seit Menschengedenken das Herz, wenn die Liebe scheitert – wie schon bei Kleopatra und Marc Anton, die Selbstmord als passende Reaktion auf ihre zerbrochene Liebe ansahen. Ein Klient beschrieb, er konnte weder schlafen noch essen, nachdem ihn seine Freundin verlassen hatte: „Mein Herz schien vor Kummer zu zerspringen. Ich weinte unaufhörlich und wusste weder aus noch ein.“ Diese traumatische Erfahrung ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Schon vor 3000 Jahren beschrieb ein Arzt im Nahen Osten eine Krankheit, die er „Liebeskummer“ nannte.3 Patienten, die unter Liebeskummer litten, seien „äußerst niedergeschlagen. Ihr Hals ist wie zugeschnürt, sie wollen weder essen noch trinken und seufzen unaufhörlich, wie schwer doch ihr Herz sei.“

Unsere persönliche Geschichte

Wir kennen den Schmerz zerbrochener Liebesbeziehungen, denn wir sind in zweiter Ehe verheiratet und mussten beide zuvor eine Scheidung durchstehen. Bei meiner ersten Frau und mir (Harville) begannen die Eheprobleme, als unsere Kinder noch klein waren. Wir gaben uns größte Mühe, unsere Beziehung zu retten. Acht Jahre lang versuchten wir – mit Unterstützung mehrerer Therapeuten – etwas zu finden, das uns helfen könnte. Da jedoch nichts half, reichten wir schließlich die Scheidung ein.

Als ich beim Scheidungsgericht saß und auf meinen Aufruf wartete, fühlte ich mich als doppelter Versager. Ich hatte als Ehemann versagt und ebenso als Familientherapeut. Am Nachmittag desselben Tages sollte ich eine Vorlesung über Ehe und Familie halten, und tags darauf mehrere Paare therapeutisch begleiten. Trotz meiner Ausbildung als Familientherapeut fühlte ich mich genauso ratlos und niedergeschlagen wie alle anderen, die neben mir auf ihre Scheidung warteten.

Im Jahr nach meiner Scheidung erwachte ich jeden Morgen mit dem schrecklichen Gefühl, etwas Wesentliches verloren zu haben. Und wenn ich abends zu Bett ging, starrte ich an die Zimmerdecke und versuchte, eine Erklärung für das Scheitern unserer Ehe zu finden. Meine Frau und ich hatten, wie das üblich ist, zehn rationale Gründe für das Scheitern unserer Ehe angegeben. Dieses hatte ich an ihr nicht mögen, jenes hatte sie an mir nicht mögen, unsere Interessen und Ziele waren unterschiedlich gewesen und wir hatten uns auseinanderentwickelt. Hinter all diesen Gründen, so fühlte ich, versteckte sich eine zentrale Enttäuschung, ein tieferer Grund für unser Unglück, der acht Jahre ehrlichen Bemühens zunichte gemacht hatte.

Mit der Zeit wandelte sich meine tiefe Verzweiflung in den starken Wunsch, aus meinem Dilemma heraus nach einem Sinn in dieser Erfahrung zu suchen. Ich war nicht bereit, die Ruinen meiner Ehe zurückzulassen, ohne daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen. Zwei Jahre später lernte ich Helen kennen.

Auch ich (Helen) hatte zwei kleine Kinder. Wie Harville, so hatte das Scheitern meiner ersten Ehe auch mich äußerst traurig und nachdenklich gemacht. Mir war klar, dass die Distanz zwischen meinem Ehemann und mir sich vergrößert hatte, und ich gab seinem großen beruflichen Einsatz die Schuld daran. Ich fühlte mich oft einsam und traurig, weil mein erster Mann kaum Zeit für mich fand. Dennoch begann ich darüber nachzudenken, ob es auch andere, tieferliegende Gründe für unsere wachsende Distanz gegeben habe. Warum war es uns nicht möglich gewesen, diese tieferliegenden Themen zu erkennen und unsere Probleme zu lösen?

Imago-Therapie

Als wir (Harville und Helen) einander kennenlernten, entdeckten wir unser gemeinsames, intensives Interesse an der Psychologie von Partnerschaften. Harville arbeitete als klinisch-pastoraler Ehe- und Familienberater und Helen absolvierte ein Master-Studium zur Beraterin an der Southern Methodist University. Während der Zeit unserer Verliebtheit und des Kennenlernens verbrachten wir viel Zeit damit, unsere Erkenntnisse aus den Bereichen Philosophie, Religion, Feminismus, Physik … fachübergreifend auszutauschen. Wenn wir ein Date miteinander hatten, tauschten wir auch unsere neuesten Erkenntnisse aus.

Die Theorie und die Technik der Imago-Therapie, die wir in diesem Buch vorstellen, entwickelten sich aus unserer jahrzehntelangen Zusammenarbeit. Den Feinschliff erhielten sie durch die Feuerprobe unserer eigenen Ehe. Seit mehr als 35 Jahren setzen wir unsere Erkenntnisse dafür ein, Tausende Paare in unserer privaten Praxis zu begleiten sowie in Paar-Workshops für größere Gruppen, die wir gemeinsam leiten.

Durch unsere Arbeit mit all diesen Paaren haben wir ein tieferes Verständnis dafür entwickelt, wie Partnerschaften funktionieren, warum sie zerbrechen und wie Paare lernen können, eine neue Verbundenheit aufzubauen und die tiefe Freude und die wunderbaren Gefühle wiederzufinden, die sie in der Zeit ihrer ersten Verliebtheit erfahren hatten. Dank dieser Erkenntnisse gelang es uns, die Imago-Therapie immer effektiver werden zu lassen. Heute können wir Paaren wesentlich rascher helfen, die Liebe zu finden, die sie brauchen, als in der Vergangenheit – sogar mit besseren Ergebnissen.

Kerngedanke

Einer der Kerngedanken der Imago-Therapie lautet, dass der Grund für die Unzufriedenheit vieler Paare tiefer liegt. Oberflächlich gesehen streiten Partner über Hausarbeit, über Geldthemen, Erziehungsthemen, das nächste Urlaubsziel oder darüber, wer zu viel Zeit mit seinem Mobiltelefon verbringt. Unbewusst aber verbirgt sich in uns allen seit dem Beginn unseres Lebens eine ungeschriebene Agenda: Wir streben danach, die pulsierende Lebendigkeit und die tiefe Verbundenheit zurückzuerlangen, die wir besaßen, als wir geboren wurden. Diese innere Agenda enthält unterschiedliche Details – unser aller Ziel ist jedoch dasselbe: Mit unserem Liebespartner wollen wir dieselben Gefühle erleben, die wir von unseren frühesten Bezugspersonen kennen. Wir wählen einen Partner, der dies möglich macht. „Du, mein Partner, ich erwarte, dass du die unerfüllten emotionalen Bedürfnisse erfüllst, die ich aus meiner Kindheit mitgebracht habe!“

Die meisten von uns unterschätzen die Kraft unseres Unterbewusstseins. Es gibt eine Analogie, die den großen Einfluss unbewusster Kräfte gut verdeutlichen kann. Tagsüber können wir die Sterne nicht sehen. Wir reden von ihnen, als würden sie abends „aufgehen“, obwohl sie die ganze Zeit hindurch da sind. Auch unterschätzen wir meist die Anzahl der Sterne. Wir blicken zum Himmel hinauf, sehen das matte Schimmern einiger Sterne und nehmen an, wir hätten alle gesehen. In ländlichen Gegenden, die nicht durch Straßenbeleuchtung erhellt sind, erkennen wir plötzlich einen Himmel, der mit Sternen geradezu übersät ist, und staunen über diese überwältigende Fülle. Doch nur wenn wir uns ernsthaft mit Astronomie beschäftigen, können wir die ganze Wahrheit herausfinden: Die hunderttausend Sterne, die wir in einer klaren, mondlosen Nacht sehen können, stellen nur einen Bruchteil der Sterne des Universums dar, und viele der Lichtpunkte, die wir für Sterne halten, sind in Wahrheit ganze Galaxien. Ebenso verhält es sich mit dem Unbewussten: Die gut geordneten, logischen Gedanken unseres bewussten Verstandes sind nur ein dünner Schleier über dem Unbewussten, das unser Leben ständig aktiv beeinflusst. Wenn wir uns verlieben, so versuchen unsere unbewussten Anteile, die im ewigen Hier und Jetzt gefangen sind und nur eine schwache Ahnung von der äußeren Welt haben, die Atmosphäre unserer Kindheit neu zu erschaffen. Der Grund dafür, dass unser Unterbewusstsein die Vergangenheit wieder auferstehen lassen möchte, ist nicht einfach eine Gewohnheit oder ein blinder Zwang, sondern das dringende Bedürfnis, die alten Wunden unserer Kindheit zu heilen.

Diese innere Agenda ist nur wenigen Menschen bewusst, viele hingegen hinterfragen sie: „Was hat meine Kindheit mit dem Alkoholproblem meines Partners zu tun? Ich möchte es im Hier und Jetzt lösen!“ Sie wissen nicht, dass ihre innere Distanz ein Grund für das Alkoholproblem ihres Partners sein könnte, und jenes wiederum ihre innere Distanz nährt und echte Verbundenheit erschwert. Sie wissen nicht, dass die Erfahrung des Verlustes der Verbundenheit eine Neuinszenierung ihrer jeweiligen Kindheit darstellt. Während jeder Partner zum Schmerz des anderen beiträgt, erwarten wir auf einer unbewussten Ebene, dass unser Partner intuitiv unsere unerfüllten Bedürfnisse erkennt und sie erfüllt – ohne im Gegenzug etwas zu wollen. Wir haben unseren Partner gewählt, um unsere alten Gefühle neuerlich zu durchleben und um die Trauer und den Schmerz der Vergangenheit heilen zu können.

Das Wunder Gehirn

Wie können Sie die Bedürfnisse Ihrer Kindheit befriedigen, wenn sie Ihnen nicht bewusst sind? Einige Fakten über das menschliche Gehirn werden Ihnen helfen, das Potenzial besser zu verstehen, das wir alle haben, um unsere ursprüngliche Lebensfreude wieder spüren zu können.

Lassen Sie uns einen kurzen Blick auf die Struktur des menschlichen Gehirns werfen, auf dieses geheimnisvolle und komplexe Organ mit seinen vielen Unterteilungen. Um die Dinge zu vereinfachen, unterteilen wir das menschliche Gehirn in drei konzentrische Schichten.4

Das Stammhirn, der ganz innen gelegene, primitivste Teil des menschlichen Gehirns, ist verantwortlich für die Fortpflanzung, für unsere Selbsterhaltungskräfte und die vitalen Funktionen wie Blutkreislauf, Atmung, Schlaf und für unsere Muskelkontraktionen als Reflex auf äußere Reize. Das Stammhirn befindet sich am unteren Rand des Gehirns und wird auch „Reptilienhirn“ genannt, da alle Wirbeltiere von den Reptilien bis zu den Säugetieren hier anatomische Ähnlichkeiten aufweisen. In unserem Kontext möchte ich das Stammhirn als Ursprung der körperlichen Abläufe ansehen.

Wie ein Gabelbein rund um den obersten Teil des Stammhirns liegt das limbische System, das unser Langzeitgedächtnis enthält und sehr starke Emotionen auslösen kann. Wissenschaftern gelang es, diesen Teil des Gehirns bei Versuchstieren künstlich zu stimulieren und spontane Angst- und Aggressionsausbrüche zu provozieren. In Ihrer Partnerschaft können Sie sowohl Sender als auch Empfänger ähnlich impulsiver Ausbrüche sein!

 

In diesem Buch wollen wir das Stammhirn und das limbische System unter dem Begriff „Altes Gehirn“ zusammenfassen. Unser Altes Gehirn können Sie sich als relativ unflexibel vorstellen – es steuert die meisten unserer automatisch ablaufenden Reaktionen.

Der dritte Teil unseres Gehirns ist der Neokortex, eine große Masse an Gehirnwindungen, die die beiden inneren Gehirnteile umhüllt. Dieser besonders beim Homo sapiens sehr hoch entwickelte Gehirnteil ist der Sitz der meisten unserer kognitiven Funktionen. Den Neokortex wollen wir im Folgenden als „Neues Gehirn“ bezeichnen, da er evolutionsgeschichtlich gesehen die jüngste Schicht ist.

Der präfrontale Kortex unseres Neuen Gehirns ist jener Teil von uns, der bewusst und aufmerksam ist und in Kontakt mit unserer täglichen Umgebung steht. Dieser Teil trifft Entscheidungen, denkt, beobachtet, plant, sieht voraus, antwortet, beschafft sich Informationen und ersinnt neue Ideen. Das Neue Gehirn ist in erster Linie logisch orientiert und versucht, das Prinzip von Ursache und Wirkung zu durchschauen. Bis zu einem gewissen Grad könnte man sagen, dass dieser analytische, prüfende und fragende Teil unseres Gehirns von uns selbst als unsere individuelle Persönlichkeit wahrgenommen wird. Wenn Sie und Ihr Partner ausgehend von Impulsen Ihres Neuen Gehirns handeln, ist es möglich, mit einigen der starken emotionalen Reaktionen aus Ihrem Alten Gehirn gut zurechtzukommen und sie sogar zu steuern.

Die Logik des Alten Gehirns

Im Gegensatz zum Neuen Gehirn laufen die meisten Funktionen des Alten Gehirns ab, ohne dass Sie das bemerken. Sie arbeiteten unbewusst. Wissenschafter, die sich sehr genau mit der Funktionsweise des Alten Gehirns beschäftigt haben, kamen zu dem Ergebnis, dass das Hauptanliegen des Alten Gehirns der Selbsterhaltungstrieb des Menschen sei. In ständiger Alarmbereitschaft stellt das Alte Gehirn permanent die ursprünglichste aller Fragen: „Bin ich in Sicherheit oder ist es gefährlich?“

Abgesehen von der Aufgabe, die Sicherheit zu gewährleisten, funktioniert Ihr Altes Gehirn grundlegend anders als Ihr Neues Gehirn. Einer der Hauptunterschiede besteht darin, dass das Alte Gehirn seine Umgebung offenbar nur sehr undeutlich wahrnimmt. Anders als das Neue Gehirn, das sich auf die direkte Wahrnehmung der Umgebung verlässt, greift das Alte Gehirn auf jene Bilder, Symbole und Gedanken zurück, die vom Neuen Gehirn zur Verfügung gestellt werden.

Diese Daten werden anschließend recht weit gefassten Kategorien zugeordnet. Unser Neues Gehirn kann beispielsweise problemlos zwischen John, Susi und Roberto unterscheiden, während unser Altes Gehirn diese drei Menschen lediglich nach sechs einfachen Gesichtspunkten sortiert. Das Alte Gehirn interessiert sich nur dafür, ob ein Mensch jemand ist, der erstens umsorgt werden muss, mir zweitens Liebe oder Zuwendung schenkt, mit dem ich drittens sexuell verkehren könnte, vor dem ich viertens fliehen muss, dem ich mich fünftens unterwerfen sollte oder den ich sechstens angreifen muss.5 Feinheiten, wie „das ist mein Nachbar“, „mein Cousin“, „meine Mutter“ oder „mein Ehemann“, bleiben unberücksichtigt.

Obwohl das Alte Gehirn und das Neue Gehirn so unterschiedlich sind, tauschen sie ständig Informationen untereinander aus, um sie auszuwerten. Die Art und Funktionsweise unseres Gehirns erklärt auch, warum Sie in Bezug auf Ihren Partner Gefühle haben können, die unproportional stark erscheinen, verglichen mit ihren Auslösern.

Nehmen wir an, Sie seien ein Mann in den mittleren Jahren, im mittleren Management einer Firma mittlerer Größe. Nach einem besonders hektischen Arbeitstag, an dem es Ihnen gelungen ist, einen wertvollen Kunden zufriedenzustellen und ein Budget über mehrere Millionen Dollar zum Abschluss zu bringen, fahren Sie freudig nach Hause, um Ihrer Frau von Ihren heutigen Erfolgen zu berichten. Kurz bevor Sie daheim ankommen, erhalten Sie eine SMS von Ihrer Frau. Sie schreibt, sie müsse noch arbeiten und werde heute erst sehr spät nach Hause kommen. Sie hatten fest damit gerechnet, dass Ihre Frau Sie daheim erwarten würde. Sie parken das Auto und betreten das leere Haus. Können Sie diese Enttäuschung verkraften und die unerwartete freie Zeit für sich selbst nutzen? Verwenden Sie die Zeit, um das Budget zur Sicherheit noch einmal kurz zu überprüfen? Vielleicht, aber zuerst lenken Sie Ihre Schritte schnellstmöglich zum Tiefkühlschrank und genehmigen sich eine große Schüssel Vanilleeis als rasch griffbereiten Trost, um Ihren Ärger und Ihre Enttäuschung zu überwinden.

Wenn Ihre Frau schließlich heimkommt, begegnen Sie ihr kühl und distanziert. Auch am kommenden Tag bleiben Sie eher reserviert. Sie bringen Arbeit zum gemeinsamen Esstisch mit und würdigen Ihre Frau kaum eines Blickes. Den Abend verbringen Sie damit, Sportsendungen anzusehen.

Einige Tage später wundern Sie sich möglicherweise selbst über Ihre Reaktion. Sie wissen schließlich, dass Ihre Frau ebenso wie Sie einen herausfordernden Beruf hat. Auch sie muss Überstunden leisten. Warum waren Sie so verärgert? Warum haben Sie sich betrogen gefühlt? Außerhalb Ihres Bewusstseins triggerte ihre Abwesenheit Gefühle an, die Sie schon vor Jahrzehnten hatten, weil Ihre Eltern beide arbeiten mussten. Nach der Schule besuchten Sie eine Nachmittagsbetreuung und wurden erst zum Abendessen von Ihrer Mutter abgeholt. Sie beneideten Freunde, die gleich nach der Schule nach Hause gehen konnten. Als Teenager kamen Sie nach der Schule in ein leeres Haus und verbrachten Stunden damit, allein fernzusehen und zu warten, bis Ihre Eltern nach Hause kamen. Wenn sie dann kamen, waren sie oft sehr erschöpft von ihrer Arbeit, sodass sie keine fröhliche Zeit mit Ihnen verbringen konnten.

Jahrzehnte später vermischt sich Ihre Vergangenheit mit Ihrer Gegenwart und bewirkt Ihre Überreaktion aufgrund der Verspätung Ihrer Frau. Für Ihr Altes Gehirn fühlte sich diese Verlassenheit genauso an wie jene Ihrer Kindheit und Jugend.

Neue neuronale Verbindungen ausprägen

Je bewusster Sie mit den unerwünschten, unbewussten Flashbacks aus Ihrer Vergangenheit umgehen können und trainieren, sie zu regulieren, desto weniger Streit wird zwischen Ihnen und Ihrem Partner stattfinden oder eskalieren. Ihr Neues Gehirn kann die Leitung übernehmen, wodurch Ihre Interaktionen wesentlich rationaler ablaufen. Auch Ihr Stresslevel würde sinken, wodurch Sie mehr Zeit und Energie haben, um sie mit Ihrem Partner zu genießen.

Wie lässt sich dieses Kunststück erreichen? Wie ist es möglich, so könnten Sie sich fragen, die Anzahl von Flashbacks aus der Tiefe meines Unbewussten weitgehend zu verhindern, obwohl ich mich an viele schmerzliche Erfahrungen aus meiner Vergangenheit gar nicht bewusst erinnern kann und noch weniger weiß über die emotionalen Verwundungen aus der Kindheit meines Partners?

Zahlreiche Übungen der Imago-Therapie wurden dazu entwickelt, Sie zu unterstützen, diese Erinnerungslücken zu füllen. In überraschend kurzer Zeit wird es Ihnen gelingen, die Kernthemen zu identifizieren, die dazwischenfunken, wenn Sie sich Mühe geben, eine sichere und liebevolle Partnerschaft zu führen. (Jene Übungen finden Sie in Teil III dieses Buches. Wir empfehlen, zuerst Teil I und Teil II zu lesen und dann erst mit den Übungen zu beginnen.) Durch Ihre neue Bewusstheit wird Ihre Empathie für die unerfüllten Bedürfnisse Ihres Partners gestärkt und auch Ihre Motivation, sie tatsächlich zu erfüllen.

Der Kerngedanke unserer Arbeit lautet also, ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass das unbewusste Ziel unserer Ehe darin besteht, die Kindheit heilsam zu vollenden. Und die Kernübung besteht im Erlernen einer neuen Fähigkeit. Der Imago-Dialog führt eine radikal neue Weise des Redens ein, die das Gespräch sicher macht. Wenn Sie diese essenzielle Übung anwenden, gestalten Sie eine Atmosphäre der Sicherheit, in der Sie einander auf einer tieferen Ebene verstehen als bisher. Der wesentlichste Gedanke, den wir uns einprägen müssen, lautet: Sicherheit ist der Schlüssel! Wenn Sie und Ihr Partner lernen, in Ihrer Partnerschaft eine Atmosphäre der Sicherheit zu gewährleisten, werden Sie bald dazu imstande sein, auch über sehr heikle Themen zu reden, ohne in einen Streit zu geraten oder sich frustriert und hoffnungslos zu fühlen. Eine weitere grundlegende Übung ist der Dialog „Bitte um Verhaltensänderung“. Er hilft, eine Frustration in eine Bitte umzuwandeln und diese Bitte wiederum aufzuschlüsseln in ein einfaches und umsetzbares Verhalten. Beseitigen wir die Kritik, die sich in einer Enttäuschung versteckt, so kann Ihr Paar-Zwischenraum sicher werden.

Wenn Sie die Imago-Theorie Schritt für Schritt kennenlernen, werden Sie folglich eine Zone neuer Sicherheit erreichen – den sogenannten Paar-Zwischenraum, der zu einem heiligen Raum für Sie wird. Dieser Umstand ist essenziell dafür, die Liebe zu finden, die Sie brauchen. Sie können diese Zone mit einem Fluss vergleichen, der zwischen Ihnen fließt. Sie beide trinken aus diesem Fluss und baden darin, daher ist es wichtig, dass er von Müll und Giftstoffen rein gehalten wird. Ihre Interaktionen im Zwischenraum bestimmen, was Sie dort erleben. Damit das Wasser weiterhin sauber und klar fließen kann, müssen Sie damit aufhören, es mit Kritik und verletzenden Bemerkungen zu belasten und jene durch respektvolle sichere Interaktionen ersetzen. Sich gut um sich selbst zu kümmern ist hilfreich – sich gut um den Paar-Zwischenraum zu kümmern ebenso.

Neue Erkenntnisse über das menschliche Gehirn

Nach 1990 gab es bedeutsame Fortschritte in den Neurowissenschaften. Mich (Helen) faszinierte insbesondere das Konzept der Neuroplastizität, welches besagt, dass alle Erfahrungen mit anderen Menschen und alle äußeren Einflüsse eine nachweisliche Wirkung auf unser Gehirn ausüben und es verändern. Unser Gehirn ist ein „soziales, interaktives“ Wesen, das von unseren Beziehungen beeinflusst wird. Vor dieser Erkenntnis nahmen Gehirnspezialisten an, dass das Gehirn durch seine Interaktion mit anderen und der Umgebung unbeeinflusst bliebe. Diese neuesten Erkenntnisse unterstützen die Erklärung, warum die Übungen der Imago-Therapie tatsächlich Veränderungen bewirken. Ihr Gehirn verändert sich jedes Mal, wenn Sie mit anderen in Kontakt treten.

Durch Tierversuche und komplizierte Darstellungsmethoden des Gehirns entdeckten Neurologen, dass Erfahrungen aus unserer Kindheit in unserem Gehirn wie chemische Verbindungsbahnen gespeichert werden, die verschiedene Nervenzellen miteinander verbinden. Schmerzhafte Erfahrungen aus der Vergangenheit sind in Form von sehr starken Verbindungen abgespeichert, und ihre Stärke beruht auf einem stärkeren Fließen von chemischen Botschaften. Jedes Mal, wenn Sie ein ähnliches schmerzliches Erlebnis haben, werden diese Verbindungsbahnen noch stärker. Haben Sie später im Leben einen Konflikt mit Ihrem Partner, wird die Intensität Ihrer Reaktion durch jene verborgenen Verbindungen sehr verstärkt. Diesen Zustand bezeichnet man inzwischen als Post Family Stress Disorder (PFSD) – Postfamiliäre Stressbelastung. Dies bezeichnet einen mentalen Zustand, der sich in sehr belastenden Beziehungssituationen entwickeln kann. Nur wenigen Menschen ist bewusst, dass Beziehungsstress der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) durchaus ähnelt, welche unter anderem durch Kriegsereignisse, Naturkatastrophen oder das Leben in einem Kriegsgebiet ausgelöst wird. Oft bemerken Menschen, die unter PFSD leiden, noch lange Zeit nach der traumatisch-belastenden Erfahrung, dass Interaktionen in ihrem aktuellen Leben, und zwar ganz besonders Ereignisse, die unbewusst an das ursprüngliche Beziehungstrauma erinnern, Phasen intensiver Angst auslösen können. Handelt es sich um relativ leichten Beziehungsstress, wie ihn die meisten Menschen während ihrer Kindheit erfahren, ist dieses Phänomen weitaus weniger bedrohlich als bei emotionalem Schwergepäck aus der Vergangenheit, das einen Konflikt mit Ihrem Partner um ein Vielfaches verschärft, sodass die Verbindung daran zerbrechen kann und ähnliche Ängste ausgelöst werden wie beim ursprünglichen, einschneidenden Ereignis in der Kindheit.

Die Imago-Therapie kann unerwünschte Turbulenzen aus Ihrer Vergangenheit quasi ausschalten, indem sie Ihnen hilft, neue neuronale Verbindungen zu schaffen und zu stärken. Jedes Mal, wenn Sie eine positive Erfahrung mit Ihrem Partner haben, verschlüsselt Ihr Altes Gehirn diese Erfahrung, indem es neue Verbindungen zwischen Gehirnzellen anlegt. Je mehr positive Interaktionen Sie haben, desto stärker bilden jene Verbindungen sich aus. In der Zwischenzeit verlieren die belastenden neuronalen Verbindungen aus Ihrer Kindheit an Stärke (da weniger chemische Botenstoffe zwischen den Zellen fließen). Dadurch verringert sich ihre Kapazität, Ihre Partnerschaft negativ zu beeinflussen.6

 

Wir vergleichen diesen Prozess gern mit dem Bau einer neuen Autobahn neben einer alten Landstraße. Sobald die Menschen auf der Autobahn fahren, verbringen sie weitaus weniger Zeit auf der engen, alten Straße. Und sollten sie sich doch wieder einmal auf der alten Straße befinden, erkennen sie dies sofort und wissen, dass sie durchaus eine Option für eine neue Antwort auf den alten Stimulus haben. Die alte Straße wird nicht mehr gereinigt und repariert, sie wird brüchig und überwächst schließlich mit Unkraut, während die Autobahn immer mehr benutzt wird.

Bei vielen Paaren, die an Imago-Workshops oder therapeutischen Sitzungen teilnahmen, durften wir eine derartige Verwandlung miterleben. Je weniger negative Erfahrungen aus der Vergangenheit das alltägliche Leben von Menschen beeinträchtigen, desto weniger Missverständnisse belasten ihre Partnerschaft. Sie können auf die Dynamik in ihrem Paar-Zwischenraum mit passenden Reaktionen antworten. Sie haben weniger emotionale Ausbrüche und verbringen mehr schöne Zeit miteinander. Ihre Partnerschaft zeichnet sich durch mehr Sicherheit und tiefere Verbundenheit aus und ist sowohl Jungbrunnen als auch Freudenquelle.

2

Verwundungen aus der Kindheit

Fast alles im Leben kann man überwinden –

von seiner Kindheit jedoch erholt man sich nie.

Beryl Bainbridge

Der entscheidende, heilsame Schritt der Imago-Therapie ist es, mehr Verständnis für die Kindheitsverwundungen des Partners zu gewinnen. Das heißt natürlich nicht, Sie müssten einander wochenlang einer Psychoanalyse unterziehen oder jahrelang Geld investieren, damit Sie mit professioneller Unterstützung erkennen, was sich außerhalb Ihrer bewussten Wahrnehmung in Ihrem Unterbewusstsein verbirgt. Wir haben mit den Jahren festgestellt, wie sehr es hilft, wenn Partner auf wertschätzendem Niveau Zeit investieren, um einander von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Auch in unseren Paar-Workshops erleben wir laufend, wie hoch effektiv das ist. Vor vielen Jahren widmeten wir noch die Hälfte unseres Workshops dem Ziel, dass Paare mehr über die Kindheit des jeweils anderen Partners erfuhren. Inzwischen genügt ein Bruchteil jener Zeit und sie erreichen dasselbe Ziel. Wir möchten nämlich jenes Paradoxon vermeiden, das wir informell „woundology“ („unsere Verwundungen zur Wissenschaft machen“) nennen. Allzu viel Zeit damit zu verbringen, in der Vergangenheit zu graben, soll vermieden werden.

Nichtsdestoweniger ist ein offener Austausch über unsere Kindheitserfahrungen von entscheidendem Nutzen, denn er ermöglicht einen besseren Einblick in die innere Realität des Partners und hilft uns, von Bewertungen zu einer Haltung der Offenheit und Empathie zu gelangen. In den meisten Partnerschaften gibt es Situationen, wo das Verhalten des einen dem anderen Rätsel aufgibt: „Du bist ja verrückt. Du machst immer wieder das Gleiche und es ist völlig unproduktiv.“ Oder: „Du verwirrst mich total. Was du sagst, macht absolut keinen Sinn!“ „Ich wundere mich wirklich, dass du die Beförderung annehmen willst. Du hast doch jetzt schon viel zu viel zu tun!“ Auch Verhaltensweisen des Partners, seien sie einmalig oder wiederkehrend, können uns sehr antriggern. Je mehr Sie über die Kindheit Ihres Partners erfahren, desto besser können Sie vieles verstehen. Die Übungen 2 bis 7 in Teil III dieses Buches werden Ihnen helfen, einen Teil der unbewussten oder kaum bewussten emotionalen Kämpfe und Verletzungen Ihrer Vergangenheit zu entdecken und Ihrem Partner nahezubringen. Wenn Sie die innere Welt Ihres Partners besser verstehen lernen, werden Sie weniger Verwirrung füreinander auslösen, die Perspektive des anderen gelten lassen und einander mit viel mehr Empathie begegnen: „Jetzt verstehe ich endlich, warum du eine Auszeit für dich selbst brauchst, wenn du von der Arbeit nach Hause kommst. Dein Vater ließ dir nie Zeit für dich selbst. Jetzt verstehe ich es, das macht Sinn. Und ich kann mir vorstellen, wie unausgeglichen du dich fühlst, wenn ich das verhindere, und wie dankbar, wenn ich es ermögliche.“ Auf diese Weise finden wir neue Puzzlesteine, um unser eigenes Rätsel zu lösen, und lernen, mit uns selbst nachsichtiger umzugehen. „Jetzt verstehe ich, woher mein Ärger eigentlich kommt. Wenn wir eingeladen sind und du trödelst, erinnert mich das daran, dass mein Vater nie sein Wort hielt, immer zu spät kam und es ihm nicht einmal leid tat. Das ist der Grund, warum ich dann unruhig und schließlich verärgert reagiere.“

Je mehr Sie über die emotionale Geschichte Ihres Partners wissen, desto weniger werden Sie ihn als Gegner ansehen – stattdessen werden Sie erkennen, dass Sie sozusagen ein Team sind. Gemeinsam leiden Sie unter der Vergangenheit und gemeinsam investieren Sie in das Projekt, eine Atmosphäre der Sicherheit in Ihrer Partnerschaft zu schaffen und die tiefen Bedürfnisse des jeweils anderen zu erfüllen. Auf diese Weise können Sie beide das Gefühl pulsierender Lebendigkeit und tiefer Verbundenheit genießen. Auf dieser Reise sind Sie Verbündete und nicht Gegner. Sie gestalten Ihre Partnerschaft bewusst und stärken einander den Rücken.1 Auf das Thema bewusste Partnerschaft werden wir noch öfter zurückkommen.

Es gibt ein Zitat, mit dem wir dieses Phänomen beschreiben wollen: „Energie folgt der Aufmerksamkeit.“ Mit anderen Worten, worauf Sie den Fokus legen, das werden Sie bekommen. Wenn Sie sich darauf konzentrieren, worin Ihr Partner Sie frustriert, wird Ihnen genau das an ihm auffallen. Verändern Sie jedoch Ihre Sichtweise und rücken das Bemühen Ihres Partners und Ihr eigenes in den Vordergrund, werden Sie mehr Mitgefühl für Ihren Partner empfinden und sich selbst besser annehmen können. Mitgefühl, das Hineinversetzen in den Partner, ist eine wesentliche Komponente der Liebe. Dass Sie beide die Probleme annehmen, die Ihr Partner aufgrund seiner Vergangenheit mitbringt, ist eine Vorbedingung für die Fähigkeit, die Liebe zu finden, die Sie brauchen.

Unersättliche Wesen

Was sind die häufigsten Themen aus der Kindheit? Beim Begriff emotionale Verwundungen aus der Kindheit denken viele Menschen zuerst an schwerwiegende Kindheitstraumata wie Kindesmisshandlung, den frühen Verlust eines Elternteils oder Drogen- und Alkoholsucht eines Elternteils. Für allzu viele Menschen ist dies die tragische Realität ihrer Kindheit.

Doch selbst wenn Sie in einer relativ sicheren und fürsorglichen Atmosphäre aufgewachsen sind, tragen Sie unsichtbare Verletzungen aus Ihrer Kindheit davon, die Ihrem Wunsch nach einer liebevollen und dauerhaften Partnerschaft im Weg stehen können. Um Ihnen eine Vorstellung von Beziehungsstress in der frühen Kindheit zu geben, möchten wir Sie auf eine kurze Reise durch die Kindheit einladen.

Beginnen wir mit der vorgeburtlichen Zeit. Niemand von uns kann sich an das geheimnisvolle Leben vor seiner Geburt erinnern, und doch wissen wir einiges über die körperliche Realität eines Fötus. Wir wissen, dass seine biologischen Bedürfnisse sofort und automatisch befriedigt werden durch den Nahrungsaustausch über die Nabelschnur. Wir wissen, dass ein Fötus weder atmen noch essen muss, sich nicht vor Gefahren zu schützen braucht und ständig durch das gleichmäßige rhythmische Pochen des mütterlichen Herzens beruhigt wird.

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