SO VIEL LIEBE WIE DU BRAUCHST

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Am nachhaltigsten beeinflussen Eltern ihre Kinder jedoch durch ihr eigenes Beispiel. Kinder beobachten instinktiv die Entscheidungen, die ihre Eltern treffen, Freiheiten und Vergnügungen, die sie sich gönnen, Fähigkeiten, die sie beweisen, und Regeln, an die sie sich halten. Die Gesamtheit all dieser Beobachtungen hinterlässt einen starken Eindruck auf der Psyche der Kinder: „So muss man also leben! So kommt man durchs Leben!“ Gleichgültig, ob die Kinder nun das Rollenvorbild ihrer Eltern bewusst akzeptieren oder nicht, spielt dieser frühe Sozialisierungsprozess doch eine entscheidende Rolle für ihre spätere Partnerwahl, und daraus entwickeln sich oft, wie wir gleich sehen werden, die Ursachen für Spannungen und Konflikte in der Ehe.

Die Reaktionen der Kinder auf die Gebote und Verbote der Gesellschaft durchlaufen voraussagbare Stufen. In der Regel versucht ein Kind zuerst, verbotene Handlungen vor seinen Eltern zu verbergen. Vielleicht erlebt das Kind weiterhin wütende Gefühle, spricht sie allerdings nicht mehr aus. Es untersucht seinen Körper nur noch heimlich in seinem eigenen Zimmer. Es quält jüngere Geschwister, wenn die Eltern nicht zu Hause sind. Und vielleicht kommt das Kind im Laufe der Zeit auch zu der Überzeugung, dass einige seiner Gedanken unannehmbar sind, sodass sie lieber unterdrückt werden sollten. Damit wird eine imaginäre Elterninstanz konstruiert und eingesetzt, die die Psychologen als „Über-Ich“ bezeichnen. Immer wenn das Kind nun „verbotene“ Gedanken oder Gefühle erlebt, zensiert es sich selbst und empfindet gleichzeitig Angst, sogar ohne von außen bedroht zu werden. Dieser Prozess wird als derart unangenehm empfunden, dass das Kind schließlich die verbotenen Anteile seiner Person mehr und mehr aufgibt – nach der Freudschen Terminologie „verdrängt“. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, besteht im Verlust des Zugangs zu einigen seiner Persönlichkeitsanteile und dem Fehlen der Erfahrung des Angenommen-Seins, so wie man wirklich ist – vergleichbar mit Muskeln, die auf Wachstum hin angelegt wären, aber nie zur vollen Entwicklung gelangen.

Die Allegorie Platons

Als Helen und ich uns einmal über die verschiedenen Anteile der menschlichen Psyche unterhielten, erinnerte sich Helen an eine Allegorie in Platons Werk Symposion, die als Metapher für diesen Zustand der Gespaltenheit dienen kann.4 Im Urzustand, so heißt es in dieser Sage, waren die Menschen sowohl männlich als auch weiblich. Jedes der menschlichen Wesen besaß einen Kopf mit zwei Gesichtern, vier Hände und vier Füße, und sowohl weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale. Durch diese Einheit und Ganzheit konnten unsere angeblichen Vorfahren unglaubliche Kräfte entfalten. Diese androgynen Geschöpfe wagten es sogar die Götter anzugreifen. Selbstverständlich wollten die Götter diesen Übermut nicht dulden und überlegten, wie sie diese menschlichen Wesen am besten strafen sollten. „Töten wir sie“, so einer der versammelten Götter, „so haben wir niemanden mehr, der uns verehrt und uns Opfer darbringt!“ Zeus schließlich hatte einen Einfall, wie diese schwierige Situation gelöst werden könne. „Die Menschen sollen weiterhin existieren“, entschied er, „doch sie sollen in zwei Teile gespalten werden. Das wird ihre Kräfte verringern und wir müssen sie nicht mehr fürchten.“ Zeus begann sofort damit, alle diese Wesen zu halbieren unter Mithilfe Apolls, dessen Aufgabe es war, die klaffenden Wunden unsichtbar zu machen. Anschließend schickten sie die Hälften in jeweils unterschiedliche Richtungen. Den Rest ihres Lebens sollten sie damit zubringen, leidenschaftlich nach ihrem anderen Teil zu suchen, da nur diese Vereinigung ihre ursprüngliche Ganzheit wiederherstellen konnte.

Wie die mythischen Geschöpfe aus Platons Allegorie scheinen auch wir durch unser Leben zu gehen, halbiert und verstümmelt. Wir versuchen unsere klaffenden Wunden mit Heilsalbe und Verbänden zu schützen, im Bemühen uns selbst zu heilen. Aber trotz dieser Anstrengungen entsteht immer wieder ein Gefühl der Leere in uns. Wir versuchen dieses Vakuum mit Essen, Drogen, Alkohol oder Aktivitäten zu füllen, doch eigentlich sehnen wir uns nach unserer ursprünglichen Verbundenheit und nach dem Gefühl der überschäumenden Lebensfreude, die uns erfüllte, als wir noch am Anfang unseres Lebens standen. Dieses Sehnen verwandelt sich in die spirituelle Suche nach Ganzheit, nach Verbundenheit, und wie in der Sage Platons entwickeln wir die tiefe Überzeugung, dass wir nur den perfekten Partner finden müssen, um uns wieder vollständig zu fühlen.

Platons Geschichte ist auch unsere Geschichte. Unsere primäre Erfahrung und auch die Basis für unser Interesse für die Abenteuer des Lebens war eine tiefe Verbundenheit. Aber die äußere Welt erfüllte unsere Bedürfnisse nicht immer. Vielleicht haben wir die meisten der Kämpfe und Enttäuschungen unserer frühen Kindheit inzwischen vergessen, unser Gehirn hat sie jedoch sorgfältig gespeichert, besonders jene Erfahrungen, die starke Gefühle wie Ärger, Angst oder Verzweiflung antriggerten. Wir sind inzwischen erwachsen und selbst dazu in der Lage uns darum zu kümmern, dass wir zu essen bekommen und es warm und trocken haben, aber der alte Teil unseres Gehirns erwartet noch immer, dass es Menschen gibt, die unsere unerfüllten Bedürfnisse erkennen und entsprechend handeln, um sie zu befriedigen.

Gegen Ende seiner beruflichen Laufbahn stellte Freud seine inzwischen berühmte Frage: „Was wollen Frauen eigentlich?“ Auch wir haben sehr viel investiert, um die Frage zu beantworten: „Was wollen Männer und Frauen eigentlich von ihrer Liebesbeziehung?“ Wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass ein und dieselbe Antwort auf Freuds Frage, auf unsere Frage und auf die große Sehnsucht der Menschheit zutrifft. Mehr als alles andere suchen wir das Gefühl der vollen Lebendigkeit, die spürbar wird, wenn wir tiefe Nähe und Verbundenheit mit anderen Menschen fühlen. Dies ist mehr als ein psychologischer Ausdruck. Da wir uns auch in andere wissenschaftliche Fachgebiete sehr vertieft haben, glauben wir inzwischen, dass der Begriff „Verbundenheit“ das ganze Universum charakterisiert. Alle Dinge stehen in Zusammenhang miteinander, auch wir Menschen; verbunden zu sein entspricht unserer Natur.

Diese Erwartung richten Sie jedoch nicht in gleicher Weise an Ihre Freunde und Ihre Familie. Im Gegenteil! Ihr Altes Gehirn sucht eine besondere Person, die eine primäre Quelle von Erlösung für Sie zu sein verspricht. Jene Person, in die Sie sich verlieben, ist wie eine Leitung, durch welche die volle Lebendigkeit und Lebensfreude fließt, und so neu erlebt werden kann – oder auch nicht. Interessanterweise weist jene Person, in die Sie sich am ehesten verlieben, aus Gründen, die wir im nächsten Kapitel erläutern werden, sowohl die positiven als auch die negativen Charakterzüge Ihrer Eltern auf! Ihr unberechenbares Altes Gehirn erwartet Entschädigung und Wiedergutmachung gerade von jemandem, der genau jenen Menschen ähnelt, welche der Ursprung der meisten Herausforderungen Ihrer Kindheit waren. Unbewusst gehen wir eine Partnerschaft mit der Erwartung ein, dass unser Partner auf magische Weise den ursprünglichen Zustand der Verbundenheit wiederherstellen wird. Es scheint, als besäße der Partner den Schlüssel zu einem lange verloren geglaubten Königreich, und wir müssen ihn nur überzeugen, dass er jene Türe aufsperren soll.

3

Unsere Imago

In der Literatur und in der Liebe

sind wir oft sehr verwundert, was andere auswählen.

André Maurois

Viele Menschen tun sich schwer damit zu glauben, dass bei ihrer Partnerwahl Ähnlichkeiten zu ihren frühesten Bezugspersonen eine Rolle spielen, schon gar nicht hinsichtlich negativer Eigenschaften. Das sei ausgeschlossen, meinen sie. Sie interessierten sich für potenzielle Partner, die sehr viele gute Eigenschaften aufwiesen, die freundlich, liebevoll, finanziell abgesichert, gut aussehend und intelligent erschienen. Gerade wenn sie eine sehr traumatische Kindheit hatten, versuchten Menschen Partner zu finden, die sich entscheidend von ihren frühesten Bezugspersonen unterschieden. Sie sagten sich: „Ich werde niemals einen Alkoholiker heiraten wie meinen Vater!“ Oder: „Auf keinen Fall möchte ich so eine Xanthippe zur Frau, wie meine Mutter es war.“ Doch gleichgültig, welche bewusste Absicht sie bei ihrer Partnerwahl verfolgen, die meisten Menschen werden dennoch von einem Partner angezogen, der ihren Eltern oder frühen Bezugspersonen in positiven und negativen Eigenschaften ähnelt und sie daher ähnlich frustrieren und enttäuschen kann.

Zu dieser ernüchternden Einsicht gelangten wir erst, nachdem wir Hunderten von Paaren zugehört hatten. An irgendeinem Punkt in der Paartherapie wandte sich so gut wie immer einer an den anderen mit der Bemerkung: „Du behandelst mich genauso wie meine sehr auf sich selbst bezogene Mutter!“ Oder: „Du vermittelst mir das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein, genauso wie mein Stiefvater es tat! Ihr seid euch da komplett ähnlich!“

Dieser Zusammenhang bestätigte sich noch deutlicher, als wir Paare baten, in einer Übung die Persönlichkeitsmerkmale ihrer (Ehe-)Partner mit den Eigenschaften der Bezugspersonen zu vergleichen, die für ihre Betreuung und Erziehung verantwortlich gewesen waren. In der Mehrzahl der Fälle besteht eine eindeutige Korrelation zwischen dem Partner und einer der frühen Bezugspersonen, und es schockiert, dass es bei den negativen Charaktereigenschaften die meisten Ähnlichkeiten gibt. (Sie finden diese Übung in Teil III dieses Buches.)

Warum üben negative Charakterzüge so eine starke Anziehungskraft auf uns aus? Würden wir unseren Partner auf rein logischer Basis auswählen, wäre es jemand, der die Unzulänglichkeiten unserer Eltern kompensiert, anstatt sie noch stärker zu zeigen. Verletzt Ihr Partner Sie ständig durch seine Unzuverlässigkeit, wäre es doch sinnvoller, einen Partner zu wählen, der zuverlässig und strukturiert ist und Ihnen helfen kann, sich immer sicherer zu fühlen. Waren Ihre Eltern ängstlich und bevormundend, wäre es logisch, einen Partner zu wählen, der Ihnen viel Freiraum gibt, damit Sie Ihre Angst, vereinnahmt zu werden, Schritt für Schritt abbauen können. Doch jener Teil unseres Gehirns, der uns in der Partnersuche beeinflusst, ist nicht der logische, rationale, neue Teil unseres Gehirns, sondern der fest mit der Vergangenheit verwobene und „kurzsichtige“, äußerst selektiv wahrnehmende alte Teil unseres Gehirns. Und dessen Bestreben liegt darin, neuerlich die Atmosphäre und Situationen herzustellen, die wir in unserer eigenen Kindheit erlebt haben und die nach Heilung streben.1 Es ist der Versuch, diese frühen Erfahrungen neuerlich zu machen, mit dem klaren Ziel, Heilung zu finden und endlich zu bekommen, was wir in unserer Kindheit so sehr gebraucht hätten.

 

Die Suche nach dem Verlorenen Selbst

Wie verhält es sich mit unserem unbewussten Bestreben und Bedürfnis, unser Verlorenes Selbst wiederzufinden, jene Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen, die wir unterdrücken mussten, um nicht das Missfallen unserer Eltern oder der Gesellschaft zu erregen? Welcher Charaktertyp könnte uns helfen, diese Fähigkeiten wiederzuerlangen, die uns seit unserer Geburt zustehen würden? Könnte das jemand sein, der uns aktiv unterstützt, wieder in Kontakt mit unseren verlorenen Selbstanteilen zu kommen? Kann das jemand sein, der unsere Schwächen teilt und aus diesem Grund weniger Minderwertigkeitsgefühle in uns auslöst? Oder könnte es jemand sein, der unsere Schwächen ausgleicht und uns ergänzt? Denken Sie eine Minute lang an eine Ihrer persönlichen Schwächen, dann werden Sie diese Frage beantworten können. Vielleicht bedauern Sie es, kein künstlerisches Talent zu besitzen oder nicht zu starken Emotionen fähig zu sein, oder vermissen Sie wie Sarah, von der wir im vorangegangenen Kapitel erzählten, bei sich die Fähigkeit klar und rational denken zu können? Vor Jahren wurden Ihnen diese Schwächen wahrscheinlich besonders bewusst, hielten Sie sich in der Gesellschaft von Menschen auf, die in einem besonderen Maße über diese Fähigkeiten verfügten. Wenn es Ihnen gelang, mit einem dieser beneidenswerten Menschen eine nahe Beziehung einzugehen, erlebten Sie plötzlich eine ganz andere Wirklichkeit. Statt sich unterlegen oder neidisch zu fühlen, erlebten Sie sich selbst in gewisser Weise wieder „vollständiger“. Die emotionale Bindung zu einem Menschen, den Sie als „meinen“ Freund oder „meine“ Freundin bezeichnen, führte dazu, dass Sie sich mit ihren oder seinen Fähigkeiten und Eigenschaften identifizieren konnten und sich weniger eingeschränkt vorkamen. Sie fühlten sich mit diesem anderen Menschen verschmolzen, um sich wieder „ganz“ fühlen zu können.

Sehen Sie sich um, dann können Sie beobachten, dass die meisten Menschen komplementäre Partner auswählen. Dan ist gewandt und gesprächig, seine Frau Grete ist nachdenklich und introvertiert. Jana denkt sehr intuitiv, ihr Ehemann Patrick dagegen argumentiert äußerst logisch. Rena ist Tänzerin, während der Körper ihres Freundes Mattheo verspannt und eher ungelenk wirkt. In diesen Yin-Yang-Beziehungen scheinen Menschen ihre verlorene Hälfte wiedergewinnen zu wollen. Gegensätze ziehen einander tatsächlich an.

Unsere Imago

Bei unserer Suche nach einem idealen Partner, der sowohl unseren primären Bezugspersonen ähnelt, als auch die verlorenen Anteile unseres Ichs kompensieren kann, greifen wir in der Regel auf gespeicherte Erinnerungen zurück, die wir kontinuierlich seit unserer Geburt durch unsere Interaktionen mit den wichtigsten Menschen unserer Kindheit gesammelt haben. Das können unsere Mutter oder unser Vater gewesen sein, eines oder mehrere unserer Geschwister oder auch eine Kinderfrau, Großeltern oder Freunde der Familie. Wer auch immer dazu zählte, ein Teil unseres Gehirns hat jede Einzelheit über unsere Erfahrungen mit diesen Menschen gespeichert – den Klang ihrer Stimme, die Zeit, die diese Personen benötigten, unsere Schreie zu hören und uns zu Hilfe zu kommen, die Farbe ihrer Haut, wenn sie wütend wurden, wie sie lächelten, wenn sie glücklich waren, die Haltung ihrer Schultern, die Art, ihren Körper zu bewegen, ihre charakteristischen Stimmungen, ihre Talente und Interessen. Unser Gehirn hat alle wesentlichen Interaktionen zwischen uns und diesen Menschen gespeichert, besonders jene, die mit Gefühlen verbunden waren. Unser Gehirn hat diese Daten nicht ausgewertet, sondern einfach eine Schablone daraus gefertigt.

Es mag fast unglaublich erscheinen, dass irgendwo in unserem Kopf so detaillierte Aufzeichnungen über unsere Bezugspersonen vorhanden sein sollen, während wir nur vage Erinnerungen an unsere ersten Jahre besitzen. Vielen Menschen macht es große Schwierigkeiten, sich an Dinge zu erinnern, die sie erlebten, bevor sie fünf oder sechs Jahre alt waren – selbst wenn es sich um traumatische Ereignisse handelt, die eigentlich einen tiefen Eindruck hinterlassen haben sollten. Doch Wissenschafter haben bestätigt, dass ungeheure Mengen verborgener Informationen in unserem Gehirn gespeichert sind, die nicht als bewusste Erinnerungen abrufbar sind. Neurochirurgen erkannten diese Tatsache, als sie Gehirnoperationen an Patienten durchführten, die nur eine örtliche Betäubung erhielten.2 Sie stimulierten Teile des Gehirns dieser Patienten mit geringer elektrischer Spannung, und plötzlich waren diese Menschen wieder in der Lage, sich an vergessen geglaubte Erlebnisse aus ihrer frühen Kindheit zu erinnern. Ihre Erinnerungen waren sehr lebendig, oft in Farbe, und enthielten Details wie die Kleidung, die die Beteiligten anhatten, den Klang ihrer Stimmen und was sie damals gerade taten. Manche Wissenschafter sind der Ansicht, dass alles, was wir jemals erlebt haben, verschlüsselt in den Windungen unseres Alten Gehirns gespeichert ist.

Während Sie all diese Daten von Ihren primären Bezugspersonen speicherten, legte Ihr Altes Gehirn diese Vielzahl an Informationen in einer Datei ab, der es den Oberbegriff Wer am meisten zu meinem Überleben beitrug zuteilte. Dieses zusammengesetzte Bild nannten wir Imago – ein lateinisches Wort, das Bild bedeutet.3 Vielleicht können Sie sich die Imago wie eine Silhouette vorstellen, die nur wenige körperliche Merkmale umfasst, aber sehr viele Charakterzüge Ihrer primären Bezugspersonen in sich vereint.

Romantische Liebe hängt davon ab, wie sehr jemand mit unserer gespeicherten Imago übereinstimmt. Wenn wir jemandem zum ersten Mal begegnen, beginnt ein verborgener Teil unseres Gehirns zu rattern und innerlich eine Liste abzuhaken, während er die Charakterzüge dieser anderen Person kühl analysiert, um sie dann mit seiner Datenbank zu vergleichen. Besteht nur geringe Korrelation mit Ihrer Imago, besteht nur geringes Interesse, selbst wenn ein Internet-Dating-Service Ihnen eine hundertprozentige Übereinstimmung prophezeit hatte. Besteht jedoch ein hohes Maß an Korrelation, finden wir diesen Menschen ausgesprochen attraktiv.

Unsere Suche nach jemandem, der unserer Imago entspricht, ähnelt der Methode, mit der Soldaten im Zweiten Weltkrieg ausgebildet wurden, feindliche Flugzeuge identifizieren zu können. Man gab ihnen Bücher, in denen die Silhouetten feindlicher Flugzeuge sowie verbündeter Flugzeuge abgebildet waren. Entdeckten sie ein Flugzeug am Himmel, verglichen sie dessen Form eilig mit den Silhouetten, die sie zu unterscheiden gelernt hatten. War es ein Flugzeug einer verbündeten Macht, entspannten sie sich und gingen auf ihre Posten zurück. War es ein Flugzeug des Feindes, schlugen sie Alarm.

Wie alle anderen unbewussten Prozesse laufen auch diese Auswahlmechanismen ab, ohne dass wir es merken. Nur in unseren Träumen gelingt es uns manchmal, einen Blick auf unsere Imago zu werfen. Wenn wir unsere Träume deuten, fällt uns manchmal auf, dass ein Traum mit der Handlung einer Person beginnt, und plötzlich übernimmt ein anderer Mensch deren Rolle. Vielleicht erinnern Sie sich sogar an Träume, in denen Ihr Partner sich plötzlich in Ihre Mutter oder Ihren Vater verwandelte, oder beide eine ähnliche Rolle spielten oder Sie ganz ähnlich behandelten, sodass sie praktisch nicht zu unterscheiden waren.

So deutlich wie in Ihren Träumen werden Sie die Existenz Ihrer persönlichen Imago sonst kaum je bestätigt finden. Doch in den Übungen in Teil III dieses Buches, beim Vergleich der dominanten Charaktereigenschaften unseres Partners mit denen unserer ursprünglichen Bezugspersonen, wird deutlich werden, welche Parallelen unser Unbewusstes hier erkannt hat.

Unsere Imago und

die Phase der romantischen Liebe

Zur Illustration möchten wir Ihnen hier schildern, wie unsere Imago die Partnerwahl beeinflussen kann. Lynn, eine meiner (Harvilles) Klientinnen, war 40 Jahre alt und hatte drei Kinder im schulpflichtigen Alter. Sie lebte in New England, wo sie für die Stadtverwaltung arbeitete. Ihr Mann Peter war Computerfachmann.

Schon im ersten Beratungsgespräch, zu dem Lynn gemeinsam mit ihrem Ehemann gekommen war, erfuhr ich von dem überaus großen Einfluss, den Lynns Vater auf seine Tochter gehabt hatte. Offensichtlich war er ein fürsorglicher Vater gewesen und kümmerte sich bestens um den Garten, das Haus und die Autos, gleichzeitig konnte er jedoch äußerst unsensibel auf Lynns Bedürfnisse reagieren. Sie erzählte, dass er sie oft so lange und intensiv gekitzelt hatte, bis sie es fast nicht mehr ertragen konnte, obwohl er wusste, wie sehr sie dieses Spiel verabscheute. War sie dann in Tränen ausgebrochen, hatte er gelacht und sie ein Baby genannt. Besonders belastend für Lynn ist die Erinnerung daran, dass ihr Vater sie einfach in den Fluss geworfen hatte, um ihr das Schwimmen „beizubringen“. Als sie mir diese Geschichte erzählte, versagte ihr fast die Stimme und ihre Hände umklammerten fest die Lehnen ihres Fauteuils. „Wie konnte er das nur tun?“, fragte sie. „Ich war erst vier Jahre alt! Ich erinnere mich, dass ich meine eigene Tochter oft ansah, als sie vier Jahre alt war, und mich immer wieder fragte, wie er mich damals ins Wasser hatte werfen können. In diesem Alter sind Kinder so vertrauensvoll und gleichzeitig auch so verletzlich.“

Wenngleich Lynn sich dessen nicht bewusst war, hatte sie noch viele weitere frühe Bilder ihres Vaters in sich gespeichert, die sie sehr berührt hatten. Lassen Sie uns die Hypothese aufstellen, dass ihr Vater es nicht so genau nahm, ob ihr Fläschchen ausreichend gewärmt war, sodass sie fortan das Liegen in seinem Arm mit dem Schock, kalte Milch trinken zu müssen, assoziierte. Vielleicht hatte er sie, als sie nur wenige Monate alt gewesen war, hoch in die Luft geworfen und ihre Angstschreie nicht beachtet.

Lynn besitzt auch viele und recht klare Erinnerungen an Erlebnisse mit ihrer Mutter. Deren positiver Beitrag war, dass sie sich viel Zeit für ihre Tochter nahm und ihr viel Aufmerksamkeit widmete, während sie gleichzeitig konsequent in ihrer Erziehung war. Anders als Lynns Vater war sie ausreichend einfühlsam für die Bedürfnisse ihrer Tochter. Sie hörte zum Beispiel voller Verständnis zu, als Lynn ihr ungefähr im Alter von 12 Jahren von Problemen in der Schule erzählte. Doch leider war sie Perfektionistin. Lynn konnte machen, was sie wollte, nie schien es gut genug für ihre Mutter zu sein. Immer korrigierte jene ihre Sprechweise, kämmte ihre Haare anders, mäkelte an ihrer Kleidung herum und überprüfte ihre Hausaufgaben. Lynn fühlte sich minderwertig und unzureichend – und es war ihre Mutter, die entscheiden durfte, was verändert werden musste.

Ein weiterer Teil der Persönlichkeit von Lynns Mutter war es, dass sie keinen guten Zugang zu ihrer eigenen Sexualität fand. Lynn erinnert sich, dass ihre Mutter immer nur langärmelige Blusen trug, darüber unförmige Pullover, die ihre Figur kaschierten. Niemals duldete sie ein anderes Familienmitglied im Badezimmer, obwohl nur eines für die gesamte Familie zur Verfügung stand. Auch als Lynn ein Teenager geworden war, klärte ihre Mutter sie nicht auf, sprach nie über Menstruation, erste Verliebtheit oder Sex. Es überrascht nicht, dass Lynn sich später sexuell gehemmt fühlte.

Auch andere Menschen übten einen starken Einfluss auf Lynn aus, zum Beispiel ihre ältere Schwester Judith. Judith war vier Jahre älter und Lynns großes Vorbild. Sie war groß und talentiert und schien bei allem, was sie tat, Erfolg zu haben. Lynn bewunderte ihre Schwester sehr und wollte so viel wie möglich in ihrer Nähe sein, doch meistens war es ihrer Schwester nicht recht, wenn Lynn mit ihr Zeit verbringen oder sie wohin begleiten wollte.

 

Im Laufe der Zeit mischten sich die Charakterzüge von Lynns Mutter, ihrem Vater und ihrer älteren Schwester und verschmolzen in Lynns Unterbewusstsein zu einem Bild, zu ihrer Imago. Die Hauptmerkmale dieser Imago hießen: liebevoll, fleißig, kritisch, unsensibel, überlegen und großzügig. Die Charaktermerkmale, die sich in diesem Muster besonders deutlich abzeichneten, waren die negativen (die Tendenz, überaus kritisch zu bewerten, unsensibel zu sein und herablassende Ablehnung zu zeigen), weil dies die Merkmale waren, die sie in ihrer Kindheit am meisten verletzt hatten, und für die sie heilsame gegenteilige Erfahrungen suchte. Lynn hielt Ausschau nach jemandem, der dieser Imago entsprach, um diese Szenen aus ihrer Kindheit neu zu inszenieren, damit sie endlich bekommen konnte, was sie schon als Kind dringend gebraucht hätte.

Ihren Mann Peter traf sie bei der Party einer Freundin. Ihre wichtigste Erinnerung an diese erste Begegnung war, dass sie ihn anblickte und plötzlich das starke Empfinden hatte, ihn schon zu kennen. „Das war ein wirklich seltsames Gefühl“, beschrieb Lynn. Im Laufe der nächsten Woche erfand sie immer wieder Vorwände, um ihre Freundin besuchen zu können, und war glücklich, Peter öfter begegnen zu können. Er zog sie immer stärker an und ihr wurde bewusst, dass sie sich nur noch in seiner Nähe glücklich fühlte. Während dieser Begegnungen verglich sie ihn keineswegs bewusst mit Personen aus ihrer Kindheit, weder mit ihren Eltern noch mit ihrer Schwester. Sie fand ihn nur unwahrscheinlich anziehend und die Gespräche mit ihm liefen großartig.

Im Laufe ihrer Therapie erkannte ich (Harville), wie gut Peters Persönlichkeit Lynns Imago entsprach. Er trat eher extrovertiert auf, sehr selbstsicher, Charakterzüge, die er mit Lynns Vater und ihrer Schwester teilte. Doch gleichzeitig war er auch sehr kritisch wie Lynns Mutter. Er ermahnte Lynn ständig, sie solle doch abnehmen, sich attraktiver kleiden und lockerer werden, vor allem im Bett. Peter kritisierte Lynn auch dafür, ihrem Chef gegenüber eine ziemlich unterwürfige Haltung zu zeigen.

Was ihn am meisten Lynns Vater ähneln ließ, war jedoch seine fehlende Einfühlsamkeit gegenüber Lynns Gefühlen. Sie litt immer wieder an Depressionen und Peters einziger Rat war: „Rede weniger und arbeite mehr. Ich habe keine Lust mehr, mir deine Probleme anzuhören!“ Das entsprach seinem eigenen Umgang mit deprimierenden Gefühlen. Er versuchte sie durch übertriebene Aktivität zu verdrängen.

Ein weiterer Grund, warum Lynn sich anfänglich so zu Peter hingezogen fühlte, war, dass er überhaupt keine Schwierigkeiten mit seiner Körperlichkeit zu haben schien. Betrachtete ich die beiden, erinnerte ich mich oft an die Worte eines meiner Ausbildner: „Will man wissen, mit welchem Menschen ein Klient verheiratet ist, muss man sich nur seinen Gegentypus vorstellen.“ Peter breitete sich meist lässig in seinem Fauteuil aus. Manchmal streifte er einfach seine Schuhe ab und setzte sich im Schneidersitz hin. Er erschien fast immer in bequemen Cordhosen, seine Hemden standen am Hals offen und häufig trug er bequeme Schuhe ohne Socken. Lynn hingegen trug streng geschnittene, gut sitzende Kostüme, die Blusenknöpfe immer bis zum Hals geschlossen, oder Hosenanzüge, zusammen mit um den Hals geknoteten Seidentüchern. Sie saß mit sorgsam überkreuzten Beinen und aufrechtem Rücken vor mir. Lynn und Peter ergänzten sich perfekt und zeigten sehr gegensätzliche Charaktereigenschaften, stets bereit, darüber zu streiten.

Jetzt verstehen wir besser, warum sich Lynn zu Peter hingezogen fühlte. Und was wiederum fand Peter an Lynn so attraktiv? Einer der Gründe lag in ihrer starken Emotionalität. Zwar hatten Peters Eltern seine Körperlichkeit offensichtlich gut akzeptieren können, doch hatten sie Schwierigkeiten damit gehabt, mit seinen Gefühlen umzugehen. Erst im Zusammensein mit Lynn fühlte er sich mit seinen verdrängten Gefühlen stärker verbunden. Gleichzeitig wies auch sie viele Charakterzüge auf, die er von seinen Eltern her kannte. Sie war humorvoll wie seine Mutter und ihre eher abhängige, sich selbst zurückstellende Art erinnerte ihn an seinen Vater. Da Peter Lynns Imago entsprach und umgekehrt, hatten sie sich ineinander verliebt.

Wir werden häufig gefragt, wie es möglich ist, dass Menschen in so kurzer Zeit so viel über einen anderen Menschen erahnen können. Einige dieser Merkmale sind recht offensichtlich, wie Peters körperliche Ungezwungenheit oder Lynns Sinn für Humor, andere jedoch nicht.

Der Grund, warum es uns oft leicht fällt, einen anderen Menschen einzuordnen und zu beurteilen, liegt in einer Fähigkeit, die Freud als unsere unbewusste Wahrnehmung bezeichnete. Mit unserem Unbewussten nehmen wir sehr viel mehr von anderen Menschen wahr, als wir denken. Treffen wir Fremde, registrieren wir sofort, wie sie sich bewegen, ob sie Augenkontakt suchen oder eher vermeiden, welche Kleidung sie tragen, was ihre Mimik ausdrückt, wie sie ihr Haar frisieren, ob Lachen oder Lächeln ihnen leicht fällt, ob sie gut zuhören können, ob sie rasch oder langsam sprechen, wie lange sie brauchen, um eine Frage zu beantworten – alle diese Einzeldaten werden in nur wenigen Minuten gespeichert.

Als wir in New York lebten, ging ich (Helen) morgens immer zu Fuß in meine Praxis und beobachtete dabei die Menschen auf den dicht bevölkerten Gehwegen. Mein Urteil ist spontan: Diese Person würde ich gerne kennenlernen, an jener habe ich kein Interesse. Innerhalb weniger Sekunden fühle ich mich hingezogen, nicht interessiert oder sogar abgestoßen von jemandem. Gehe ich zu einer Party, weiß ich sehr rasch, mit wem ich gern reden möchte. Andere Menschen berichten von ähnlichen Erfahrungen. Ein Lastwagenfahrer erzählte mir, er könne sofort sehen, ob er einen Anhalter mitnehmen wolle oder nicht, selbst bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h. „Und ich habe mich kaum je getäuscht!“, meinte er.

Wenn wir uns auf der Suche nach einem passenden Partner befinden, so ist unsere Beobachtungsgabe besonders aktiv und konzentriert, da wir jemanden suchen, der unsere elementaren Bedürfnisse erfüllen kann, und wir fühlen uns zu Vertrautem hingezogen. Gleichzeitig suchen wir nach jemandem, der unser Verlorenes Selbst repräsentiert. Unbewusst rekonstruieren wir die Matrix unserer Ursprungsfamilie. Unser Altes Gehirn überprüft alle in Frage kommenden Kandidaten sehr genau: Wird er mich umsorgen? Wird er mir helfen, mein Verlorenes Selbst wiederzufinden? Wenn unser Altes Gehirn Interesse signalisiert, fühlen wir uns sofort zu jener Person hingezogen. In allen folgenden Begegnungen mit ihm oder ihr ist das Alte Gehirn sehr wach, weiterhin auf der Suche nach Hinweisen, ob dieser Partner unserer Imago entsprechen könnte. Scheinen sich unsere unbewussten Erwartungen zu erfüllen, steigert das unser Interesse noch mehr.

Nun wird es nicht jedem Menschen gelingen, einen Partner zu finden, der sehr genau seiner Imago entspricht. Manchmal sind nur ein oder zwei der Charaktermerkmale deckungsgleich, die Anziehung bleibt daher eher schwach. Solche Beziehungen sind in der Regel weniger leidenschaftlich, aber auch weniger belastet als die, bei welchen die Übereinstimmung mit den Charakterzügen der frühen Bezugspersonen sehr groß ist. Der Grund, warum sie weniger leidenschaftlich verlaufen, könnte darin liegen, dass das Alte Gehirn weiter auf der Suche nach dem „Idealpartner“ ist – der derzeitige Partner kommt meiner Imago zwar nahe, scheint aber nicht meine ganz große Liebe zu sein. Und solche Beziehungen verlaufen weniger problematisch, weil weniger Kindheitstraumata angetriggert werden. Werden solche Beziehungen beendet, liegt das oft daran, dass das Interesse an der anderen Person einfach zu gering wurde, und nicht an einem großen „Leidensdruck“. „Es spielte sich nicht mehr viel ab“, sagen die Partner dann. Oder: „Tief innen spürte ich, dass mir einfach etwas fehlte. Ich wusste, es gibt jemanden auf dieser Welt, der besser zu mir passt.“

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