Wolf unter Wölfen

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An der Wohnungstür über dem bronzenen Klingelring (Löwenmaul) hängt ein angeschlagenes Namensschild aus Porzellan ›Edmund Pagel – Gesandtschaftsattaché‹. Frau Pagel marschiert bereits auf die Siebzig zu, es sieht danach nicht so aus, als hätte es ihr Mann im Leben sehr weit gebracht. Betagte Gesandtschaftsattachés sind ein rarer Artikel.

Übrigens hatte es Edmund Pagel so weit gebracht, wie es der tüchtigste Botschaftsrat und bevollmächtigte Gesandte nur bringen kann – nämlich auf den Friedhof. Wenn Frau Pagel in ihres Mannes Zimmer geht, so besucht sie nicht ihn, sondern was von ihm auf dieser Welt zurückblieb – und das hat seinen Ruf in der Welt, weit über die Wände des kleinen Heims hinaus.

Frau Pagel stößt die Fenster des Zimmers weit auf: Licht und Luft dringen aus den Gärten herein. Hier in dieser kleinen Straße, so nahe dem Verkehr, daß man abends die Hochbahn in den Bahnhof Nollendorfplatz einfahren und tags wie nachts die Autobusse rumpeln hört – hier ist ein weitläufiges Ineinandergeschiebe alter Gärten mit hohen Bäumen, verschollener Gärten, die sich seit den achtziger, neunziger Jahren kaum geändert haben. Es ist gut hier zu wohnen – für alternde Leute. Die Hochbahn mag donnern und der Dollar klettern – geruhig schaut die verwitwete Frau Pagel in die Gärten. Das Weinlaub ist emporgestiegen bis zu ihren Fenstern, drunten wächst alles immer weiter, blüht weiter, sät sich aus – die Rasenden, Hastigen, Ruhelosen drüben mit ihrem Gepolter und Betrieb wissen es nur nicht. Sie kann zuschauen und sich erinnern, sie braucht nicht zu hetzen, der Garten darf sie erinnern. Aber daß sie hier immer noch wohnen kann, daß sie nicht mit zu hasten braucht – das hat er gemacht, dessen Werk hier in diesem Zimmer ist.

Vor fünfundvierzig Jahren sahen sie sich zum erstenmal, liebten sich, heirateten sich später. Es gab nichts Strahlenderes, Fröhlicheres, Rascheres als ihn. Wenn sie zurückdenkt, ist ihr immer, als sei sie mit ihm bei hellem Wind durch Blütenstraßen gelaufen. Von den Mauern senkten sich die Zweige auf sie. Sie liefen schneller. Über der Spitze des häuserbestandenen Hügels wehte – zwischen zwei Zypressen – der Himmel wie ein Zelt …

Wenn sie nur liefen, gleich würde sich der blauseidene Vorhang vor ihnen öffnen.

Ja, was so recht seines Wesens Zeichen war, das war seine Schnelle, die nichts von Hast hatte, die aus der Kraft kam, dem Wohlgefühl der völligen Gesundheit.

Sie kamen zu einer Wiese mit Herbstzeitlosen. Einen Augenblick hielten sie still auf dem festlichen grünen, lilagestirnten Teppich. Dann bückte sie sich zum Pflücken – doch sie hatte kaum zwanzig Blüten in der Hand, da kam er mit dem Strauß, leicht, rasch, ohne Eile, mit dem großen, fröhlichen Strauß.

Wie machst du das? fragte sie atemlos.

Ich weiß nicht, sagte er. Es ist mir immer, als sei ich ganz leicht, wehe mit dem Wind.

Der Vorhang rauscht. Ein halbes Jahr ist vorbei, sie sind nun schon eine Weile verheiratet, die junge Frau hört in ihrem Schlaf einen klagenden Ruf. Sie wacht auf. Ihr junger Mann sitzt im Bett, er sieht völlig verändert aus, dies Gesicht kennt sie noch nicht.

Bist du es –? fragt sie so leise, als fürchte sie, durch ihre Worte könne der Traum Wahrheit werden.

Der fremdvertraute Mann neben ihr versucht zu lächeln, ein verlegenes, um Verzeihung bittendes Lächeln. Entschuldige, wenn ich dich gestört habe. Es ist so seltsam, ich verstehe es nicht. Mir ist wirklich angst. Und nach einer langen Pause, während er sie zweifelnd ansieht: Ich kann nicht aufstehen …

Du kannst nicht aufstehen? fragt sie ungläubig. Es ist so unwirklich, ein Scherz, Unsinn von ihm, schlechter Unsinn natürlich. So etwas gibt es ja gar nicht, daß man plötzlich nicht aufstehen kann.

Ja, sagt er langsam und scheint es auch nicht zu glauben. Mir ist so, als hätte ich keine Beine mehr. Jedenfalls fühle ich sie nicht mehr.

Unsinn! ruft sie und springt auf. Du hast dich erkältet, oder sie sind dir eingeschlafen. Warte nur, ich helfe dir …

Aber noch während sie dies sagt, noch während sie um die Betten zu ihm geht, dringt ein eisiges Gefühl in sie … Noch während sie spricht, fühlt sie: Es ist wahr, es ist wahr, es ist wahr …

Fühlt sie –? Noch die alte Frau am Fenster macht eine wütende Schulterbewegung. Wie kann sie das Unmögliche fühlen?! Der Schnellste, der Fröhlichste, der Lebendigste – und nicht gehen können, nicht einmal stehen können! Unmöglich, das zu fühlen.

Aber die Eiseskälte bleibt in ihr, es ist, als atme sie die Kälte mit der Lebensluft immer tiefer in sich ein. Das Herz will sich wehren, aber es wird auch schon kalt, der Eispanzer legt sich enger darum.

Edmund! ruft sie beschwörend. Wach auf! Steh auf!

Ich kann nicht, murmelt er.

Er konnte es wirklich nicht. So wie er an jenem Morgen im Bett gesessen, so saß er nun tagaus, tagein, Jahr um Jahr, da – im Bett, im Rollstuhl, in einem Liegestuhl … saß da, völlig gesund, ganz ohne Schmerzen, nur: er konnte nicht gehen. Das Leben, das so flammend begonnen, das hurtige, rasche, leuchtende Leben, das lachende Glücksleben, blaue Seidenzelte und Blüten – vorbei! Vorbei! Einmal und nicht wieder. Warum nicht wieder –? Keine Antwort. Ach, Herre, Herre, warum denn –? Wenn es aber sein mußte, warum dann so plötzlich –? Warum ohne alle Warnung, ohne Übergang –? Glücklich in den Schlaf geglitten – und elend erwacht, unermeßlich elend!

Oh, sie fand sich nicht damit ab, keinesfalls fand sie sich damit ab! Alle zwanzig Jahre, die dies dauerte, fand sie sich nicht darein. Als er schon längst jede Hoffnung aufgegeben hatte, schleppte sie ihn immer noch von Arzt zu Arzt. An Meldungen von einer Wunderheilung, an einer Zeitungsnotiz entzündete sich ihr Hoffen. Nacheinander glaubte sie an Bäder, Bestrahlungen, Packungen, Massagen, Medikamente – wundertätige Heilige. Sie wollte daran glauben, sie tat es.

Laß es doch, lächelte er. Vielleicht ist es gerade gut so.

Das möchtest du! rief sie zornig. Dich darein finden – demütig, was?! Das wäre bequem! Demut mag für die Übermütigen, die Glücklichen gut sein, die einen Zügel brauchen. Ich halte es mit den Alten, die um ihr Glück mit den Göttern kämpften.

Aber ich bin glücklich, sagte er freundlich.

Doch sie wollte dies Glück nicht. Sie verachtete es, es erfüllte sie mit Zorn. Sie hatte einen Gesandtschaftsattaché geheiratet, einen tätigen Mann, Mensch im Umgang mit Menschen, einen künftigen Botschafter. An der Tür aber hing ein Schild ›Edmund Pagel – Gesandtschaftsattaché‹ und dabei blieb es! Sie ließ kein neues machen: ›Pagel – Kunstmaler‹? Nein, sie hatte keinen Farbenreiber und Kleckser geheiratet.

Ja, da saß er nun und malte. Er saß in seinem Rollstuhl und lächelte und pfiff und malte. Eine zornige Ungeduld erfüllte sie. Begriff er denn nicht, daß er sein Leben vertat mit diesen komischen Schildereien, über die alle nur lächelten –?

Laß ihn doch, Mathilde, sagte die Verwandtschaft. Für einen Kranken ist das sehr gut. Er hat doch seine Beschäftigung und Ablenkung.

Nein, sie ließ ihn nicht. Als sie ihn heiratete, war nicht von Malen die Rede gewesen. Ihr war nichts davon bekannt, daß er je einen Pinsel in der Hand gehabt hatte. Sie haßte das alles, schon den Geruch der Ölfarben. Sie stieß ständig gegen die Keilrahmen, die Staffelei war ihr immer im Wege. Sie fand sich nie mit ihr ab. In den Gastzimmern der Badeorte, auf den Böden der Mietswohnungen vergaß sie seine Bilder, die Kohlezeichnungen lagen herum, verkamen.

Manchmal, mitten aus einer Arbeit heraus, aus den Sorgen heraus, aus dem sehr engen Gefängnis ihres eigenen Ich heraus, konnte sie hochsehen und solch Bild an der Wand betrachten, als sähe sie es zum erstenmal. Irgend etwas wollte sie dann leise anrühren, als rege sich etwas im Schlaf – dem Erwachen zu. Halte ein! Halte doch ein! Es war sehr hell, ein Baum etwa, in der Sonne, in der Luft, gegen einen klaren Sommerhimmel. Halte doch ein! Aber der Baum schien sich zu heben, Wind wehte sachte, der Baum bewegte sich – flog er? Doch, die ganze Erde flog, die Sonne, Spiele von Licht und Luft, leise, eilig, zart – halte doch ein, grimmige, dunkle Erde!

Sie trat näher heran. Der Vorhang vor dem Geheimnisvollen wehte. Es war Leinwand, riechende Ölfarbe, Erdenstoff, fester, fester Erdenstoff. Aber Wirbel erklangen, Wind wehte, der Baum bewegte die Äste, das Leben floß, wehte – fliege, halte nicht ein, fliehe und fliege, wie wir armen Irdischen fliehen und fliegen. Umsonst hängen wir die Bleigewichte der Sorgen, der Hoffnungen, der Entwürfe an unsere Sohlen, uns der Stunde zu verhaften. Wir fliehen dahin, wir rinnen ins Meer …

Von einem Gelähmten gemalt, erschaffen aus dem Nichts. Freilich von einem Manne, der Bewegung kannte und liebte, der jetzt nichts mehr ist als ein schwerfälliger Leib, den man aus dem Bett in den Stuhl wälzt – nein, halte nicht ein, wir fliehen, wir fliegen.

Ja, es rührt sich sachte in der betrachtenden Frau. Eine Ahnung will sie überkommen, als hätte sie ihren Mann unvergänglicher, strahlender, rascher als je zuvor – doch sie schüttelt es ab, sie sinkt wieder in Schlaf. Leinwand und Farbe, eine plane Fläche nach bestimmten Regeln bunt gemacht, nichts von Bewegung, nichts von dem Manne!

Weiter in die Bäder! Zu noch mehr Ärzten! Was sagt denn die Welt? Es hat zwei oder drei kleine Ausstellungen gegeben – man hörte nichts darüber, man sah nichts davon –, nie wurde ein Bild verkauft. Gottlob, daß man das wenigstens nicht nötig hatte! Und wer sie dann und wann auf den ruhelosen Reisen durch die Heilstätten der Erde doch zu finden wußte: irgendein junger Mensch, schweigsam, ungelenk, düster oder ein anderer, plötzlich in einen Wortstrom ausbrechend, mit fahrigen Bewegungen, eine neue Zeit kündend – der machte ihr nicht grade Mut, seine Schildereien wichtig zu nehmen!

 

Komm, der Tag ist so schön, laß uns ausfahren!

Das Licht ist gut. Laß mich noch malen, eine Stunde.

Ich weiß gar nicht mehr, wie es draußen ist. Ich komme um vor Lufthunger!

Gut, setze dich ans Fenster, mach es auf – ich wollte schon lange dich einmal malen …

So war er, freundlich, heiter, nie böse – aber nicht zu erschüttern. Sie redete, sie bat, wurde zornig, wieder gut, hinterhältig, um Verzeihung bittend – er war wie ein Feld, über das Wind, Gewitter, Sonnenschein, Nachtfrost, Regen dahingehen. Es nimmt alles auf, es scheint sich nicht zu ändern, am Ende ist eine Ernte da.

Ja, eine Ernte war da. Aber bis sie reifte, geschah noch etwas anderes, etwas, um das sie zwanzig Jahre gekämpft, gehadert, gerungen, gefleht hatte: eines Tages stand er da! Er ging ein paar Schritte, zögernd zuerst, mit demselben ein wenig beklommenen, um Verzeihung bittenden Gesicht wie vor zwanzig Jahren: Ich glaube wirklich, es geht!

Wie sie gekommen, war die Krankheit geschwunden, unbegreiflich warum. All ihr Eifer, all ihr Sorgen hatten diesem Fortgang nichts dazu tun können; menschlichem Einwirken, ihrem Einwirken war dies alles entrückt – es war zum Verzweifeln!

Inzwischen war ein halbes Leben – und der bessere Lebensteil – verronnen. Sie stand Anfang der Vierzig, einen fünfundvierzigjährigen Gesandtschaftsattaché neben sich – verronnen, verwelkt, vorbei! Ein tätiges Leben, ein eiferndes Leben, ohne Rast, voller Pläne, voller Hoffnungen … Nun sind die Hoffnungen erfüllt, und es bleibt nichts mehr zu hoffen. Alle Pläne, alle Sorgen sind gestaltlos geworden. Ein ganzes Leben zerrann zu Staub in dem Augenblick, da Edmund aufstand und ging!

Unbegreifliches Frauenherz:

Da steht dein Bild, Edmund. Du hast nur noch ein paar Striche zu tun – willst du nicht –?

Bilder, ja, Bilder … sagte er gedankenlos, sah es flüchtig an und ging hinaus, schon ganz draußen.

Nein, er hatte keine Zeit, eine halbe Stunde zu malen. Er hatte zwanzig Jahre Zeit gehabt, geduldig, ohne Klage krank zu sein, nun hatte er nicht eine Minute mehr Zeit! Das ganze Leben wartete draußen auf ihn, mit einem Wirbel von Festlichkeiten, eine strahlender als die andere, mit Hunderten von Menschen, mit denen es herrlich war, zu reden – mit schönen Frauen, mit jungen Mädchen, die so betörend jung waren, daß es einem über den Rücken rieselte, sah man sie nur an …

Und war er selber etwa nicht jung –? Er war fünfundzwanzig; was dann gekommen war, zählte nicht, es war nur Warten gewesen. Er war jung, das Leben war jung, fasse, halte, koste die Frucht – halte ein, halte doch ein! Weiter …

Malen? Jawohl, ja, es hatte ihm geholfen, es war ein angenehmer Zeitvertreib gewesen. Jetzt brauchte nichts mehr die zähe, lastende Zeit zu vertreiben – funkelnd, aus tausend Augen strahlend, Millionen Lieder jauchzend, jagte der Strom dahin – mit ihm, noch mit ihm, endlich wieder mit ihm!

Manchmal, nachts fuhr er auf, todmüde, kaum in den ersten, fieberischen Schlaf der Überwachen gesunken. Er stützte die glühende Schläfe in die heiße Hand. Er meinte, die Zeit rauschen zu hören. Sie entrauschte. Er durfte nicht schlafen; wer durfte schlafen, da Zeit so rasch floß –? Schlaf hieß Versäumnis. Und leise, leise, sie nicht zu wecken, stand er auf, ging in die Stadt, ging noch einmal in die Stadt, wo die Lichter brannten. Er saß an einem Tisch, er sah atemlos in die Gesichter. Dieses dort –? Oder du –? Oh, enttäusche nicht – halte doch ein!

Sie ließ ihn gehen. Sie hörte ihn, aber sie ließ ihn gehen, tags wie nachts. Zu Anfang war sie mitgegangen, sie, deren Hoffnung nun erfüllt, deren Kampf noch siegreich geworden war. Sie sah ihn auf dem Gartenfest einer befreundeten Familie, auf einem Diner – untadelig gekleidet, schlank, rasch, fröhlich – mit grauem Haar, zwei messerscharfen, tiefen Falten von den Nasenflügeln, über die Mundwinkel bis zum Kinn. Er tanzte, untadelig, mit einer Sicherheit, einer spielenden Vollendung –›fünfundvierzig‹ sprach es in ihr. Er scherzte, plauderte, sprach – immer mit den Jüngsten, sah sie. Fast kam sie ein Schaudern an. War es nicht beinahe, als sei ein Toter lebendig geworden, als fordere ein Abgeschiedener Lebensspeise, in dessen Mund der Staub schon knirscht –? Halte doch ein! Das, was ihr eifersüchtiges, zorniges Herz am innigsten festgehalten, das, was ihr zwanzig Jahre hindurch Glücksbrot und Lebensspeise gewesen: die Erinnerung an ihre erste, festliche Zeit – zerging ihr nun. Sie konnte es nicht mehr halten.

Die Nacht steht wie eine Wand um sie, ein enges Gefängnis, ohne Ausweg. Die Uhr auf dem Nachttisch tickt nutzlose Zeit weg, die durchwartet werden muß. Die zitternde Hand läßt das Licht aufleuchten – und von den Wänden grüßen sie seine hellen, eiligen Bilder.

Sie blickt sie an, als sähe sie diese Bilder zum erstenmal. Sie ist wie die Welt draußen, die in dieser Zeit auch anfängt, vor seinen Bildern stille zu stehen, sie zu sehen. Plötzlich ist die Zeit dieser Bilder gekommen – aber für ihren Schöpfer ist die Zeit vorüber. Widerspiel, Widerpart, Unsinn der Zeit, Widersinn – da er sein Werk schuf, zwanzig Jahre, unablässig, geduldig, milde, war er der einzige, der es sah. Nun kommt die Welt, mit Briefen und Abbildungen, mit Kunsthändlern und Ausstellungen, mit Geld, mit goldenem Lorbeer aber seine Zeit verrann, er hat sie ausgeschöpft, der Brunnen ist leer …

Ja, Bilder … sagt er und geht.

Die Frau, die sein Kind erwartet, liegt im Bett, und nun ist sie es, die auf die Bilder starrt. Nun ist sie es, die sein wahres Abbild in ihnen sieht. Seine Schnelle, seine Fröhlichkeit, sein milder Ernst – dahin! Dahin! Dahin –? Hier sind sie, gesteigert, mit einem Strahlenglanz, den die Ewigkeit dem Leben leiht.

Da ist eines, kurz vor seiner ›Genesung‹ gemalt, das letzte fertiggestellte, ehe er den Pinsel fortlegte. Er ließ sie sich an ein Fenster setzen, das Fenster war offen, sie saß starr und still da wie kaum je in ihrem tätigen Leben. Es ist ihr Bild, sie ist es, da sie noch bei ihm war, von ihm gemalt, als sie ihm noch etwas galt. Nichts weiter: eine junge Frau am Fenster, wartend, vielleicht wartend, draußen rauscht die Welt. Junge Frau am Fenster, sie – sein schönstes Bild!

Von ihm gemalt, da er noch bei dir war. Wo ist er jetzt? Der Morgen ist in der rauschenden Welt, strahlend, voller Sonnenglanz (aber dir wird die Sonne fahl), da sie den Mann heimtragen, beschmutzt, die klugen Hände gekrümmt, das Kinn schlaff, an der Schläfe ein Blutgerinnsel. Oh, sie sind sehr achtsam mit ihr, die Herren Polizisten und die Herren Kriminalisten, es ist in einer Straße geschehen, deren Namen ihr natürlich nichts sagt. Ein Unglücksfall – ja, ein Fall. Schweig!

Fliehe dahin, Zeit, eile dich doch! Hier kommt der Sohn. Der Vater stieg auf als ein strahlendes Gestirn, leuchtete dann lange mild und erlosch jäh. Er ist erloschen, wir warten auf den Sohn! Ein kleines Licht in der Nacht, ein Nichts, wärmeloses Feuer. Aber wir sind nicht so allein.

Die Frau im Fenster, die alte Frau, wendet sich um. Da ist das Bild. Jawohl, es ist alles richtig: Junge Frau am Fenster, wartend.

Die alte Frau legt den Rest ihrer Zigarre in den Aschenbecher.

Mir ist wirklich so, als könnte der dumme Junge heute kommen. Zeit wird’s!

7

Die Thumannsche, Eheliebste des Maurers Wilhelm Thumann, schwammig, wabblig, in fließenden Gewändern, mit einem schwammig wabbligen Gesicht, in dem doch ein Zug säuerlicher Strenge vorherrscht – die Thumannsche schlurrt mit dem unvermeidlichen Pott über den Gang, zum Klo, abwärts, eine halbe Treppe tiefer, Klo von drei Parteien. Die Thumannsche, völlig bedenkenlos in der Beherbergung übelst beleumdeter Mädchen mit Anhang (zur Zeit bewohnt die rassige Ida vom Alex das Zimmer vis-à-vis von Pagels), ist voller sanitärer Bedenken, was das Klo anlangt: Da hamm se ja nu diese Baktzillen entdeckt, Liebecken. Sie hätten es können ja ooch sein lassen, aber wo se’s nu mal jetan haben, und die feinsten Leute haben wir hier ooch nich, und manchmal, wenn ick uff den Klosett komme, ick denke doch, mir jeht die Puste wech, und wer weeß, wat dat allens drin rumwirbelt, und eenmal war ooch een schwarzer Käfer da, und er sah mir soo jefährlich an … Nee, wie denn, wat denn, ick wer keene Wanzen kennen, keene Hausbienen! Mir dürfen Se doch so wat nich erzählen, Liebecken, wo ick und de Wanzen, wir sind doch zusammen jroß jeworden. Aber seitdem se die entdeckt haben, sare ick zu meinem Willem: Pott bleibt Pott, und: Gesundheit ist das halbe Leben! Willem, sare ick zu ihm, paß uff, wo de dir hinstellst. Die Biester springen dir an wie die Tiger, und eh de dir umsiehst, bringst de eene janze Mikrokosmetik int Haus! Aber wat soll ick Sie sagen, Liebecken, komisch is der Mensch ja doch injerichtet, seit ick mit dem Pott jehe, loof ick immerzu. Nich daß ick mir beklage, nur: es ist wunderbar! Ick weeß, unser junger Herr, der de kleene, blasse Dunkle hat, sie is aber nich seine Frau, bloß, sie bildt sich ein, sie wird’s, und manchen schmeckt ja so ’ne Inbildung wie uns Kuchen von Hilbrichen, der nennt mich imma Pottmadamm. Nur, sie verbietet’s ihm, was ich wieder hochreell finde. Aber soll er’s ruhig saren, von meinswejen! Denn warum sagt er es? Weil er seinen Jokus haben will! Und warum will er seinen Jokus haben? Weil er jung is! Denn wenn man jung is, jloobt man jar nischt, nich an de Pfaffen, was ich ooch nich tue, un nich an de Baktzillen. Aber wie kommt es? Wie ich mit’em Pott, so loofen die nachher uff die Beratungsstelle, aber mit wat, det sare ick nich, weil wir’s nämlich beede wissen, Liebecken, un manche nennen’s ja ooch bloß ’en Schnuppen. Und da sind se, so dumm se sind, plötzlich klug geworden, und wat den Schnuppen anjeht, so möchten se plötzlich niesen können und einen haben, der ihnen Jesundheit sagt. Aber die is perdü und darum loofe ick lieba mit ’em Pott …

Also diese Sorte Thumannsche, wabblig-schwabbelig, aber von zuviel Magensäure im Gesicht gezeichnet, schlurrt mit ihrem Pott den Gang entlang.

Die Tür zum Pagelschen Zimmer geht auf, und in ihr steht der junge Wolfgang Pagel, groß, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, dem hellen, fröhlichen Gesicht, in seiner feldgrauen Litewka mit den schmalen roten Streifen – es ist ein Stoff, der selbst jetzt, nach fünfjährigem Gebrauch noch gut aussieht, sanftsilbrig glänzend wie manche Lindenblätter …

Guten Morgen, Frau Thumann, sagt er ganz vergnügt. Wie ist es denn mit einem kleinen Palaver wegen Kaffee?

Sie! Sie! sagt die Thumann entrüstet und schiebt mit halb abgewandtem Gesicht vorbei. Sie sehen doch, ich bin beschäftigt!

Aber selbstverständlich, entschuldigen Sie bloß, Frau Thumann. Es war ja nur ’ne eilige Anfrage wegen Kohldampf. Wir warten gerne. Es geht ja erst auf elfe.

Verwarten Sie man nich bloß noch de Zwölfe, sagt die Thumann wie eine warnende Schicksalsgöttin in der Eingangstür, und der Topf schwankt in ihrer Hand. Um zwölf kommt der neue Dollar, und wie der Olle im Jemüsekeller jesacht hat, wird er kräftig kommen und Berlin macht sich wieder mal schwach. Denn können Se mir ohne Wimpernklimpern so an ’ne Million Mark mehr auf den Tisch des Hauses lejen. Und Kaffe ohne Jeld is überhaupt nich!

Damit fällt die Tür hinter ihr zu, das Urteil ist gesprochen, und Wolfgang wendet sich zum Zimmer zurück und sagt nachdenklich-unentschlossen: Eigentlich hat sie ja recht, Peter. Ehe ich sie wegen des Kaffees rumgeschmust habe, ist es sicher zwölf, und wenn der Dollar wirklich steigt – was meinst du?!

Er wartet aber ihre Antwort nicht ab, sondern sagt halb verlegen: Leg dich gemütlich ins Bett, ich trag die Sachen gleich zum Onkel. Und in zwanzig Minuten, spätestens in einer halben Stunde bin ich wieder hier und wir frühstücken gemütlich Schrippen und Leberwurst – du im Bett und ich auf der Bettkante, was meinst du, Peter?

Ach, Wolfi, sagt sie schwach, und ihre Augen werden sehr groß. Grade heute …

Obwohl sie heute morgen noch nicht einen Ton von dieser Sache gesprochen hatten, tat er doch nicht einen Augenblick so, als ob er sie nicht verstünde. Ein wenig schuldbewußt sagte er: Ja, ich weiß, es ist dumm. Aber es ist wahrhaftig nicht meine Schuld. Oder fast nicht meine Schuld. Alles ging verquer heute nacht. Ich hatte schon ganz schön gewonnen, aber dann hatte ich plötzlich die wahnsinnige Idee, Null müsse gewinnen. Ich verstehe mich selbst nicht mehr …

 

Er hielt inne. Er sah den Spieltisch vor sich, weiter nichts als ein abgegriffenes grünes Tuch, über den Eßzimmertisch eines gut bürgerlichen Zimmers gebreitet. In der Ecke stand klobig, mit Türmen, geschnitzten Rittern und Edeldamen, Knäufen und Löwenmäulern das Büfett. Denn die Spielklubs, Spielhöllen jener Tage führten – auf der ständigen Flucht vor dem Spielerdezernat der Krimpo – ein unstetes Dasein. Von einer Nacht zur andern – roch es sauer am alten Ort – mieteten sie bei irgendeinem verarmten Angestellten das Eßzimmer, den Salon. Nur für die paar Nachtstunden – da brauchen Sie es ja doch nicht. Und Sie liegen im Bett und schlafen; was wir tun, geht Sie nichts an!

So kam es, daß bei jenem Oberbuchhalter, bei diesem Abteilungsvorsteher das Vorkriegszimmer, das Schwiegermutter noch ausgesucht hatte, Versammlungsort von Smokings und Jackettanzügen, Blusen und Abendkleidern wurde – ab nachts elf Uhr. In der stillen, geruhig-anständigen Straße trieben Schlepper und Spanner ihr Unwesen, sie holten das Publikum zusammen, auf das es ankam: Provinzonkels, angesäuselte Herren, unentschlossen, wohin nun; Börsenjobber, die von dem täglichen Valutataumel noch nicht genug hatten. Der Portier hatte sein Geld und schlief fest, die Haustür mochte gehen, so oft sie wollte. In der nüchternen Flurgarderobe mit den angegrünten Messinghaken stand ein Tischchen mit dem großen Spielmarkenkasten, den ein bärtiger, traurig aussehender Hüne von Wachtmeistertyp verwaltete. An der Tür des W. C. hing ein Pappschild ›Hier!‹ Es wurde nur geflüstert, jeder hatte ein Interesse, daß niemand im Haus ›etwas‹ merkte. Es gab auch nichts zu trinken. Betrunkene konnte man wegen etwaigen Lärms nicht gebrauchen. Es gab nur das Spiel, Rausch genug.

So still war es, daß man schon vom Vorplatz das Schnurren der Kugel hörte. Hinter dem Croupier standen zwei Männer in Jackettanzügen, jederzeit bereit, einzugreifen und jeden Streit durch die gefürchtete Verweisung auf die Straße, durch Ausschluß vom Spiel, zu schlichten. Der Croupier trägt Frack. Aber sie sehen sich alle drei ähnlich, er und seine beiden hinter ihm stehenden Helfershelfer, diese drei Männer, ob mager oder fett, dunkel oder hell. Alle haben kalte, rasche Augen, krumme, böse Nasen wie Habichtschnäbel, dünne Lippen. Sie sprechen kaum miteinander, sie verständigen sich durch Blicke, allenfalls ein Deuten mit der Schulter. Sie sind böse, gierig, kalt – Abenteurer, Raubritter, Beutelschneider, Zuchthäusler – wer weiß das! Man kann sich unmöglich vorstellen, daß sie ein Privatleben haben, eine Frau, Kinder, die ihnen die Hand geben und ›Guten Morgen‹ sagen. Man kann sich nicht ausmalen, wie sie sind, wenn sie mit sich allein sind, aus dem Bett aufstehen, sich beim Rasieren im Spiegel anschauen. Sie scheinen dafür bestimmt, hinter dem Spieltisch zu stehen, böse, gierig, kalt. Vor drei Jahren gab es sie noch nicht, und in einem Jahr wird es sie nicht mehr geben. Das Leben hat sie emporgespült, da sie gebraucht wurden; es trägt sie wieder mit sich fort, unfaßlich, wohin, wenn ihre Zeit vorüber ist, aber das Leben hat sie, das Leben hat alles, was gebraucht wird.

Um den Tisch sitzt eine Reihe Spieler, die Reichen, die Leute mit der dicken, schwellenden Brieftasche, die ausgenommen werden sollen, die Neulinge, die grünen Heringe. Daß sie stets einen Sitzplatz finden, dafür sorgen die drei schweigsamen, gesträubten Raubvögel schon. Hinter ihnen stehen in zwei, drei Reihen die andern Spieler, dicht aneinandergedrängt. Sie nahm ihre Einsätze über die Schultern der Vordermänner weg, unter den Armen durch, auf ein Fleckchen Spielfeld, das sie grade erspähen können. Oder sie reichen die Spielmarken hoch über die Köpfe der andern fort, einem der drei Männer, mit einer gemurmelten Weisung.

Aber trotz dieser Unübersichtlichkeit, dieses Gedränges gibt es kaum je Streit, denn die Spieler sind viel zu versunken in das eigene Spiel, in das Rollen der Kugel, um auf die andern groß zu achten. Und zudem gibt es so viele Sorten verschiedenfarbiger Spielmarken, daß selbst bei stärkstem Andrang höchstens zwei, drei Spieler dieselbe Farbe spielen. Eng aneinandergedrängt stehen sie: schöne Frauen, gut aussehende Männer sind dabei. Sie lehnen sich aneinander, Hand berührt Brust, Hand streift seidige Hüfte: sie spüren nichts. Wie eine große Glut den Glanz des kleinen Feuers bleich macht und dunkel, hören die eng Gedrängten nur noch das Schnurren der Kugel, das Klappern der beinernen Jetons. Still steht die Welt, die Brust kann nicht atmen, die Zeit steht, während die Kugel läuft, in ein Loch lenkt, sich besinnt, weiterspringt, klappert …

Da! Rot! Ungleich! Einundzwanzig! Und plötzlich atmet die Brust wieder, das Gesicht entspannt sich – ja, dies Mädchen ist schön … Der Einsatz, meine Damen und Herren! Der Einsatz! Der Einsatz! – Nichts mehr! Und die Kugel läuft, schnurrt, klappert … still steht die Welt …

Wolfgang Pagel hat sich in die zweite Reihe der stehenden Spieler gedrängt. Weiter nach vorn kommt er nie, darauf achten die drei Raubvögel schon, die unzufriedene Blicke miteinander tauschen, sehen sie ihn nur eintreten. Er ist der allerunerwünschteste Spieler, er ist der Pari-Panther, der Mann, der vorsichtig spielend sich nicht hinreißen läßt; der Mann mit dem kleinsten Betriebskapital in der Tasche, das nicht einmal das Ansehen lohnt, geschweige denn das Wegnehmen; der Mann, der Abend für Abend mit dem festen Vorsatz kommt, der Bank grade so viel abzunehmen, daß er den nächsten Tag das Leben hat – und dem das meistens gelingt.

Es ist ganz unnütz für Pagel, den Klub zu wechseln (denn es gibt in diesen Tagen Spielklubs wie Sand am Meer, wie es überall Heroin und Koks gibt, Schnee; wie es überall Nackttänze, französischen Sekt und amerikanische Zigaretten gibt; wie es überall Grippe, Hunger, Verzweiflung, Unzucht, Verbrechen gibt). Nein, die Raubvögel am Kopfende des Tisches erkennen ihn immer gleich. Sie erkennen ihn an der Art seines Eintretens, dem prüfenden Blick, der fremd alle Gesichter streift, um an dem Spielfeld haften zu bleiben. Sie erkennen ihn an seiner übertriebenen Ruhe, seiner gespielten Gleichgültigkeit, der Art seines Setzens, an den langen Pausen, die er macht, die Sprünge der Chancen auszulassen, um eine Serie zu fassen: sie erkennen den gleichen Vogel im andern Gefieder!

An diesem Abend war Wolfgang nervös. Zweimal hatten ihm die Schlepper die Haustür vor der Nase zugeschlossen, um den unerwünschten Spieler zu verscheuchen, bis es ihm gelang, sich mit einer Gesellschaft einzuschmuggeln. Der Mann mit dem traurigen Wachtmeistergesicht hatte getan, als höre er seine Bitte um Spielmarken nicht; Wolfgang hatte sich sehr zusammennehmen müssen, um nicht laut zu werden. Schließlich hatte er seine Jetons doch bekommen.

Im Spielraum hatte er sofort gesehen, daß eine gewisse Halbweltdame, von Kennern der Devisenvamp genannt, anwesend war. Er hatte schon einige Male an verschiedenen Orten mit diesem anspruchsvollen, lauten Mädchen Zusammenstöße gehabt, weil sie, in einer Pechsträhne und dem Ende ihrer Mittel nahe, unbedenklich über die Einsätze ihrer Mitspieler zu verfügen pflegte. Am liebsten wäre er umgekehrt. Eine Spielmarke war ihm auf die Erde gefallen, was von unheilvoller Bedeutung war, denn es besagte, daß dieser Raum sein Geld zu behalten wünschte. (Es gab viele Vorzeichen solcher Art – bis auf eines oder zwei alle von schlimmer Vorbedeutung.)

Dann war er doch an den Tisch getreten, um zu spielen. Er konnte es immerhin – im Rahmen seiner Gewohnheiten – versuchen, da er nun einmal hier war. Wie alle Spieler war auch Wolfgang Pagel der unerschütterlichen Überzeugung, daß das, was er tat, gar kein richtiges Spiel war, daß es ›nicht galt‹. Er glaubte fest daran, daß irgendwann einmal, blitzartig, in einer Sekunde, ihn das Gefühl überkommen würde: jetzt ist deine Stunde! In dieser Stunde würde er wirklich Spieler sein, der Liebling des blinden Glücks. Die Kugel im Rade würde schnurren, wie er setzte, das Geld würde herbeiströmen –: Alles, alles werde ich gewinnen! – Wenn er an diese Stunde dachte, manchmal, nicht sehr häufig, wie man den Genuß eines großen Glückes nicht wertlos machen will dadurch, daß man es zu oft vorkostet – wenn Wolfgang daran dachte, fühlte er, wie sein Mund trocken, die Haut über seinen Schläfen pergamenten wurde.

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