Wolf unter Wölfen

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Als Wolfgang Pagel so zu ihr geredet hatte, war Petra noch viel zu erfüllt von dem Geschehenen gewesen, um groß auf seine Worte zu achten. Später lernte sie von ihm, daß der Name Petra so viel wie Fels bedeute und daß ihn zuerst jener Jünger Petrus getragen hatte, auf dem Christus wie auf einem Felsen seine Kirche bauen wollte.

Sie lernte überhaupt in dem einen Jahr gemeinsamen Zusammenlebens viel von Wolfgang. Nicht daß er etwas Lehrhaftes gehabt hätte. Aber es war unvermeidlich, daß er in den langen Stunden ihres Beisammenseins – denn er war ja ohne rechte Beschäftigung – viel mit ihr sprach, bloß weil sie nicht immer schweigend in ihrer Höhle beieinander hocken konnten. Und als Petra erst Zutrauen gewonnen hatte, fragte sie ihn oft etwas, bloß, um ihn vom Grübeln abzuhalten, oder weil es ihr Spaß machte, ihn reden zu hören. So etwa: Wolf, wie wird eigentlich Käse gemacht? Oder: Wolf, ist es wirklich wahr, daß ein Mann im Monde wohnt?

Er lachte sie nie aus, auch wies er ihre Fragen nie zurück. Er antwortete ihr langsam, überlegend, ernst – denn auch mit seiner Wissenschaft aus der Kadettenanstalt sah es nicht berühmt aus. Und wußte er nicht Bescheid, so nahm er sie mit und ging mit ihr in eine der großen Bibliotheken und schlug und las nach. Sie saß dann ganz stille da, irgendein Büchlein vor sich, in dem sie doch nicht las, und sah feierlich-beklommen in den großen Raum, in dem die Leute so still saßen und sachte die Blätter umwandten, so still, als rührten sie sich im Schlaf. Es kam ihr immer wie ein Märchen vor, daß sie, eine kleine Verkäuferin, ein uneheliches Kind, das grade am Versacken gewesen war, nun in solche Häuser gehen durfte, in denen die gebildeten Menschen saßen, die sicher nie etwas erfahren hatten von all dem Schmutz, den sie so genau hatte kennenlernen müssen. Allein hätte sie sich nie hierher gewagt, obwohl ihr die – stumm geduldeten – Elendsgestalten an den Wänden bewiesen, daß hier nicht nur Weisheit gesucht wurde, sondern auch Wärme, Licht, Sauberkeit und eben das, was auch ihr aus den Büchern aufstieg: feierliche Ruhe.

Wußte dann Wolfgang genug, so gingen sie wieder hinaus, und er erzählte ihr, was er erkundet. Sie hörte ihm zu und vergaß es wieder oder behielt es auch, aber nicht das Richtige – doch darauf kam es auch gar nicht an. Worauf es ankam, das war, daß er sie so ernst nahm, daß sie für ihn noch etwas anderes war als ein Leib, den er gern mochte und der ihm guttat.

Manchmal, wenn sie irgend etwas ganz gedankenlos hingesagt hatte, konnte sie, von sich selbst überwältigt, ausrufen: Ach, Wolf, ich bin so schrecklich dumm! Ich lerne und ich lerne auch gar nichts! Ich werde ewig dumm bleiben!

Aber auch dann wieder lachte er nicht über solchen Ausruf, sondern ging freundlich ernst darauf ein und meinte, im Grunde sei es natürlich ganz egal, ob man wisse, wie Käse gemacht werde. Denn so gut wie der Käsemacher werde man es doch nie wissen. Dummheit sei, wie er glaube, etwas ganz anderes. Wenn man sich nämlich sein Leben nicht einzurichten wisse, wenn man nichts aus seinen Fehlern lerne, wenn man sich immer wieder unnötig über jeden Dreck ärgere und wisse doch ganz genau, in zwei Wochen sei er schon vergessen, wenn man mit seinen Mitmenschen nicht umgehen könne – ja, all dies, das scheine ihm rechte Dummheit. Ein wahres Musterbeispiel sei da seine Mutter, die, so viel sie auch gelesen und erfahren habe und so klug sie auch sei, ihn nun glücklich mit lauter Liebe und Besserwissen und Gängelei aus dem Haus getrieben habe, und er sei doch wirklich ein geduldiger, umgänglicher Mensch. (Sagte er.) Sie, Petra, dumm –? Nun, sie hätten sich noch nicht einmal gestritten, und wenn sie auch oft kein Geld gehabt hätten, schlechte Tage hätten sie darum doch nicht gehabt und grimmige Zornesmienen auch nicht. Dumm –?! Was Peter denn meine –?

Natürlich genau das, was Wolf auch meinte! Schlechte Tage? Grimmige Mienen? Sie hatten die allerherrlichste Zeit von der Welt miteinander gehabt, die schönste Zeit ihres ganzen Lebens – schöner konnte es nun überhaupt nicht mehr werden! Im Grunde war es ihr ja auch ganz egal, ob sie dumm oder ob sie nicht dumm war (klug kam trotz all seiner Erklärungen nicht in Frage), so lange er sie nur gerne hatte und ernst nahm.

Schlechte Tage – wahrhaftig! Sie hatte es in ihrem Leben und vornehmlich im letzten Jahr gut genug gelernt, daß Tage ohne Geld wahrhaftig keine schlechten Tage zu sein brauchten. Genau in dieser Zeit, da alles täglich dem Dollarkurs entgegen fieberte, da fast aller Gedanken sich um Geld, Geld drehten, um Zahlen, um bedrucktes Papier, um mit immer mehr Nullen bedrucktes Papier – genau in dieser Zeit hatte dieses kleine, törichte Mädchen die Entdeckung gemacht, daß Geld gar nichts ist. Daß es unsinnig ist, sich um Geld – nämlich um das fehlende – auch nur eine Minute Gedanken zu machen – es war ganz gleichgültig!

(Nur heute morgen nicht, weil sie solch übel machenden Hunger hatte, und weil doch um 1 Uhr 30 die Gebühren bezahlt werden mußten.)

Wie hätte sie zitternd um das Auskommen des nächsten Tages auch nur eine ruhige Glücksminute an der Seite des Fahnenjunkers a. D. Wolfgang Pagel leben können, der es nun schon ein reichliches Jahr fertiggebracht hatte, ihren ganzen Lebensunterhalt – bei dem kleinsten Betriebskapital von der Welt – Abend für Abend vom Spieltisch zu holen –? Abend für Abend, um elf Uhr herum – gab er ihr einen Kuß und sagte: Also denn, Kleines! und ging, während sie ihm nur lächelnd zunickte. Denn sie durfte kein Wort sagen, weil jedes Wort eine Unglück bringende Bedeutung haben konnte.

In der ersten Zeit, nachdem sie erfahren hatte, daß diese ewigen nächtlichen Wege kein ›Fremdgehen‹ bedeuteten, sondern ›Arbeit‹ für ihrer beider Auskommen, hatte sie aufgesessen bis drei, vier … Um ihn dann ankommen zu sehen: bleich, mit nervösen Bewegungen, die Schläfen eingefallen, das Haar noch feucht, der Blick flackernd. Sie hatte seine fieberischen Berichte angehört, sein Triumphieren, wenn es gut gegangen war, seine Verzweiflung, wenn er verloren. Stumm hatte sie sein Schelten über die und jene Frau angehört, die ihm seinen Einsatz weggenommen, oder seine grübelnde Verwunderung, warum an diesem Abend grade die Schwarz siebzehnmal hintereinander gekommen war und sie, die schon an der Schwelle des Reichtums gestanden, in die völlige Armut zurückgeschleudert hatte.

Sie verstand nichts vom Spiel, seinem Spiel, dem Roulette, so viel er ihr auch davon erzählte (er hatte ihr rundweg abgeschlagen, sie einmal ›dorthin‹ mitzunehmen). Aber sie verstand sehr wohl, daß dies sein Zoll war, den er an ihr Leben zahlte, daß er darum so freundlich, so unbekümmert, so ruhig mit ihr sein konnte, weil er in den Stunden am Spieltisch all seine Kraft, all seine Verzweiflung über dies sein verblasenes, zielloses und doch so einmaliges Leben verströmen konnte.

Oh, sie verstand noch weit mehr! Sie verstand, daß er sich selbst täuschte, zum mindesten sich dann selbst täuschte, wenn er immer wieder leidenschaftlich versicherte, er sei kein Spieler …

Sage doch selbst, was kann ich Besseres tun!?! Soll ich als Buchhalter Zahlen in ein Buch kritzeln, um zu Ultimo ein Gehalt zu kriegen, mit dem wir verhungern? Soll ich Schuhe verkaufen, Artikelchen schreiben, Chauffeur werden? Peter, das Geheimnis ist: habe wenig Bedürfnisse und du hast Zeit für dein Leben. Drei, vier, ach, oft nur eine halbe Stunde am Roulette, und wir können eine Woche, einen Monat lang leben! Ich ein Spieler? Aber es ist eine Hundearbeit, ich würde lieber Mauersteine tragen, statt dazustehen und zu warten und mich nicht fortreißen zu lassen, lockt das Glück einmal. Ich bin eiskalt und berechnend, du weißt, sie nennen mich den Pari-Panther. Sie hassen mich, sie ziehen schon saure Mienen, wenn sie mich nur sehen. Weil ich eben kein Spieler bin, weil sie wissen, es ist nichts bei mir zu holen, weil ich mir jeden Tag meinen kleinen Gewinn abhole, und habe ich ihn, Schluß mache, mich nie verleiten lasse, weiterzuspielen …

Und mit einer wunderbaren Inkonsequenz, indem er völlig vergaß, was er eben erst gesagt: Warte nur – laß mich erst einmal den großen Schlag tun! Eine wirkliche Summe, die sich lohnt! Dann sollst du sehen, was wir anfangen! Dann sollst du sehen, daß ich kein Spieler bin! Nie wieder gehe ich denen auf den Leim! Warum denn auch – es ist die gemeinste Viecherei, die es gibt – wer wird denn freiwillig zu so was hingehen, wenn er kein Spieler ist –?!

Derweilen sah sie ihn heimkommen, nachtaus, nachtein, mit hohlen Schläfen, feuchtem Haar, glänzenden Augen.

Beinahe war es soweit, Peter! rief er.

Aber seine Taschen waren leer. Dann versetzte er alles, was sie hatten, behielt nur, was er auf dem Leibe trug (sie war in solchen Tagen zu Bettruhe verurteilt), ging fort, grade genug Geld in der Tasche, um das Minimum an Spielmarken kaufen zu können. Kam wieder, mit einem ganz kleinen Gewinn oder auch einmal – sehr selten – die Taschen gestopft voll Geld. Wenn alles zu Ende schien, das mußte sie zugeben, brachte er immer Geld, wenig oder viel, aber er brachte Geld.

Er hatte da irgendein ›System‹ über das Rollen der Roulettekugel, ein System der Systemlosigkeit, ein System, das darauf aufgebaut war, daß die Kugel oft nicht das tat, was sie aller Wahrscheinlichkeit nach hätte tun müssen. Er hatte ihr dies System hundertmal erklärt, aber da sie nie ein Roulette gesehen hatte, konnte sie sich von all dem, was er erzählte, kein rechtes Bild machen. Sie bezweifelte auch, daß er sich immer an sein eigenes System hielt.

Aber wie dem auch war, er hatte es noch stets geschafft. Längst brachte sie es – im Vertrauen darauf – fertig, sich ruhig schlafen zu legen, nicht auf sein Kommen zu warten. Ja, es war sogar besser, sich schlafend zu stellen, wenn sie zufällig einmal wach war. Denn kam er, heimkehrend vom Spiel, heiß vom Spiel, erst einmal ins Reden, gab es die Nacht keinen Schlaf.

 

Wie de det nur aushältst, Mächen, konnte manchmal die Thumann, die Pottmadamm, kopfschütteln. Imma alle Nächte wech und imma alle eure Pinke in de Tasche! Und es soll ja da von Edelnutten nur so wimmeln! Ick ließe meinen nich!

Aber Sie lassen Ihren doch auch auf den Bau, Frau Thumann! Eine Leiter kann auch mal abrutschen oder ein Brett durchknacken. Und Nutten gibt es überall.

Gott, verred es nur mit meinem Willem, wo se jrade in’t fünfte Stock mauern! Wo ick mir so schon so ängstje! Aba es is doch ein Schiedunta, Mächen! Bauen muß sein, aber Spielen muß nich sein.

Wenn er’s doch aber braucht, Frau Thumann!

Braucht, braucht! Ick hör imma braucht! Meiner erzählt mir ooch imma ville, wat er braucht. Skat und ’ne Zigarre und Molle kräftig und womöglich noch kleene Mächen (aber det erzählt er mir nich!). Aber ick sare ihm: wat du brauchen tust, is ’en festet Kommando und freitags die Lohntüte vor’m Baubüro in meine Hand! Det brauchste! – Du bist ebent zu jut, Mächen. Aber jut kommt von schwach, und wenn ick dir so ansehe, morjens, wenn ick euch den Kaffe hinserviere, und ick sehe, wie du ihm die Oogen zurollst, bloß, er merkt es jarnich, denn weeß ick ooch, wie dies ausjeht. Spielen als Arbeit – wenn ick det bloß höre! Spielen is nich arbeeten und Arbeeten is nich spielen. Und wenn du es wirklich jut mit ihm meinst, Mächen, nimmst de ihm det Jeld wech, und er jeht mit Willem uffn Bau. Steinetragen wird er ja wohl noch können.

Gott, Frau Thumann, nun reden Sie ja schon genau wie seine Mutter! Die meinte auch, ich sei zu gut und unterstütze ihn noch in seinem Laster, und hat mir deswegen sogar eine Knallschote gegeben.

Knallschote is ooch wieda nich richtig! Denn bist du die Schwiejatochta? Nee, du machst es gewissermaßen nur zu deinem Vajniejen, und wenn es dir zu dumm wird, denn türmste. Nee, Knallschote war ooch nich fein, auf Knallschote kannste sojar klagen!

Aber es hat ja gar nicht weh getan, Frau Thumann. Solche Fingerchen, wie seine Mutter hat. Da war meine Mutter anders. Und überhaupt …

4

Es teilt eine Holzbarriere den Raum der Berliner Schnitter-Vermittlung in zwei Hälften, zwei sehr ungleiche Hälften. Der vordere Teil, in dem jetzt der Rittmeister von Prackwitz steht, ist ganz klein, und die Eingangstür schlägt auch noch hinein. Prackwitz kann sich kaum rühren.

Die hintere, größere Hälfte hat ein kleiner, fetter, schwärzlicher Mann inne – der Rittmeister kann nicht genau sagen, wirkt der Mann so schwärzlich wegen seines dunklen Haarwuchses oder wegen Unsauberkeit? Der schwärzliche Fette im dunklen Tuchanzug redet heftig, wild gestikulierend, mit drei Männern in Manchesteranzügen, die graue Hüte auf dem Kopf und Zigarren im Mundwinkel haben. Die Männer antworten ebenso heftig, und obwohl sie nicht laut reden, wirkt es doch wie Geschrei.

Der Rittmeister versteht kein Wort, natürlich sprechen sie Polnisch. Wenn der Neuloher Gutspächter auch jedes Jahr ein halbes Hundert Polen beschäftigt, Polnisch hat er darum doch, von ein paar Kommandos abgesehen, nicht gelernt.

Ich gebe dir zu, konnte er zu Eva, seiner Frau, sagen, die Polnisch radebrechte, ich gebe dir zu, daß ich es schon aus praktischen Erwägungen lernen müßte. Trotzdem, ich weigere mich, für heute und immer, diese Sprache zu lernen. Ich lehne das ab. Wir sitzen hier zu nahe der Grenze. Polnisch lernen – ah bah!

Aber die Leute machen die unverschämtesten Bemerkungen dir grade ins Gesicht, Achim!

Nun – und? Soll ich Polnisch lernen, damit ich ihre Unverschämtheiten auch noch verstehe –?! Ich denke gar nicht daran! Was also diese vier da im Winkel so heftig verhandelten, verstand der Rittmeister nicht, es interessierte ihn auch nicht. Aber er war kein sehr geduldiger Warter; was getan werden mußte, sollte rasch getan werden. Er wollte mittags nach Neulohe zurück, mit fünfzig oder sechzig Leuten, eine Bombenernte stand draußen auf den Feldern, und die Sonne schien, daß er das Prasseln des Weizens im Ohr zu hören meinte – Kundschaft! Wirtschaft! rief der Rittmeister.

Die redeten weiter, es sah genau so aus, als stritten sie auf Leben und Tod, gleich würden sie sich wohl an die Hälse gehen.

Heh! Sie da! rief der Rittmeister scharf. Guten Tag habe ich gesagt. (Er hatte nicht Guten Tag gesagt.) Grade die richtige Gesellschaft! Vor acht Jahren noch, ach, vor fünf Jahren noch hatte das vor ihm gewinselt und sklavisch versucht, ihm die Hand zu küssen –! Verdammte Zeiten, verfluchte Stadt – wartet nur! Wenn ich euch erst draußen habe!

Herhören, ihr da! schrie er mit seiner schärfsten Kommandostimme und schlug mit der Faust auf die Barre.

Jawohl – und wie sie herhörten! Diese Art Stimme kannten sie! Für diese Generation bedeutete solche Stimme noch etwas, der Klang rief Erinnerungen wach. Sofort hatten sie aufgehört mit reden. Innerlich lächelte der Rittmeister. Jawohl, das alte Ruck-Zuck, es tat doch und noch immer seine Wirkung – bei solchen Verlotterten am meisten. Fuhr ihnen vermutlich wie eine Vorposaune des Jüngsten Gerichts ins liederliche Gebein! Hatten eben immer ein schlechtes Gewissen.

Ich brauche Schnitter! sagte er zu dem dicken Schwärzlichen. Fünfzig bis sechzig. Zwanzig Männer, zwanzig Frauen, der Rest Mädchen und Burschen.

Jawohl, Panje, verbeugte sich der Dicke, höflich grinsend.

Ein tüchtiger Vorschnitter – muß Kaution im Werte von zwanzig Zentnern Roggen stellen können. Die Frau hat für Frauenlohn die Leute zu bekochen.

Jawohl, Panje, grinste der andere.

Hinreisegeld und Ihre Provision zahle ich; bleiben die Leute bis nach der Rübenernte, wird ihnen das Reisegeld nicht abgezogen. Sonst …

Jawohl, jawohl, Panje …

So – und nun ein bißchen dalli! Um 12 Uhr 30 geht der Zug. Dalli! Printgo! Verstehen? Der Rittmeister nickte, eine Last vom Herzen, sogar den drei Gestalten im Hintergrund zu. Machen Sie jetzt die Verträge fertig. In einer halben Stunde bin ich wieder hier. Will nur mal frühstücken.

Jawohl, Panje!

Dann wäre also alles in Ordnung? sagte der Rittmeister abschließend. Irgend etwas in der Haltung des andern machte ihn doch stutzig, das ergebene Lächeln erschien ihm plötzlich nicht so ergeben, mehr hinterhältig. Alles in Ordnung – oder –?

Alles in Ordnung! beruhigte der Dicke, mit einem raschen Aufleuchten des Blicks zu den andern. Alles nach den Befehlen vom Panje. Fünfzig Leut – gut, sind sie da! Eisenbahn – 12 Uhr 30 – gut, fährt sie ab! Ordentlich, pünktlich, nach Befehl – aber ohne Leut! Er grinste.

Was?! schrie der Rittmeister fast und verzog sein Gesicht zu tausend Falten. Was sagen Sie da?! Reden Sie deutsch, Mann! Wieso ohne Leute –?!

Und der Herr, der doch so gut kann befehlen, wird er auch befehlen, woher ich nehme die Leut? Fünfzig Mann – gutt, gutt, find sie, mach sie, schnell, fix, printgo, was?!

Jetzt sah der Rittmeister sich den Mann doch genauer an. Seine erste Verblüffung war vorüber, auch schon der erste Zorn, da er merkte, er sollte gereizt werden. ›Der kann ganz gut Deutsche‹ dachte er, da der andere immer grotesker, überstürzter redete. ›Der will bloß nicht.‹

Und die da hinten? fragte er und zeigte auf die drei im Manchester, denen die Zigarre noch immer wie erloschen im Mundwinkel hing. Sie sind doch Vorschnitter? Kommen Sie doch zu mir! Neue Schnitterkaserne, anständige Betten, keine Wanzenfallen.

Einen Augenblick lang kam es ihm jämmerlich vor, daß er sich so anpries. Aber es ging um die Ernte, eines Tages, eines sehr nahen Tages konnte es Regen geben. Ja, es war heute eigentlich schon hier in Berlin wie Gewitter in der Luft. Auf den dicken Schwärzlichen war nicht mehr zu rechnen, mit dem hatte er es verdorben, wohl durch seine Befehlsstimme. Nun, wie ist es? fragte er ermunternd.

Die drei standen bewegungslos, als hätten sie kein Wort gehört. Es waren Vorschnitter, der Rittmeister war seiner Sache sicher. Er kannte diese vorgestoßenen Kinnladen, diese entschlossenen, etwas wilden und doch trüben Blicke der Antreiber von Beruf.

Der Schwärzliche stand grinsend da, er sah den Rittmeister von der Seite an, sah überhaupt nicht nach den Leuten hin, so sicher war er seiner Sache. (Da ist die Straße und der Punkt, auf den ich sehe. Ich muß entlang!) Laut: Gute Arbeit – guter Lohn, guter Akkord – gutes Deputat! Wie ist es –? Sie hörten nichts. Und für den Vorschnitter dreißig, ich sage, dreißig gute echte Papierdollar in die Hand!

Ich vermittle die Leute! schrie der Schwärzliche.

Aber schon zu spät. Die Vorschnitter standen an der Barriere.

Nimm meine, Panje! Leute wie Ochsen, stark, fromm …

Nein, nicht die vom Josef. Alles faule Gauner, früh nicht aus den Betten, bei Maruschka stark, bei Arbeit schlapp …

Was redest du, Panje, mit Jablonski?! Ist grade gekommen aus Kittchen, hat mit Messer gestochen Panje Inspektor …

Psia krew, pierunna –!

Der eine auf den andern, polnischer Wortsturz – soll es auch hier eine Messerstecherei geben? Der Dicke dazwischen, ununterbrochen redend, gestikulierend, schreiend, zurückdrängend, auch den Rittmeister anfunkelnd – während sich der dritte unvermerkt an den Rittmeister heranpirscht.

Gute Papierdollar, wie, was? Dreißig? Bei Abfahrt in die Hand? Sei der Herr um zwölf auf dem Schlesischen, ich auch da, mit Leute. Nichts sagen! Schnell weggehen! Schlechte Leute hier!

Und schon ist er wieder bei den andern, die Stimmen schreien, vier Gestalten wanken hin und her, sich zerrend …

Der Rittmeister ist froh, die Tür nah und unverstellt zu finden. Er tritt erlöst zurück auf die Straße.

5

Wolfgang Pagel sitzt noch immer am Wachstuchtisch seiner Höhle, wippt mit dem Stuhl, flötet gedankenlos sein ganzes Repertoire an Soldatenliedern und wartet auf den Thumannschen Emaille-Kaffeepott.

Seine Mutter unterdessen, in der wohl eingerichteten Wohnung an der Tannenstraße, sitzt vor einem schönen, dunklen Renaissancetisch. Auf einer gelblichen Klöppelspitzendecke steht ein silbernes Kaffeegeschirr, frische Butter, Honig, echt englische Jams – es ist alles da. Nur vor dem zweiten Gedeck sitzt noch niemand. Frau Pagel sieht auf den Platz, die Uhr. Dann greift sie zur Serviette, zieht sie aus dem Silberring und sagt: Minna, ich fange an. Minna, das ältliche, gelbliche, verstaubte Wesen an der Tür, seit über zwanzig Jahren bei Frau Pagel, nickt mit dem Kopf, sieht auch auf die Uhr und sagt: Gewiß doch. Wer nicht kommt zur rechten Zeit …

Er weiß, wann unsere Frühstückszeit ist …

Gewiß doch – das kann der junge Herr ja gar nicht vergessen!

Die alte Dame, mit dem energischen Gesicht, dem klaren blauen Auge, der das Alter nichts von ihrer straffen Haltung, nichts von ihren festen Grundsätzen hat nehmen können, sagt nach einer Pause: Ich dachte eigentlich, ich würde ihn heute zum Frühstück sehen.

Minna hat seit jenem Streit, an dessen Ende die am wenigsten beteiligte Petra eine Ohrfeige bekam, tagtäglich das Gedeck für den einzigen Sohn auflegen müssen, tagtäglich hat sie es unbenutzt wieder forträumen müssen und tagtäglich hat die Gnädige diese Erwartung ausgesprochen. Aber Minna hat auch gesehen, daß die tägliche Enttäuschung der alten Dame nichts von der Sicherheit genommen hat, mit der sie den Sohn immer neu erwartet (ohne ihm einen Schritt entgegen zu tun). Minna weiß längst, alles Reden hilft nichts, also schweigt Minna.

Frau Pagel schlägt ihr Ei an. Nun, er kann noch im Laufe des Tages kommen, Minna. Was haben wir heute zum Essen?

Minna berichtet, und die gnädige Frau ist zufrieden: alles Dinge, die er mag.

Jedenfalls wird er nun sehr bald kommen. Einmal muß er mit dieser verdammten Spielerei scheitern. Ein Ende mit Schrecken … Nun, von mir soll er kein Wort des Vorwurfs hören …

Minna weiß es besser, aber das muß sie ja nicht sagen, also schweigt sie. Doch Frau Pagel ist auch nicht ohne Verstand und nicht ohne Witterung. Sie dreht den Kopf scharf zu der alten Getreuen unter der Tür und fragt: Sie hatten ja gestern Ihren freien Nachmittag, Minna. Sie waren wohl wieder – da –?

Wohin soll ein alter Mensch gehen? versetzt Minna mürrisch. Er ist doch auch wie mein Junge!

Die gnädige Frau schlägt ärgerlich mit dem Löffel gegen die Tasse. Er ist ein ganz dummer Junge, Minna! sagt sie scharf.

 

Jugend hat keine Tugend, antwortet Minna völlig ungerührt. Wenn ich bedenke, gnädige Frau, was ich für Dummheiten in meiner Jugend gemacht habe –!

Was haben Sie denn für Dummheiten gemacht, Minna?! ruft die Gnädige empört. Gar keine haben Sie gemacht! Nein, wenn Sie von Dummheiten reden, dann meinen Sie natürlich bloß mich – und das verbitte ich mir, Minna!

Minna schweigt darauf. Aber ist man mit sich unzufrieden, kann auch das Schweigen des andern Öl ins Feuer sein – grade das Schweigen.

Natürlich hätte ich ihr keine Ohrfeige geben sollen, fährt Frau Pagel noch hitziger fort. Sie ist nur ein kleines, dummes Mädchen, und sie liebt ihn. Ich will nicht sagen, wie ein Hund seinen Herrn liebt, trotzdem sie genau das tut, jawohl, Minna, schütteln Sie nicht mit dem Kopf, genau das … (Frau Pagel hat sich nicht nach Minna umgedreht, aber Minna hat wirklich mit dem Kopf geschüttelt.) … sie liebt ihn, wie Frauen einen Mann eben nicht lieben sollten!

Frau Pagel starrt wütend ihr Brot mit Jam an. Aus einer naheliegenden Erwägung heraus steckt sie den Löffel in die Jamdose und macht den Aufstrich fingerdick. Sich opfern! sagt sie empört. Das glaub ich! Das möchten alle! Weil’s bequem ist, weil’s dann keinen Ärger gibt! Aber Unangenehmes sagen: Wolfgang, mein Sohn, mit der Spielerei ist es aus, keinen Pfennig kriegst du mehr von mir, ihm so was zu sagen, das wäre rechte Liebe … Aber, gnädige Frau, sagt Minna recht nölig, die Kleine hat ja gar kein Geld, das sie ihm geben kann, und ihr Sohn ist er doch auch nicht …

Da!! ruft Frau Pagel zornentbrannt. Da!! Machen Sie, daß Sie rauskommen, Sie undankbare Person, Sie! Mein ganzes Frühstück haben Sie mir verdorben mit Ihrem ewigen Besserwissen und Widersprechen! – Minna! Wo laufen Sie denn hin? Decken Sie auf der Stelle ab! Denken Sie, ich kann noch essen, wenn Sie mich so ärgern?! Sie wissen doch, wie empfindlich ich mit meiner Galle bin! – Ja, den Kaffee auch weg. Ich werde jetzt noch Kaffee trinken – ich bin schon aufgeregt genug! Für Sie mag dies Mädchen meinethalben auch sein wie eine Tochter; ich bin altmodisch, ich glaube nicht daran, daß man seelisch sauber sein kann, wenn man vor der Ehe …

Sie haben grad gesagt, meint Minna ganz ungerührt von dem Ausbruch, denn solche Ausbrüche sind tägliche Kost für sie, und die Gnädige ist ebenso schnell friedlich, wie sie wütend wird … Sie haben grade gesagt, wenn man jemanden gerne hat, sagt man ihm auch mal was Unangenehmes. Da durfte ich Ihnen auch sagen, daß der Wolf nicht der Sohn von der Petra ist?

Und damit entschreitet Minna, das klirrende Tablett in den Händen, und zum Zeichen, daß sie nun erst einmal Ruhe ›in ihrer Küche‹ haben will, schlägt sie die Tür fest zu.

Frau Pagel versteht das auch und sie respektiert dies altgewohnte Zeichen der Getreuen. Sie ruft nur noch schnell hinterdrein: Schafskopf! Immer gleich beleidigt! Immer gleich wütend! Sie lacht vor sich hin, ihr Zorn ist verflogen. ›So eine alte Eule, bildet sich jetzt ein, Liebe besteht darin, dem andern Unangenehmes zu sagen!‹ Sie geht einmal im Zimmer hin und her, sie ist satt, denn der Zornausbruch kam erst, als sie schon genug gegessen hatte, und sie ist bester Stimmung, denn der kleine Streit hat sie erfrischt. Jetzt bleibt sie vor einem Schränkchen stehen, wählt bedachtsam eine lange schwarze Brasil, brennt sie lange und sorgfältig an und geht dann hinüber in ihres Mannes Zimmer.

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