Wolf unter Wölfen

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Schläfrig, genußsüchtig durch die fast geschlossenen Lider blinzelnd, betrachtet sie das Gesicht des Inspektors. Na, was gucken Sie denn so? fragt sie dann herausfordernd. Im Familienbad habe ich auch nichts anderes an. Stellen Sie sich bloß nicht so an. Sie studiert sein Gesicht. Dann: Na ja, Mama sollte uns hier beide mal so sehen …

Er kämpft mit sich. Die Sonne brennt irrsinnig heiß, es flimmert, jetzt streckt sie sich wieder. Er macht einen Schritt …: Ich … Weio, o Weio …

O wei! O wei! lacht sie. Nee, nee, Herr Meier, stellen Sie sich lieber wieder da bei der Leiter auf. Plötzlich ganz Herrin: Sie sind ja komisch! Sie bilden sich wohl was ein? Ich brauche nur einmal zu rufen, und Mama ist an ihrem Fenster!

Dann, als sie sieht, daß er wieder pariert: Heute brauchen Sie nicht zur Bahn zu schicken. Wahrscheinlich morgen früh zum ersten Zug. Papa telefoniert noch mal.

Hat alles vorhin ganz gut verstanden, das freche Luder! Hat sich ihm nur vorführen, ihn quälen wollen! Aber warte, ich kriege dich doch noch!

Warum lassen Sie denn nicht einfahren? fragt jetzt das junge Mädchen, die zu Entführende, die heimlich zu Heiratende.

Weil die Leute binden und aufsetzen müssen. – Ziemlich mürrisch.

Und wenn es ein Gewitter gibt und alles wird naß, macht Papa Ihnen einen Riesenkrach.

Und wenn es kein Gewitter gibt und ich hab einfahren lassen, macht er mir auch Krach.

Es gibt aber ein Gewitter.

Das kann man so genau nicht wissen.

Ich weiß es aber.

Gnädiges Fräulein wünschen also, daß ich einfahren lasse?

Ich denke gar nicht daran! Sie lacht schallend, ihre starke Brust hüpft gradezu im Badeanzug. Daß Sie mir nachher die Schuld geben, wenn es Papa nicht recht ist! Nein, machen Sie Ihre Dummheiten alleine!

Sie sieht ihn wohlwollend-überlegen an. Dieses Gör von fünfzehn Jahren ist derart frech –! Warum frech –? Weil sie zufällig eine geborene von Prackwitz, Erbin von Neulohe ist – nur darum frech!

Dann kann ich also gehen, gnädiges Fräulein? fragt Negermeier.

Ja. Kümmern Sie sich mal ein bißchen um die Wirtschaft. Sie hat sich auf die Seite gewälzt, sieht ihn noch einmal spöttisch an. Er geht schon.

Heh, Herr Meier! ruft sie.

Jawohl, gnädiges Fräulein? – Es hilft nichts, er muß.

Wird eigentlich Dung gefahren?

Nein, gnädiges Fräulein …

Warum riechen Sie denn so komisch?

Es dauert eine ganze Weile, bis er kapiert hat, daß sie sein Parfüm meint. Dann macht er wortlos, aber wutrot kehrt und klettert, so schnell er kann, die Leiter herunter.

›So ein Aas! Mit so einem Aas soll man sich gar nicht abgeben! Die Roten haben ganz recht: an die Wand mit dieser ganzen frechen Bagage! Adel! Verdammt noch mal! Frechheit, unverschämteste Frechheit … Nichts wie großkotzige Manieren …‹

Er ist von der Leiter, er ist im Abmarsch, seine kurzen Beine treten wütend die Erde. Da kommt wieder die Stimme von oben, die Stimme aus dem Himmel, die Stimme der Herrin: Herr Meier!

Er fährt zusammen. Voller Wut – und wiederum geht es doch nicht anders, voller Wut ruft er: Jawohl, gnädiges Fräulein?

Sehr ungnädig kommt es von oben: Ich habe Ihnen schon dreimal gesagt, Sie sollen nicht so schreien. Mama schläft! Und ungeduldig: Kommen Sie noch mal rauf!

Meier klettert wieder die Leiter hoch, den Bauch voller Wut: ›Jawohl, als dein Laubfrosch die Leiter rauf und runter, wie du das Wetter machst. Na, warte mal, habe ich dich erst, dich lasse ich bestimmt sitzen, mit Kind, ohne einen Pfennig …‹

Und doch wieder in strammer Haltung: Bitte, gnädiges Fräulein …?

Sie denkt jetzt nicht mehr daran, ihm ihren Leib vorzuführen, sie überlegt, aber sie hat die Sache schon bei sich entschieden. Sie ist nur noch unsicher, wie sie es ihm sagen soll. Schließlich erklärt sie möglichst harmlos: Sie müssen mir einen Brief besorgen, Herr Meier.

Jawohl, gnädiges Fräulein.

Plötzlich hat sie ihn in den Händen, rätselhaft woher, einen länglichen Umschlag aus bläulichem Papier; so weit man von Meiers Standpunkt aus erkennen kann, ohne jede Aufschrift …

Sie gehen heute abend noch ins Dorf –?

Er ist völlig überrascht und ganz unsicher. Sagt sie das nur so oder weiß sie was? Aber das ist doch unmöglich!

Ich weiß nicht, vielleicht. Wenn Sie es wünschen, gnädiges Fräulein, jedenfalls!

Sie werden nach dem Brief von einem Herrn gefragt werden. Händigen Sie ihn dann aus.

Welcher Herr? Ich versteh nicht …

Sie wird plötzlich ärgerlich, gereizt. Sie brauchen auch gar nichts zu verstehen. Sie sollen einfach tun, was ich Ihnen sage. Ein Herr wird nach dem Brief fragen und dem geben Sie ihn. Das ist doch ganz einfach!

Jawohl, gnädiges Fräulein, sagt er. Es klingt aber etwas schwach, er ist zu sehr in Gedanken.

Also, sagt sie. Das wäre dann alles, Herr Meier.

Er bekommt den Brief in die Hand. Er will es noch nicht glauben, aber nun hat er den Brief in der Hand, diese Waffe gegen sie!

›Warte, mein Schäfchen! Kommst du mir noch einmal dumm!‹

Er reißt sich zusammen: Wird alles bestens erledigt, gnädiges Fräulein!

Und er steigt die Leiter hinunter.

Das wollte ich auch meinen! klingt ihm von oben ihre Stimme ziemlich herausfordernd nach. Sonst erzähle ich Großpapa und Papa, wer den Wald angekokelt hat!

Die Stimme verstummt. Meier ist mitten auf der Leiter halten geblieben, um nur ja kein Wort zu verlieren.

›So! Also! Da hab ich es! So ist das! Angekokelt sagt sie. Genau ins Herz getroffen. Bravo! Für fünfzehn Jahre vorzüglich. Du kannst was werden! Nee, du kannst so bleiben!‹

Und der Herr Leutnant versteht auch schlecht Spaß, sagt die Stimme noch – und nun hört er, wie sie sich oben mit ihrem fetten, faulen Fleisch auf die Seite wälzt. Der Liegestuhl ächzt. Fräulein Violet von Prackwitz gähnt behaglich dort oben, und Herr Feldinspektor Meier darf unten an seine Arbeit gehen – stimmt, geht in Ordnung, der Kram.

Aber Meier, der kleine Meier, Negermeier geht noch nicht an seine Arbeit. Ganz langsam, tief in Sinnen, trottet er den Weg zu seiner Bude. Den Brief hat er in der Außentasche seiner schilfleinenen Joppe, und über seine glatte Fläche hat er die Hand gelegt, damit er ihn auch immer fühlt. Er muß fühlen, daß er den Brief wirklich hat, daß er da ist. Diesen Brief, den er gleich lesen wird. Sie hat wenig genug gesagt, dieses kleine, durchtriebene Luder, aber für ihn hat sie genug gesagt. Längst genug! Sie kennt also den Leutnant, diesen rätselhaften, etwas abgerissenen, doch recht schneidig auftretenden Herrn, der nächtliche Versammlungen beim Schulzen einberuft, und vor dem Förster Kniebusch strammsteht. Und sie hat diesen Herrn Leutnant heute zwischen zwölf und drei getroffen, sonst könnte sie von dem Brand nichts wissen.

Wenn aber dieser Herr Leutnant Herrn Feldinspektor Meier so kameradschaftlich zunickte, so nicht darum, weil er den Negermeier für so viel tüchtiger hielt als den alten Knochenfraß Kniebusch, sondern weil er bereits wußte: Meier war zum heimlichen Briefträger ausersehen! Wußte schon recht gut Bescheid, der Herr Leutnant, auf Neulohe! Längeres, heimliches Einverständnis.

›Ihr seid schon reichlich weit gekommen, ihr zwei beide! Ich kann mir alles denken. Und wenn ich erst den Brief gelesen habe – dumm bist du ja doch, du hochmütige, alberne Gans! Denkst, ich geh den Brief weiter und seh mir nicht an, was drinsteht! Ich will Bescheid wissen, und dann werde ich schon sehen, was ich da tue. Vielleicht dem Rittmeister alles erzählen – was ist dagegen so ein bissel Waldbrand? Damit habt ihr mich noch lange nicht an der Strippe. Aber ich denke, ich werde dem Rittmeister gar nichts sagen. Denn du bist ja auch noch so dumm, daß du nicht einmal merkst, daß so ein Kerl wie der Leutnant dich natürlich sitzenläßt. Da braucht man ihn ja nur einmal anzusehen, um das zu wissen. Aber dann bin ich da – nee, mein Kindchen, mir macht es nichts. An so was stoße ich mich nicht. Junge Pferde einfahren macht wenig Spaß und viel Mühe – besser schon, sie kennen jeden Schritt und Gang! Aber dann sollst du mir bezahlen, für jedes freche, hochmütige Wort, für jedes Jawohl, gnädiges Fräulein – und für diesen Brief vor allem! – Wie macht man solchen Brief überhaupt auf? Ich hab gehört, mit Wasserdampf – aber wo krieg ich in der Eile Wasserdampf auf meiner Bude her? Ach was, ich versuch es einfach mit einem Messer, die Klappe loszumachen, und geht der Umschlag kaputt, nehme ich einen von meinen eigenen. Gelb oder blau – danach wird er wohl kaum sehen …‹ Er ist angelangt auf dem Büro. Ohne auch nur die Mütze abzunehmen, sinkt er in den Schreibtischstuhl. Er legt den Brief vor sich auf den verbrauchten, tintenfleckigen grünen Filz. Starrt ihn an. Er ist schweißnaß, seine Glieder hängen von ihm, dabei ist sein Mund trocken. Er ist völlig erschöpft. Er hört die Hühner auf dem Hof glucksen, die Schweizer klappern im Kuhstall mit Eimern und Milchkannen. (›Wollte ich mir auch ausgebeten haben – höchste Zeit zum Melken!‹)

Der Brief liegt vor ihm. Die Fliegen surren und burren eintönig, es ist unerträglich schwül. Er will einen Blick auf das Barometer an der Wand tun (›Vielleicht kommt doch ein Gewitter?‹), aber er sieht nicht hoch: ›Es ist ja ganz egal!‹

Der Brief, das bläulich-weiße, reine Rechteck auf dem fleckigen grünen Filz! Ihr Brief!

Lässig, halb spielend greift er nach dem Papiermesser, zieht den Brief näher und legt beides wieder hin. Er wischt sich erst an der Joppe die schweißnassen Hände trocken. Dann nimmt er das Papiermesser und langsam, genußreich führt er die stumpfe Spitze in die kleine Öffnung oben zwischen Deckelklappe und Umschlag ein. Seine Augen sind starr, um seine dicken Lippen spielt ein leichtes, befriedigtes Lächeln. Jawohl, er öffnet den Brief. Achtsam schiebend, hebend, stoßend, drückend löste er die nachlässig festgeklebte Klappe. Nun sieht er schon eine Ecke vom Brief, da sind Fäserchen, die sich nicht fügen wollen, wie Härchen – aber zugleich sieht er sie, sieht er Weio, wie er sie eben gesehen hat, auf dem Liegestuhl … Sie streckt ihren Leib, ihr weißes, volles Fleisch zittert ein wenig … sie wirft die Arme hoch und in den Achselhöhlen schimmert es hell, kräuselt sich …

 

Oh! stöhnt Negermeier. Oh! Er hat die ganze Zeit auf den Brief gestarrt, er hat ihn dabei geöffnet – aber er war fort unterdes, fünfhundert Meter von hier, auf dem flachen, sonnenschwitzenden Pappdach – Fleisch bei Fleisch, Haut bei Haut, Haar bei Haar –: O du! Du!

Die Welle wird flacher. Noch einmal in den Farben schönen, lebendigen Fleisches leuchtend, wie von einem Abendrot bestrahlt, verrinnt sie im Sande. Ächzend atmet Negermeier auf. ›Nein, so was!‹ wundert er sich nun doch. ›Dies Biest muß mich ganz verrückt gemacht haben! Aber die Hitze tut auch was dazu!‹

Der Brief ist tadellos aufgegangen. Man braucht die Klappe nachher nicht einmal frisch zu gummieren, so nachlässig hat Fräulein Violet von Prackwitz zugeklebt. Also, lesen wir … Aber vorher wischt er noch einmal die Hände an der Joppe ab, sie sind schon wieder schweißnaß.

Dann zieht er das Blatt wirklich aus dem Umschlag, schlägt es auf. Er ist nicht sehr lang, der Brief, dafür aber hat er es in sich. Er liest:

Liebster! Allerliebster!! Einziger!!! Eben bist Du erst weg und schon bin ich wieder ganz wild nach Dir! Ich fliege am ganzen Leibe und es summt in mir, daß ich immerzu die Augen zumachen muß! Dann sehe ich Dich! Ich habe Dich ja sooo lieb!! Papa kommt heute bestimmt nicht, und so erwarte ich Dich zwischen elf und zwölf am Teich beim Schwanenhaus. Sieh, daß die dumme Versammlung bis dahin bestimmt alle ist. Ich sehne mich schrecklich nach Dir!

100 000 000 Küsse und noch viel mehr! Ich drücke Dich an mein Herz, das ganz doll klopft Deiner Violet.

Gott! sagt der kleine Meier und starrt auf das Briefblatt. Die liebt ihn wirklich: so lieb mit drei o und Deine unterstrichen. So ein kleines Pimädchen – die wird er schön reinlegen. Na, um so besser!

Er tippt sich den Brief auf der Schreibmaschine ab, zählt dabei sorgfältig die Nullen bei der Kußzahl (›Die reine Inflation – die macht mit!‹), klebt wieder zu. Die Abschrift des Briefes legt er in den Band 1900 des amtlichen Kreisblattes, den Brief steckt er wieder in die Joppentasche. Und nun ist er völlig zufrieden. Und völlig fertig für die Wirtschaft. Er sieht auf das Barometer. Es ist wieder ein bißchen gefallen.

›Ob es doch noch ein Gewitter gibt? Ob ich doch noch einfahren lasse? Ach, Quatsch, die redet ja bloß Unsinn!‹

Er geht ab zu seiner Mähmaschine.

7

Dachte ich es mir doch, daß du mich heute noch aufsuchen würdest, meine liebe, meine arme Mathilde!

Frau von Anklam, verwitwete Generalmajor, über siebzig, schneeweiß, unförmlich dick, ist aus ihrem tiefen Sessel, in dem sie ihren Nachmittagsschlaf hielt, mühsam emporgetaucht. Mit beiden Händen hält sie die Hand der Besucherin und sieht ihr teilnehmend-besorgt mit den großen braunen, immer noch schönen Augen ins Gesicht. Vorläufig spricht sie nur getragen – wie bei einem Todesfall. Sie kennt aber auch noch eine andere Tonart, die der Regierungskommandeuse, die sämtliche Damen des Regiments in Zucht, Ordnung und Anstand hielt.

Wir werden alt, aber unsere Last wird nicht leichter. Unsere Kinder, solange sie jung sind, treten sie auf unsern Schoß. Später dann auf unser Herz.

(Frau von Anklam hat nie Kinder gehabt. Sie konnte Kinder auch nie ausstehen.)

Komm, setze dich hier auf das Sofa, Mathilde. Ich klingle – Fräulein bringt gleich Kaffee und Kuchen. Ich habe heute den Kuchen von Hilbrich holen lassen, er hat doch immer den besten. Nur lohnt es sich nicht recht für mich allein – vierzigtausend Mark Fahrgeld, verstehst du, vierzigtausend! Räuber sind das! – Ja, Fräulein, Gebäck und Kaffee, recht kräftig, meine Kusine hat eine traurige Nachricht bekommen. – Ja, liebe Mathilde, ich habe da eben in meinem Stuhl gesessen und nachgedacht. Fräulein glaubt, ich schlafe, aber ich schlafe natürlich nicht. Ich höre jedes Geräusch in der Küche, und wenn beim Abwaschen ein Teller zerbrochen wird, bin ich sofort da! Zerbricht deine Minna auch soviel –? Es ist noch das alte Nymphenburger Porzellan, das Großvater Kuno vom Hochseligen Herrn zur Diamantenen Hochzeit bekam – Gott, es ist ja genug für mich alte Frau da, aber trotzdem, man muß auch an seine Erben denken! Ich hatte es eigentlich Irene versprochen, aber ich bin in letzter Zeit doch wieder schwankend geworden, Irene hat solch seltsame Ansichten über Kindererziehung – direkt, wie soll ich sagen, revolutionär!

Und die Nachricht ist bestimmt richtig, Betty? fragt Frau Pagel, grade aufgerichtet, dürr – und keine noch so teilnehmende nahe Verwandte konnte ihr ansehen, daß sie Tränen geweint hatte.

Die Nachricht? Welche Nachricht? Ach so, die Nachricht! Aber liebe Mathilde, ich muß doch sagen, wo ich es dir extra geschrieben habe –! Dies ziemlich als Kommandierende, aber nun wieder teilnahmsvoll: Nein, natürlich richtig – der gute Junge, der Eitel-Fritz hatte dort zu tun. Er hat es mit eigenen Augen gelesen, das Aufgebot heißt es ja wohl. Ich weiß allerdings nicht, was er dort zu tun hatte. Ich war so aufgeregt, daß ich ihn nicht danach gefragt habe. Aber du kennst ja Eitel-Fritz, er ist so originell, er geht an die seltsamsten Plätze – Attention! La Servante!

›Das Fräulein‹ erscheint mit dem Kaffeegeschirr, mit dem Tablett, mit dem Nymphenburger von dem diamantenen Großvater. Die Damen verstummen, und lautlos deckt Fräulein, ein ältliches, mausgraues Wesen, den Tisch.

Es ist immer nur ›Fräulein‹ – alle diese häufig wechselnden Gestalten bei Frau Generalmajor von Anklam sind namenlos. Fräulein deckt und Fräulein stopft, Fräulein liest vor und Fräulein erzählt was, und vor allem: Fräulein hört zu! Fräulein hört zu von morgens bis abends, Geschichten von Regimentsdamen, längst verstorben und vergessen (›Ich sage ihr: liebes Kind, was Takt heißt, bestimme ich!‹); Geschichten von Kindern, längst im Besitz eigener Kinder (›Und da sagt doch dieses süße Engelskind zu mir …‹); Geschichten von Verwandten, längst verzankten; Geschichten von blauen Briefen und Beförderungen; Geschichten von Orden; Geschichten von Verwundungen; Geschichten von Eheirrungen und von Ehescheidungen – Wust und Gerümpel eines ganz in Klatsch und Tratsch verbrachten Lebens, Intima, Intimissima!

Fräulein, farblos, mausgrau, hört zu, sagt ja, ach nein!, so etwas!, himmlisch! – aber wenn Besuch bei Exzellenz ist, hört sie nichts, Frau Generalmajor flüstert mit dem letzten Rest ihres Lausanner Pensionsfranzösisch: Attention! La Servante!, und die Damen verstummen. Ist Besuch da – wird Fräulein zu Luft, so gehört es sich. (Erst wenn der Besuch wieder fort ist, wird ihr alles erzählt.)

Aber nach dem ersten Verstummen bleibt Frau von Anklam nun nicht etwa stumm, das gehörte sich auch wieder nicht. Sie redet vom Wetter, es ist so schwül heute, vielleicht gibt es ein Gewitter, vielleicht ja, vielleicht aber auch nein. Sie hatte einmal ein Fräulein, das bekam Reißen in der großen Zehe vor Gewitter – sehr seltsam, was? –

Es stimmte immer, und einmal, als Fräulein grade auf Urlaub war, wir hatten damals noch das Gut, weißt du, bekamen wir doch das Gewitter mit dem schweren Hagelschlag, der die ganze Ernte zusammendrasch – wenn Fräulein nun keinen Urlaub gehabt hätte, hätten wir das doch vorher gewußt, und das wäre doch sooo gut gewesen, nicht wahr, liebe Mathilde? Aber natürlich, grade da mußte Fräulein auf Urlaub sein! –

Ja, es ist alles recht, Fräulein, danke. Sie können jetzt noch die Spitzenrüschen an meinem schwarzen Taftkleid plätten. Sie sind schon geplättet, ich weiß, Fräulein. Es ist nicht nötig, daß Sie mir das sagen. Aber sie sind nicht so geplättet, wie ich es gewöhnt bin, sie müssen sein wie ein Hauch … Fräulein! Wie ein Hauch! Also tun Sie das, Fräulein!

Und kaum ist hinter Fräulein die Tür zu, wendet sich Frau von Anklam wieder ganz teilnahmsvoll an Frau Pagel. Ich habe es mir hin und her überlegt, liebe Mathilde, aber es bleibt dabei: sie ist einfach eine Person!

Frau Pagel fährt zusammen, sieht ängstlich zur Tür: Fräulein?

Aber Mathilde, konzentriere dich doch ein bißchen! Von was reden wir? Von der Heirat deines Sohnes! Wenn ich so unkonzentriert sein wollte! Ich habe stets meinen Damen gesagt …

Frau Pagel hat immer noch die Hoffnung, irgend etwas Positives zu erfahren, sie weiß eigentlich nicht was. Es gelingt ihr einzuschieben: Das Mädchen ist vielleicht doch nicht ganz schlecht …

Mathilde! Eine Person! Nur eine Person!!

Sie liebt Wolfgang – in ihrer Art …

Davon will ich nichts hören! Unanständigkeiten, nein, in meinem Heime nicht …

Aber Wolfgang spielt, Betty, verspielt alles …

Frau von Anklam lacht. Wenn man dein Gesicht sieht, beste Mathilde! Der Junge jeut ein bißchen – du mußt nicht ›spielen‹ sagen, ›spielen‹ klingt so gewöhnlich –, alle jungen Menschen jeuen ein bißchen. Ich erinnere mich, wie wir damals das Regiment in Stolp hatten, wurde auch viel gejeut unter den jungen Leuten. Exzellenz von Bardenwiek sagte zu mir: ›Was machen wir bloß, gnädigste Frau von Anklam? Wir müssen etwas dagegen tun.‹ Ich sagte: ›Exzellenz‹, sagte ich, ›wir werden gar nichts tun. Solange die jungen Leute jeuen, machen sie keine andern Dummheiten.‹ Und er pflichtete mir sofort bei … Herein!

Es hat leise und vorsichtig geklopft an der Tür. Nun steckt Fräulein den Kopf herein: Ernst ist zurück, Exzellenz.

Ernst –? Was will er denn –? Was sind denn das für neue Moden, Fräulein?! Sie wissen doch, ich habe Besuch! Ernst – unglaublich!

Trotz dieses Gewitters wagt das Fräulein noch etwas zu sagen, sie piepst wie eine Maus in der Falle: Er war auf dem Standesamt, Exzellenz.

Frau von Anklam verklärt sich: Ach natürlich, er soll sofort hereinkommen, sobald er sich die Hände gewaschen hat. Was Sie für lange Geschichten aus allem machen, Fräulein! – Fräulein, einen Augenblick, rennen Sie doch nicht immer gleich so kopflos fort – warten Sie bitte meine Anordnungen ab. Geben Sie ihm erst noch ein paar Spritzer Eau de Cologne, jawohl, von der Wasch-Eau de Cologne! Man weiß nicht, mit wem er dort zusammen gewesen ist.

Wieder allein mit der Kusine: Ich wollte doch wissen, wie die Trauung verlaufen ist. Ich habe mir lange überlegt, wen ich zu so etwas schicken könnte. Ich habe unsern Ernst geschickt. Nun, jetzt werden wir ja hören …

Und ihr Auge leuchtet, sie rückt die schwere Leibesfülle im Sessel hin und her, ganz Erwartung. Sie wird etwas Neues hören, wieder etwas für die Rumpelkammer – o Gott, großartig!

Der Diener Ernst tritt ein, ein älterer Mann, an die Sechzig, ein Männchen, lange schon, ein Leben schon bei Frau von Anklam.

Unter der Tür! ruft sie. Unter der Tür bleibst du stehen, Ernst!

Ich weiß doch, Exzellenz!

Gleich nachher badest du, ziehst dich frisch um, wer weiß, was für Bakterien auf dir sitzen, Ernst! – Nun los, sage doch endlich: wie war die Trauung?

Gar nicht war sie, Exzellenz!

Siehst du, Mathilde – was sage ich dir immer? Um gar nichts regst du dich auf! Was habe ich dir noch vor drei Minuten gesagt: eine ganz gewöhnliche Person! Sie hat ihn sitzenlassen!

Frau Pagel schwach: Wenn ich Ernst befragen dürfte, liebe Betty –?

Aber natürlich, liebe Mathilde. – Ernst, ich verstehe dich nicht, du stehst wie ein Stock da, du hörst doch, Frau Pagel möchte alles wissen! Erzähle, rede – sie hat ihn natürlich sitzenlassen! Nun weiter – was hat er gesagt dazu?

Halten zu Gnaden, Exzellenz! Ich glaube, der junge Herr hat sie – ist nicht gekommen …

Siehst du, Mathilde, genau, was ich dir gesagt habe! Der Junge ist ganz in Ordnung, das bißchen ›Jeu‹ tut ihm nichts, im Gegenteil – völlig vernünftig, solche Person heiratet man doch nicht!

Endlich dringt Frau Pagel durch: Ernst, ist es auch sicher? War bestimmt keine Trauung? Vielleicht sind Sie ein bißchen zu spät gekommen?

Nein, gnädige Frau, bestimmt nicht. Ich war rechtzeitig da und habe bis zum Schluß gewartet und auch den Beamten gefragt: sie sind beide nicht gekommen.

 

Siehst du, Mathilde …

Aber warum glauben Sie denn, Ernst, daß es mein Sohn gewesen ist. Sie verstehen schon …

Ich wollte sichergehen, gnädige Frau, es konnte ja auch was passiert sein. Auf dem Standesamt erfuhr ich die Wohnung. Ich bin also hingegangen, gnädige Frau …

Ernst, unbedingt sofort baden und völlig frische Wäsche –!

Zu Befehl, Exzellenz! – Der junge Herr hat sich seit heute früh dort nicht mehr sehen lassen. Und das Mädchen hat man hinausgesetzt, weil die Miete nicht bezahlt war. Sie stand noch unter der Tür. Ich habe sie …

Frau Pagel steht mit einem Ruck auf. Plötzlich ist sie wieder ganz Entschlossenheit, dunkel, energisch, starrer Nacken.

Ich danke Ihnen, Ernst. Sie haben mich sehr beruhigt. Entschuldige, liebe Betty, daß ich so formlos gehe, aber ich muß sofort nach Haus. Ich habe das bestimmte Gefühl, Wolfgang sitzt dort und wartet ganz verzweifelt auf mich. Irgend etwas muß vorgefallen sein. O Gott, und Minna ist auch weg! Nun, er hat ja noch seine Schlüssel zu der Wohnung. Entschuldige, ich bin ganz durcheinander, liebe Betty …

Form! Form, Haltung, liebe Mathilde! Haltung in jeder Lebenslage. Natürlich hättest du an einem solchen Nachmittag zu Haus bleiben müssen, natürlich wartet er auf dich. Ich wäre natürlich an solchem Tage nicht aus dem Haus gegangen. Und vor allem eins – bitte, Mathilde, noch einen Augenblick, du kannst doch nicht so einfach loslaufen – sei hart mit ihm! Keine falsche Weichheit! Vor allem: gib ihm kein Geld, keinen Pfennig! Wohnung, Essen, Kleidung – gut! Aber kein Geld, er verjeut es bloß! Mathilde –! Mathilde! Weg! Keine Form! – Höre mal, Ernst …

Die Thumannsche der oberen Zehntausend spricht weiter, immer weiter …

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