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Ich ging aufs Klo, um diese peinliche Debatte nicht hören zu müssen.

Als ich zurückkam, stand Gitti mitten im Wohnzimmer und betrachtete die vierzehn Porträtfotos von Norbert, die hinter einer Glasplatte, noch von ihm selber arrangiert, die vierzehn Weihnachten, die wir miteinander verbrachten, dokumentierten. Norbert ließ jedes Jahr zu Weihnachten ein Porträt von sich anfertigen. Seine engsten Verwandten und Freunde bekamen so ein Bild von ihm. Ich hatte auf einem Teil des Bücherregals im Wohnzimmer immer alle Fotos, noch in ihren Mappen, aufgestellt. Wenn Besuch kam, räumte Norbert sie jedes Mal schnell weg mit der Bemerkung, das sähe blöd aus, wenn ich fünf oder sechs oder sieben Fotos, wie viele es eben nach Anzahl der Jahre gerade waren, von ihm herumstehen hätte. Vor ein paar Tagen aber, ich weiß nicht genau, wann es war, weil ich es erst zufällig, aber noch vor dem Tod von Norbert, bemerkte, hatte dieser die vierzehn Bilder hinter Glas geordnet und an die Wand gehängt. Jetzt fiel mir auf, dass die Fotos so angeordnet waren, dass man keines mehr hätte dazutun können. Es war die abschließende Dokumentation. Kälte durchfährt mich. Abschließend. Der Unglaube, der mich in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten noch oft mit mehr oder weniger Heftigkeit überfallen sollte, nistete sich in mir ein. Norbert war tot. Das war unumstößlich. Alles andere würde sich finden müssen.

Es ging auf sechs Uhr zu. Um sieben Uhr zwanzig würde Mirek, der polnische Freund, am Ostbahnhof ankommen. Ich musste ihn abholen. Norbert hat mir aber geraten, ich solle vorher bei der Bahn anrufen und fragen, ob der Chopin-Express aus Warschau pünktlich ankommen würde, damit ich nicht sinnlos auf den Bahnhof fahren würde.

Ich schüttelte den Kopf. Norbert hat mich gebeten, Mirek einzuladen. Was sollte ich jetzt mit ihm anfangen?

Draußen begann zögernd der Morgen zu grauen. Ich wunderte mich. Da begann ein neuer Tag? Ein Tag? Nach dieser Nacht? Wie unerbittlich doch diese Vorgänge sind. Da begann einfach ein Tag. Der erste Tag ohne Norbert. Wie konnte die Welt das tun? Einfach darüber hinwegwalzen. Da fehlte doch einer. Fiel das niemand auf? Konnte man einfach so zur Tagesordnung übergehen? Da fehlte doch einer! Da fehlte doch einer!! Gitti war da, also verkniff ich es mir, zu schreien.

Kapitel 6

AM FOLGENDEN TAG ERFUHR ICH ALLES.

Um halb sieben rief ich bei der Bahn an und erfuhr, dass der Chopin-Express ziemlich pünktlich ankommen würde, vielleicht ein paar Minuten verspätet, aber unwesentlich, wie die präzise Aussage des Beamten lautete. Daraufhin rief ich den Bruder Peter an und verabredete mich mit ihm. Mit Mirek würde ich um etwa dreiviertel acht wieder in der Wohnung sein, Peter könne also um acht kommen und die Mappe abholen. Da war aber auch schon ein Plan in mir reif: Ich ersuchte Peter, im Hanusch-Krankenhaus, wo Norbert zuletzt in ambulanter Behandlung war, anzurufen und den Arzt ausfindig zu machen, der Norbert behandelt hatte. Wir müssten doch endlich erfahren, was in diesen gottverfluchten Befunden stand und ob dort der Grund für den Suizid zu finden war. Peter zögerte, ob es nicht besser wäre, ich riefe an, ich sei schließlich wer. Ich aber erklärte, dass ich sicherlich keine Auskunft bekommen würde. Ich sei ja nicht mit dem Verstorbenen verwandt, das müsse schon der Bruder tun. Der Tod trennte uns wieder, vermerkte ich ganz am Rand meines Schmerzes. Die Untersuchung im Hanusch-Krankenhaus hatte der Chef von Norbert vermittelt. Vielleicht könne ihm der helfen. Außerdem müsse er ihn ohnedies verständigen. Peter erzählte noch unter Tränen, wie er in der Nacht dem Vater, der gerade neunzig Jahre alt war, vom Selbstmord seines Lieblingssohnes Norbert erzählen musste. Der Vater sei verstummt und habe nichts mehr gesagt, solange Peter bei ihm war. Irene, des Vaters um vierzig Jahre jüngere dritte Frau, sagte Peter am Telefon, dass er bis zum Morgen noch immer nichts gesprochen hätte und nur trüb vor sich hinschaue. Hin und wieder schüttle er ganz leise den Kopf.

Gitti verabschiedete sich, ich fuhr zum Ostbahnhof, um Mirek abzuholen. Der Zug war auf die Minute pünktlich, Mirek kam strahlend daher und begrüßte mich mit den Worten: „Hallo! Wie geht es dir? Wo ist Norbert?“

Bei den vorigen Besuchen hatten wir immer beide Mirek abgeholt. Jetzt aber musste ich es ihm sagen: „Norbert ist tot. Er hat gestern Selbstmord begangen.“

Mirek brach, aufrecht stehend, zusammen. Sein Gesicht wurde so weiß, seine Augen wurden so groß, seine Haltung so starr, sein Entsetzen so unfassbar, wie es der ganze Inhalt der Nachricht war, die ihm da eben versetzt worden war. Hilflosigkeit, Mireks Hilflosigkeit, schlug sich nun zu meiner Leere dazu. Wir standen einander gegenüber und starrten uns an. Da war nichts zu sagen. Der Schmerz war nur stumm und voll konzentriert zu ertragen. Erst nach einigen Minuten, wir waren schon beim Auto angelangt, sagte Mirek ganz leise: „Oh mein Gott!“

Wir fuhren nach Hause. Ich machte Kaffee, Mirek irrte in der Wohnung herum, stumm und steinern.

Da kam Peter, trank auch Kaffee und wir besprachen, wie wir unser Vorgehen anpacken wollten.

Wir fuhren mit meinem Auto. Peter meinte, mein Wagen sähe besser aus als sein Firmenauto mit dem Reklameaufdruck eines Fleischhauers.

Unser Ziel war das Hanusch-Krankenhaus. Peter hatte mit dem Chef von Norbert telefoniert, der Weg war also weitgehend geebnet. Was nicht geebnet war, das sollte der Einsatz meines bekannten Gesichts besorgen.

Während der Fahrt sagte ich zu Peter: „Ich bete zu Gott, dass es etwas Schwerwiegendes ist, was wir jetzt erfahren. Dass Norbert um Gottes Willen wirklich einen Grund gehabt hat.“

„Vielleicht waren es gar nicht die Befunde?“, sagte Peter stirnrunzelnd vor sich hin.

„Was soll es denn sonst gewesen sein?“, bellte ich in unlogischer Sturheit.

Peter zuckte die Achseln und murmelte nur kryptisch: „In seiner Position...“

Was immer Peter damit gemeint haben mochte, ich überging es. Für mich waren es die Befunde. Ich hatte nur eine nagende Angst, dass es bei Norbert vielleicht nur die Panik vor einem negativen Ausgang der Untersuchung gewesen war, die ihn zu der Tat trieb.

„Aber nein, so dumm schätze ich Norbert nicht ein, obwohl er nichts so sehr fürchtete wie Krebs“, sagte ich und Peter nickte.

Krebs war für Norbert das Schlimmste, das einem Menschen widerfahren konnte. Mit etwas anderem rechnete er nicht. Aber mit Krebs musste, seines Erachtens, jeder rechnen. Die panische Krebsangst von Norbert rührte daher, dass seine Mutter, als er neunzehn Jahre alt war, ein halbes Jahr lang an Krebs gestorben war.

Die Gänge in dem Spital waren bevölkert, überall standen Sessel, auf allen Sesseln saßen Patienten, viele mussten stehen, alle hatten sie den ortsüblich leidenden Ausdruck. Alle erkannten mich, lächelten mir erkennend zu, nickten, grüßten, tuschelten hinter meinem Rücken, zeigten denen, die mich nicht gesehen hatten, schau, da ist der, du weißt schon.

Wir wurden zuerst an die Stationsschwester der Ambulanz verwiesen, die uns helfen sollte, mithilfe des Patienten-Namens, dem Datum und der Art der Erkrankung den zuständigen Arzt zu suchen. Wir wussten aber nur den Namen, kein Datum und schon gar keine Krankheit. Die Schwester suchte und telefonierte, geriet in Hektik, weil ich ungeduldig fragte, ob denn nicht der Name genüge, um einen Patienten in diesem Spital zu finden, wobei ich ‚in diesem Spital’ schon mit dem drohenden Unterton dessen sagte, der es sicher nicht auf sich beruhen lassen würde, dass man ‚in diesem Spital’ Patienten nach Namensnennung nicht zu finden imstande war.

Plötzlich stockte sie und fragte vor sich hin: „Moment, ist das der, der...“, worauf sie sich selber unterbrach und mit einem Mal wusste, wo sie anrufen musste.

Peter und ich waren aufmerksam geworden. Was mochte das heißen, ‚der, der...’?

Die Schwester hatte jemand am Apparat, dem sie uns beide avisierte. Dann bat sie, ihr zu folgen. Wir wanderten wieder über mehrere bevölkerte Gänge, wieder schauten die Patienten mir nach, lächelten, grüßten und zeigten mich einer dem anderen.

Eine Tür mit der Namensaufschrift eines Arztes wurde vor uns geöffnet, ein Patient verließ den Raum, ein anderer, der wahrscheinlich die nächste Nummer hatte, wollte hinein, wurde aber von der Schwester gebeten, zu warten, worauf sie uns beide in das Zimmer schob, in dem ein etwa vierzigjähriger, weißbemantelter, bebrillter, schütterhaariger Arzt saß, der sich vorstellte, dem wir uns vorstellten und der uns dann ersuchte, Platz zu nehmen.

Er suchte aus einem Karteikasten, der sich neben seinem Schreibtisch befand, eine Mappe heraus, legte sie vor sich hin, blätterte versonnen darin, machte sie wieder zu, holte tief Luft und sah mich an: „Was sind Sie zu dem Patienten?“

Peter fiel ein: „Ich bin sein Bruder.“

„Ich bin nur Begleiter, Freund, wenn Sie so wollen“, sagte ich ergänzend.

Der Arzt nickte.

Dann fragte er weiter: „Und warum wollen Sie die Krankengeschichte wissen?“

Ich beschloss, brutal zu antworten: „Weil Ihr Patient in der vergangenen Nacht Selbstmord verübt hat.“

Der Arzt wurde steif, bleich mit grauen Strichen, saß plötzlich sehr aufrecht, sah uns forschend an, vermutlich sondierend, ob da vielleicht Schwierigkeiten auf ihn zukommen könnten, dann entspannte er sich etwas, blickte auf seine Mappe und nickte langsam vor sich hin.

„Wir kennen keinen Grund“, begann Peter vorsichtig, „wir wissen nur, dass er bei Ihnen in Behandlung war und wollen jetzt fragen, ob wir vielleicht bei Ihnen oder in Ihren Befunden den Grund finden könnten, verstehen Sie?“

Der Arzt nickte, dann sah er mich an und meinte: „Ich weiß nicht recht“, dann blickte er Peter an, „Sie als Bruder...“

Ich atmete scharf und tief ein, ich ahnte etwas, ich musste dem Arzt beibringen, dass er es vor mir auch aussprechen konnte.

„Vielleicht“, sagte ich langsam, wie zögernd, aber dennoch dezidiert und dick unterstrichen, „hilft es Ihnen, wenn ich Ihnen sage, dass ich seit fünfzehn Jahren der Lebensgefährte des Verstorbenen bin, wenn Sie verstehen, was ich meine...“

Der Arzt nickte wieder, dann sagte er es endlich langsam und leise: „Er war HIV-positiv.“

Ich atmete tief ein und lehnte mich langsam zurück. Peter aber verharrte in seiner aufmerksamen Position, er schien nicht verstanden zu haben.

„Aids also“, sagte ich, um Peter die Erklärung zu liefern, bevor er fragen musste.

Jetzt sah Peter mich an und lehnte sich auch langsam zurück.

Der Arzt aber schüttelte den Kopf und sagte: „Das muss nicht unbedingt heißen, dass er Aids HATTE.“

„Und?“, fragte ich, „im konkreten Fall?“

Der Arzt blätterte in seinen Papieren, um folgerichtig nacheinander zu erzählen: „Er kam mit Magenschmerzen und Neigung zu starkem Durchfall zu uns. Er war vorher, glaube ich, in Brasilien.“

Ich nickte: „Wir waren bis Anfang Februar drei Wochen in Brasilien, ja.“

Der Arzt nahm den Faden auf: „Und von dort, so erzählte er uns, hat er sich, wahrscheinlich vom vielen Kalt-Trinken, was mitgebracht. Wir haben das behandelt und es hat sich ja auch gebessert. Beim Ultraschall haben wir einen Gallenstein festgestellt, den er demnächst operieren lassen wollte.“

Das hatte mir Norbert erzählt. Ich hatte mit meinem Operateur Prof. Funovic alles so weit besprochen, dass Norbert nur noch sagen hätte müssen, wann er es machen lassen wollte.

Der Arzt fuhr fort: „Dann machten wir eine Gastroskopie. Dabei stellten wir in der Speiseröhre einen pilzartigen Belag fest. Ein Kollege meinte, das sieht verdammt nach einer Immunschwäche aus, wir müssen testen. Wir haben den Test gemacht und HIV-positiv festgestellt.“

Der Arzt verstummte.

Ich fragte, wie Norbert es erfahren hätte.

Der Arzt seufzte tief, blätterte in seiner Mappe um, las kurz hinein und sagte dann leise: „Am 7. März in der Früh haben wir die Befunde fertig ausgewertet gehabt. Wir haben ihn sofort im Büro angerufen und gebeten, herzukommen, wir hätten die Befunde fertig und es wäre da einiges zu besprechen. Eine halbe Stunde später war er schon da. Wir setzten uns zusammen - und haben es ihm gesagt.“

Wieder schwieg der Arzt.

Jetzt, wo der Doktor zum Kern der Sache gekommen war, wurde ich ungeduldig: „WAS haben Sie ihm gesagt?“

„Bei Aids“, fuhr der Arzt langsam und belehrend, wieder die Oberhand habend, fort, „haben wir vom Gesetz her die Pflicht, dem Patienten alles zu sagen.“

„WAS haben Sie ihm gesagt, und WIE haben Sie es ihm gesagt“, insistierte ich.

Der Arzt blickte missmutig auf, seufzte dann entnervt und sagte etwas lauter als vorher: „Wir haben ihm gesagt...“

„Wer WIR?“

Er deutete auf die im Zimmer anwesende Schwester - es war nicht die, die uns hergebracht hatte, sondern eine andere, ich bemerkte sie erst jetzt: „Die Frau Oberschwester war dabei. Wir haben ihm gesagt, dass er HIV-positiv ist. Da heißt nicht, dass er Aids hat. Der Belag in seiner Speiseröhre allerdings deutet eindeutig darauf hin, dass Aids bei ihm im Ausbrechen war. Er muss also damit rechnen, dass er in absehbarer Zeit in eine geschlossene Abteilung eingeliefert werden muss.“

„In absehbarer Zeit?“, fragte ich, fast ohne Atem.

Der Arzt nickte wieder, zuckte die Achseln und sagte dann: „In zwei Wochen, in drei Wochen vielleicht...“

„So bald!“, flüsterte ich und schloss die Augen.

„Ja, viel Zeit war da nicht“, meinte der Arzt.

„Und“, versuchte ich mich wieder zu fassen, „wie hat er es aufgenommen?“

Der Arzt zögerte, blickte dann die Oberschwester an, die sagte: „Gefasst.“

Der Arzt stimmte ihr zu: „Sehr gefasst sogar. Er sagte zwischendurch ein paar Mal ‚Na servus’ und ‚Na fein’, sonst hat er nur genickt und zur Kenntnis genommen.“

„Reagieren andere Leute anders?“, fragte ich.

„Hysterisch, sie brechen zusammen, oder weinen haltlos. Wir geben ihnen dann aus der Psychiatrischen einen Arzt zur Seite oder behalten sie ein paar Stunden hier.“

„Aber ihn haben Sie einfach gehen lassen?", fragte ich, und Fassungslosigkeit ballte sich in mir zusammen.

„Er machte eine so gefassten Eindruck“, stellte der Arzt sachlich fest, „dass uns eine psychologische oder psychiatrische Betreuung nicht geboten schien.“

Er blickte zur Schwester, die nickte zustimmend.

Ich aber fasste langsam das Unfassbare zusammen: „Sie sprechen am helllichten Vormittag aus völlig heiterem Himmel über einen Menschen das Todesurteil und lassen ihn, nur weil er diszipliniert ist und nicht gleich nach draußen zeigt, was in ihm vorgeht, einfach auf die Straße, in den Alltag hinaus? Ein Blick genügt Ihnen, um zu sehen, dass der Mensch, der da vor Ihnen sitzt, in keiner Weise gefährdet ist, dass er gefasst ist, dass er diese fürchterlichste aller Nachrichten, die ein Mensch empfangen kann, einfach schluckt und weiter geht an die Arbeit.“

Der Arzt wand sich leise und fragte: „Warum sagen Sie das?“

Ich wurde laut: „Weil der Mensch, der Ihrer Meinung nach keiner Hilfe bedurfte, am selben Tag, an dem Sie ihm die Nachricht mitgeteilt haben, sein Testament verfasst hat, über seinen Körper verfügte, Listen aufstellte, Abrechnungen machte und dann, eine Woche nach Ihrer, für Sie wahrscheinlich alltäglichen Benachrichtigung, Selbstmord begangen hat. Darum frage ich Sie!“

„Das ist zutiefst bedauerlich“, sagte der Arzt, „wirklich, glauben Sie mir, ich empfinde tief mit Ihnen. Aber er war todkrank. So oder so.“

Der Keulenschlag ließ mich aufspringen, tief durchatmen, die Tränen fest verbeißen und feststellen, dass alles ja doch keinen Sinn hätte, da Norbert nun einmal tot sei.

Als ich später einmal mit einigen Ärzten über die eigenartig oberflächliche Form dieser Benachrichtigung sprach, zuckten sie die Achseln und meinten, man gewöhne sich als Arzt daran, Todesurteile auszusprechen, das gehöre nun einmal zu dem gottverfluchten Alltag und man sei schon froh, wenn einmal ein Patient da sei, der keine Schwierigkeiten machte.

Ein paar Tage später ersuchte ich Prof. Funovic, den Arzt noch einmal anzurufen und sich die Sache von Kollegen zu Kollegen erklären zu lassen. Funovic rief schon wenige Minuten später zurück und sagte: „Seien Sie froh, dass er das getan hat. Er hat sich und euch allen viel erspart. In spätestens drei Wochen hätte der Pilzbelag sich so tief in die Speiseröhre hineingefressen, dass sie nur noch ein blutiger Schlauch gewesen wäre, den man hätte herausschneiden müssen. Ich glaube, das haben sie ihm sogar gesagt. In ein paar Wochen wäre er so und so tot gewesen.“

So und so.

Peter erzählte Monate später, er habe noch einmal mit der Oberschwester gesprochen. Die sagte ihm, sie hätten ihn gar nicht mehr operiert, so schlimm hätte die Speiseröhre ausgesehen. Sie hätten ihn nur noch behandelt.

Als Peter und ich das Spital verließen, waren wir selbst erstaunt über die Erleichterung, die wir spürten. Ich wusste nun, Norbert hat einen Grund gehabt, einen schwerwiegenden Grund. Es blieb also nichts anderes übrig, als ihm recht zu geben, als ihm zuzustimmen, er habe richtig gehandelt. Es sei richtig, dass er tot sei. Da aber schreckte ich zurück, es wollte plötzlich nicht klappen mit dem Recht geben.

Noch vom Auto aus telefonierten wir mit der Polizei, die uns nun alles mitteilte, Zeit, Ort, und noch einmal die grausliche Beschreibung der Todesursache. Er hatte nichts bei sich, außer einer billigen Uhr, die zertrümmert wurde, ein Flinserl im Ohr, zu dem ich das zweite Stück in meinem linken Ohr trage, und drei einfache Ringe am linken kleinen Finger, auch hier trage ich die entsprechenden Gegenstücke an meinem linken kleinen Finger. Und einen Zettel hatte er in der Tasche: ‚Mein Name ist Norbert ... , bitte verständigen Sie meinen Bruder Peter ..., Adresse, Telefonnummer, sollte seine Frau am Telefon sein, bitte sehr vorsichtig verständigen, da sie schwer zuckerkrank ist’. Eine Halskette mit dem Buchstabenanhänger ‚G’ fehlte und ist seither verschwunden.

Als wir wieder zu mir nach Hause kamen, informierte ich sogleich Mirek und sagte ihm auch, dass ich erleichtert sei, weil Norbert keinen grundlosen Selbstmord begangen hatte.

Mirek aber reagierte sehr diesseitig: „Ich habe Angst. Große Angst.“

„Warum?“, fragte ich.

„Angst um dich. Hast du jetzt auch Aids? Habe ich jetzt auch Aids? Ich habe furchtbare Angst.“

So weit, an mich selber und an die weiteren Umstände zu denken, war ich noch nicht. Ich sagte daher nur kühl: „Ja, jetzt werden wir uns alle testen lassen müssen. Es ist halt einmal so, wer sich bei uns mit einem anderen einlässt, ist vor nichts sicher.“

Mein nächster Gedanke war, wo ich ab nun wohnen sollte. In meiner Wohnung zu bleiben, war mir unmöglich. Alles um mich herum erinnerte ununterbrochen an Norbert. Hysterische Angst begann sich in mir einzunisten. Ich rief Ernst in Mitterbach an. Der lud mich und Mirek ein, zu ihm an den Erlaufsee zu kommen, wenigstens über das Wochenende.

Ich informierte meine Sekretärin. Nachdem ihr Entsetzen abgeklungen war, fasste die Ordnung in ihr Fuß. Sie sah in der Betriebsordnung der Firma nach und stellte fest, dass mir als Lebensgefährten drei Tage Sonderurlaub zustünden. Als Lebensgefährte durfte man gelten, wenn man mit der anderen Person mindestens fünf Jahre in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat. Sie riet mir aber ab, den Urlaub in Anspruch zu nehmen. Es hätte sicher ein ekelhaft süffisantes Echo gegeben, wenn ich als Mann aufgrund des Todes meines Lebensgefährten Sonderurlaub genommen hätte, der doch sonst nur ehrwürdigen und vor allem echten Witwen oder Witwern zustand. Zu anrüchig wäre alles, was damit zusammenhing, die Ableitungen, die Vermutungen, die daraus zu ziehenden Schlüsse, sicher dreckig, von bigotten Christlern gezogen. Ich beschloss, die Sache weitestgehend geheim abzuhandeln. Norbert hatte sich netterweise so umgebracht, dass nun ein Wochenende bevorstand. Ich fuhr mit Mirek an den Erlaufsee.

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