Träumen

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Ich bekomme einen Mantel. Er ist schön und passt, als ob er maßgeschneidert wäre.

Man möchte zu diesem Traum kommentieren: Alltäglicher geht es kaum noch – und dann könnte man den Traum beiseitelegen. Die Träumerin hat das nicht gemacht, weil, so erzählte sie im Gespräch über diesen Traum, sie dieses Symbol innerlich sehr angesprochen habe. Sie habe im Traum ein spürbares Gefühl des Schutzes und der Geborgenheit unter diesem Mantel empfunden und fand ihn von der Aufmachung her auch schön. Sie habe in ihrer Kindheit viel innere Einsamkeit und Ungeschütztheit erlebt. Mehrere Wochen nach dem Traumgespräch telefonierten wir noch einmal. In diesem Gespräch kam die Träumerin noch einmal auf ihren Traum vom Mantel zu sprechen. Sie sagte, dass sie dieses Gefühl des Schutzes noch weiterhin habe. Sie könne die Geborgenheit in Gottes Gegenwart vor dem Hintergrund dieses Traumes für sich immer wieder fassen und innerlich erleben. In dieser Wirkung des Traumes wurde eindrücklich der über die Alltäglichkeit hinausgehende im Unbewussten begründete Zusammenhang greifbar.

– Außerdem sind Traumbilder eine Sprache der Gefühle. Der Traum transformiert Emotionen und Stimmungen, Konfliktherde und positive Gefühle in sinnliche Wahrnehmungen, in Ereignisse in der Außenwelt. Unsere tiefsten Empfindungen werden im Traum bildhaft zur Sprache gebracht. Das führt im Erleben der Träume dazu, dass diese Bilder die Träumer immer wieder mit emotionaler Intensität erfassen. Die Aufladung mit einem hohen Gefühlswert wirkt nicht selten faszinierend auf das Bewusstsein. In der Symbolsprache der Träume sind die dominierenden Kategorien Intensität und assoziative Bildgestaltung, nicht Raum und Zeit.

Im eingangs erwähnten Traum kann man sich das Symbol als Sprache der Gefühle am Bild des grünen Netzes vor Augen führen: Die Träumerin könnte sich in die Bäume, Sträucher und Pflanzen unter dem Netz hineindenken. Oder sie könnte sich in ihrer Vorstellung selbst unter das Netz begeben. So kann sie erfassen, welches Gefühl für ihre Seele mit dem Leben unter ihrem inneren Netz verbunden ist. Hier kann sich für sie der Zugang zur Bedrückung oder Lebensverengung öffnen. Das alles theoretisch vermitteln zu wollen, würde notwendigerweise blass und abstrakt bleiben. Das Bild des Netzes ist sehr gefühlsbeladen, obwohl es beim ersten Betrachten nicht so erscheint.

– Traumsymbole haben eine individuelle Bedeutung. Immer wieder ist versucht worden, den Symbolen einen überindividuellen Sinn abzugewinnen. Als Beispiel dafür will ich Ausführungen von Leon Altmann nennen, der sich als Schüler Freuds versteht: „Wasser, insbesondere Eintauchen, bedeutet immer Schwangerschaft und Geburt. Gleichzeitig hat Wasser und alles, was fließt, eine orale Bedeutung und ist unmittelbar mit Fantasien und Erlebnissen des Urinierens verbunden. Die Heimsuchung durch Würmer und Insekten bedeutet Samen und Schwängerung. Schlaf, Schweigen, in die Erde steigen, an Größe verlieren, Reisen (besonders westwärts) und in einer Nebelhülle verschwinden sind alles symbolische Varianten des Todes. … Körperteile und -zonen entlehnen ihre Symbolisierung der Natur: Landschaften, Berge, Hügel, Täler, Wälder und blühende Gärten kommen oft vor. Höhlen erinnern an Körperhöhlen; Simse und Überhänge in Architektur und Natur, ebenso Schwestern und Früchte, stehen für Brüste. Alle Gegenstände mit Spalten oder solche, in die man eindringen kann, symbolisieren die weiblichen Genitalien. Das Hufeisen stellt ihre Form, Juwelen ihren Wert dar. Muscheln und der Mund sprechen für sich. Öfen und Schränke bedeuten mehr den Uterus als die Vagina. Gehölz und Unterwäsche stehen für die Genitalien ganz allgemein. Treppen, Leitern, Flure und Tunnels kommen im Traum oft für die weiblichen Genitalien vor.“21 Lässt man diese Zeilen auf sich wirken, so wird man hier von einer ins Gesetzliche gehenden Generalisierung in der Deutung von Traumsymbolen sprechen müssen. Vergleichbare Symboldeutung findet sich leider auch in christlichem Kontext; das wird in Abschnitt 6.4.7 angesprochen. Bei einem solchen Umgang mit Symbolen werden diese zu einer Allegorie, bei der einem Element der Bildebene eine willkürliche Bedeutung auf der Übertragungsseite zugeordnet wird, die keinen inneren Zusammenhang mit der Bildebene erkennen lässt.

Demgegenüber halte ich es für angemessener, Traumsymbole in erster Linie auf eine individuelle Bedeutung für die Träumenden „abzuklopfen“. Symbole sind subjektiv, weil sich ihre Bedeutung in den Träumen je nach Kontext und individuellen Kombinationen verändert. Jeder Traum ist eine einmalige Schöpfung. Wer bei sich selbst oder in der Begleitung anderer die Möglichkeit hat, mehrere Träume zu bearbeiten, wird feststellen, dass jeder Träumer seine Bilder, seine Symbole darlegt, die in seinen Träumen häufiger erscheinen. Man kann hierbei von einer Art seelischem Fingerabdruck in den Traumsymbolen einer Person sprechen. Allein deshalb dürfen Träumer der Deutungsmacht ihrer Träume mit ihren individuell konnotierten Symbolen nicht beraubt werden. Sehr ausgewogen urteilt Ulrich Kühn: „Der subjektive Sinn, die individuelle Deutung des Träumers geht jeder Art von Fremddeutung oder Zuschreibung voraus. … Gleichwohl kann ein Traumsymbol auch eine überindividuelle Bedeutung erlangen. Als ein sehr typisches Beispiel gilt das Traumsymbol ‚Kind‘.“22

In der Praxis wird sowohl der Ratsuchende als auch der Begleitende von den jeweiligen Symbolen ausgehend assoziieren und deuten. Der Begleiter hat bei der Deutung die größere Erfahrung und die Freiheit von Widerständen voraus, der Ratsuchende seine besondere Nähe zum eigenen Traum. Für die Erschließung der Bedeutung eines Symbols ist es hilfreich, sich seinen bildhaften Aspekt bewusst zu machen.

Ich füge nun noch einige Träume an, durch die das zu den Symbolen Gesagte exemplarisch erweitert und vertieft wird. – Ein häufig in Träumen erscheinendes Symbol ist das Haus. Eine Träumerin, aus deren Traum ich hier einen Ausschnitt aufnehme, erzählt:

Ich verkaufe unser Haus an zwei junge Männer. Ich frage, wie alt sie sind. Ich schätze sie ungefähr so alt wie unsere Kinder und erwähne ihr Alter. Sie sind 30 und 44 Jahre alt … Der Garten ist noch nicht angelegt und so rutschen sie den großen Berg Erde aus der ersten Etage herunter, wie es früher unser Sohn tat. Durch große Schlammlöcher laufen sie, und es stört sie nicht, sie genießen es eher.

Die Träumerin war in der Realität dabei, das im Traum erscheinende Haus zu renovieren. Im Traumgespräch sagte sie, dass sie die beiden jungen Männer im Traum sympathisch fand. Sie seien etwa so alt wie zwei ihrer eigenen Kinder. Ich stellte der Träumerin die Frage, wie es für sie wäre, dass sie im Traum ihr Haus verkaufen wollte. Sie sagte spontan und entschlossen: „Das würde ich nie machen!“ Ich wies sie darauf hin, dass sie im Traum gerade das gemacht habe. Diese auffallende Diskrepanz brachte sie ins Nachdenken. Ich gab der Träumerin die Anregung, dass ihr Haus ein Bild für ihre eigene Seele sein könne. Durch diesen Hinweis hatte sie ein Aha-Erlebnis: Sie hatte in den vor dem Traum liegenden Wochen ziemlich viel Arbeit mit der Renovierung ihres Hauses gehabt. Zusätzlich war sie noch durch die Krankheit eines engen Verwandten bis an ihre Grenzen gefordert. Durch das alles war sie strukturell überfordert. Sie hatte nicht mehr auf sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse geachtet. Sie stand in akuter Gefahr, ihre eigene Seele im Einsatz für andere und für die Renovierung ihres Hauses zu verkaufen. Die beiden Männer im Traum hatte sie nicht gekannt. Die Träumerin befremdete das Herunterrutschen der beiden im Schlamm; es war nicht sonderlich erwachsen, auch wenn diese Männer 30 und 44 Jahre alt waren. Wie wir weiter unten noch sehen werden, bietet es sich bei unbekannten Personen im Traum an, sie als Anteile der träumenden Person zu verstehen. Ich sagte der Träumerin, dass die beiden Männer für Anteile stehen könnten, die nicht wirklich verantwortlich sind. Außerdem spielten sie an Schlammlöchern, bei denen die Gefahr des Ausrutschens und Absinkens bestand. Der Träumerin wurde durch diesen Traum klar, dass sie ihr (Seelen-)Haus behalten und bewusster Verantwortung für sich übernehmen sollte.

Das Haus gehört auch zu den vielschichtigen und variablen Symbolen: Es kann als kleines, als großes oder als Hochhaus, als eigenes oder fremdes, als altes oder neues Haus usw. erscheinen. Die verschiedenen Möglichkeiten werden vom Unbewussten gestaltet und wollen im individuellen Bezug zur träumenden Person aufgenommen und bearbeitet werden.

– Zu den häufig im Traum erscheinenden Symbolen gehören auch Fahrzeuge. Ein Träumer erzählt:

Ich gehe mit anderen Leuten aus der Gemeinde zu einer Veranstaltung auf einem Hügel. Als ich oben am Hügel ankomme, sehe ich, dass zwei Autos, die beide mir gehören, auf der Straße vor dem gemeindlichen Versammlungsgebäude stehen. Das eine Auto ist ein Pkw, das andere ein Lastwagen. Ich frage mich, wie ich zwei Autos zugleich fahren kann. Ich rede mit einem befreundeten Kumpel. Er ist bereit, den Lastwagen zu fahren. Wir kommen dann auch wieder den Berg herunter. Dann spreche ich mit einer Tante von mir, die ich jedoch in der Realität nicht kenne. Sie sagt, dass sie beim Kauf von Autos für sich selbst und für ihre Familie immer eine Nummer kleiner nehmen würde. Sie macht das aus Sparsamkeitsgründen.

(Aus Platzgründen beschränke ich mich auf die zentralen Motive dieses Traums.)

Im Gespräch zeigt sich der Träumer besonders bewegt von den zwei Autos. Es war für ihn eine ihn beklemmende Überforderung, nun für zwei Autos verantwortlich zu sein. Wörtlich sagt er mit einem Unterton der Verzweiflung: „Das bekomme ich einfach nicht hin. Was soll ich da nur machen?“ Ich sage ihm, dass ein Auto ein Symbol für sein Ich sein könnte. Da steht ihm deutlich vor Augen, dass er sich immer wieder mit Entscheidungsschwierigkeiten herumschlägt; er erlebt diese Entscheidungssituationen als Dilemma. Der Träumer bekommt mit diesem Traum vor Augen geführt, was es heißt: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“ (Goethe). Außerdem ist der zweite Wagen ein Lastwagen. Ich frage den Träumer, wo er Lasten trägt. Er sagt, dass er gerne bei anderen mitträgt, wenn er etwas von deren Lasten mitbekommt. So zeigt der Traum ihm unmissverständlich, was die faktische Entscheidungsverweigerung mit seinem Leben macht: Sie zerreißt ihn.

 

Außerdem sprechen wir über die Haltung der Tante, was diese verkörpert: Sie wählt immer wieder für sich ein kleineres Auto, als eigentlich für sie oder für ihre Familie angemessen wäre. Ich frage den Träumer, wie er mit sich selbst umgeht. Er nimmt sich tendenziell anderen gegenüber mehr zurück, wenn es um seine eigene Position und seine eigenen Bedürfnisse geht. Ich weise ihn auch darauf hin, dass das sparsame kleinere Auto auch auf emotionale Sparsamkeit hinweisen könne. Da wird ihm bewusst, dass er seine Gefühle immer wieder sehr zurückhält. Außerdem fällt es ihm schwer, sich etwas zu gönnen, wenn es genuin um ihn selbst geht. Der zweite Teil des Traums lädt ihn ein, den Umgang mit sich selbst und mit anderen bewusster, offener und großzügiger zu gestalten, indem er seine Gefühle besser wahrnimmt und sie angemessen mitzuteilen lernt.

Fahrzeuge im Traum gehören auch zu den vielschichtigen, bedeutungsweiten Symbolen: Kleine oder große Autos, Lastwagen oder Bus, Fahrrad oder Zug – alle diese Fahrzeuge können sich mit ganz individuellen Hintergründen der Träumenden verbinden und somit eine ganz spezifisch eingefärbte Botschaft transportieren. Bei Autos kann die Frage fruchtbar sein, wer am Steuerrad sitzt. Wenn Bus oder Bahn im Traum auftauchen, kann die Frage für das Verständnis weiterhelfen, welche Rolle die Gemeinschaft mit anderen spielt. Bei Zug und Straßenbahn ist es naheliegend zu fragen, wie vorgezeichnet der Träumer seinen Weg lebt oder empfindet. Ein Fahrrad im Traum kann die Frage anregen, wie es dem Träumer damit geht, seinen eigenen Raum einzunehmen.

– Eine ganze Traumwelt öffnet sich mit den Symbolen von Tieren. Der nächste Traum ist ebenso kurz wie vielschichtig. Eine Träumerin bringt folgenden Traum:

Ein Krebs kommt auf mich zu. Ich nehme ihn in beide Hände und drehe ihm den Körper ab.

Im Traumgespräch fragte ich die Träumerin, welche Assoziationen sie zum Krebs habe. Sie sagte spontan: „Der zwickt einen, und das spürt man deutlich. Krebse sind für mich abstoßend.“ Außerdem sprachen wir darüber, dass Krebse sich häufig verkriechen. Ich regte an, dass sie sich dem Krebs, symbolisiert durch einen Stuhl, einmal gegenübersetzen solle. Auf diese Weise könne sie mit ihm ins Gespräch kommen. Der Gedanke daran stieß sie spontan eher ab, auf Zureden von mir ließ sie sich dann aber doch darauf ein. Das Gespräch zwischen der Träumerin und dem Krebs kam jedoch nur zögerlich in Gang, obwohl die Träumerin ansatzweise auf dem Stuhl des Krebses treffende Gedanken zu den Aggressionen äußerte. Sie stieß sich einfach zu sehr am Bild des Krebses.

Wir brachen den Dialog ab und gingen in die Reflexion. Ich fragte die Träumerin ganz direkt danach, wie es ihr mit ihren gesunden Aggressionen23 ergehe. Sie sagte ehrlich, dass sie sich ihrem Mann gegenüber lieber fügen würde. Es falle ihr schwer, zu ihren eigenen Gedanken über eine ihr wichtige Angelegenheit zu stehen und für sie einzutreten. Sie überließe dann „um des lieben Friedens willen“ die Entscheidung ihrem Mann. Ich sagte ihr, dass das für sie selbst und ihren Mann auf Dauer alles andere als förderlich wäre, wenn sie ihre gesunden Aggressionen an ihren Mann delegiere. Das leuchtete ihr ein. Sie erkannte durch ihren Traum: Ihre Seele hatte für ihre eigenen Aggressionen den Krebs gewählt, der sich tendenziell versteckt. Aber zugleich war der Krebs in ihrem Traum auf sie zugegangen; ihre gesunden Aggressionen wollten zu ihr kommen. Es war für ihr eigenes Leben nicht gut, wenn sie ihre eigenen Aggressionen vernichtete, ihnen „den Hals umdrehte“. Ihre Aggressionen warteten auf eine tiefere Integration.

Die Tierwelt bietet für die Traumsymbole einen beinahe unbegrenzten Fundus: Häufig tauchen Hunde auf, die den Träumer vor die Frage nach dem Umgang mit seiner triebhaft-ursprünglichen oder auch aggressiven Seite stellt. Löwe, Bär und Tiger können ebenfalls Fragen in Bezug auf mögliche Aggressionen des Träumers aufwerfen. Vögel können als Raubvögel auch den Blick auf die eigene Aggressivität oder als Singvögel den Blick auf die Gefühlswelt des Träumers lenken.

Um allerdings nicht durch die Hintertür doch wieder einer Deutungskasuistik zu verfallen, ist der Hinweis wichtig, dass die Assoziationen der träumenden Personen zu den in ihren Träumen erscheinenden Tieren entscheidend sind. Außerdem ist auch das Verhalten des jeweiligen Tieres im Traum sowie das szenische Umfeld für die Deutung zu beachten.

– Flugträume gehören bei nicht wenigen Träumern zum festen Repertoire. Eine Träumerin war von einem ihrer Flugträume befremdet. Sie erzählte:

Ich sitze auf einem Flugzeug, das sich im Flug befindet. Ich befinde mich vorne über dem Cockpit außen auf dem Rumpf. Hinter mir sitzen noch weitere Personen, aber ich sitze vorne allein. Ich denke mir, dass es die anderen hinter mir besser haben als ich allein vornedran. Eigentlich hätte ich gerne einen Griff zum Festhalten, aber ich habe leider keinen und fühle mich ängstlich. Dann landen wir auf einem Flugplatz. Als wir unten ankommen, machen mir die Leute, die uns auf dem Boden empfangen, Vorwürfe, dass ich so ängstlich gewesen sei.

Im Gespräch über den Traum fragte ich die Träumerin, was ihr zu diesem Traum einfalle. Sie sagte, dass es für sie sehr bedrohlich gewesen sei, ganz vorne – und das noch außen – auf dem Flugzeug zu sitzen. Und sie fühlte sich auf dem exponierten Platz vor allen anderen mitfliegenden Leuten sehr allein. Sie hatte den Eindruck, dass alle anderen sich in ihrem sicher dürftigen Schutz befanden. Im Gespräch wurde ihr gefühlsmäßig zugänglich, dass sie im Traum sehr ungeschützt war. In ihrem Leben fühlte sie sich bereits als Kind immer wieder von den Eltern zu wenig unterstützt und geschützt und hatte sich daran gewöhnt, sich in vielen Situationen allein durchzuschlagen. Außerdem wurde der Träumerin bewusst, dass sie keinen Griff auf ihrem Sitzplatz hatte. Sie versuchte immer wieder alles „im Griff“ zu haben. Sie bemerkte, dass ihr Traum diese sprichwörtliche Wendung in Szene gesetzt hatte.

Ich fragte die Träumerin, was ihr zum Fliegen im Traum einfalle. Sie hatte keine einschlägigen Assoziationen dazu, aber auch keine Angst vor dem Fliegen. Ich erwähnte ihr gegenüber, dass manchmal das Fliegen im Traum ein Bild sein könne für Abheben und ob ihr dazu etwas einfalle. Da meinte sie, dass sie immer wieder sehr hohe Ansprüche an sich selbst habe. In dieser Hinsicht wolle sie hoch hinaus. Aber das mache sie zuweilen abgehoben von der Realität und unterstütze das Gefühl des Alleinseins. Das trug in ihrem täglichen Leben zu ihrer Angst bei zu versagen.

Schließlich gingen wir im Gespräch auf den Schlussteil des Traums ein, der Landung auf dem Boden. Hier bekam sie im Traum Vorwürfe für ihre Angst. Die Träumerin stellte bei sich immer wieder eine Tendenz zur Selbstkritik fest. Sie begann zu verstehen, dass die Angst vor Überforderung, die ihr früher zugemutet wurde und die bis heute Teil ihres Lebens war, sehr wohl berechtigt war. Der Vorwurf im Traum – und in ihrem gegenwärtigen Leben – war und ist alles andere als hilfreich. Die Traumbotschaft konnte sie für sich mit der Einladung zusammenfassen, mehr zur Entspannung zu finden.

Flugträume können zwei grundlegende Bedeutungsrichtungen annehmen: Sie können die träumende Person auf der einen Seite darauf hinweisen, dass sie in irgendeinem Bereich abzuheben droht. Dann besteht die Einladung darin, auf guten Bodenkontakt der Seele zu achten. Flugträume können auf der anderen Seite aber auch ein erhebendes oder erfreuliches Gefühl symbolisch darstellen. Dann kann der Traum auf einen beflügelnden Lebenszusammenhang hinweisen.

4.2 Das innere Kind im Traum

Das sogenannte innere Kind ist thematisch eigentlich Teil des vorhergehenden Punktes über das Thema Symbole. Ich widme ihm aber einen eigenen Punkt, weil ich dieses Traummotiv für sehr hilfreich halte. Es taucht in vielen Träumen auf. Immer wieder kommen Träumende durch dieses Symbol an entscheidende Fragen ihres Gefühlslebens heran. Außerdem bieten meine Frau und ich Seelsorgegruppen zum Thema „Begegnung mit dem inneren Kind“ an. Sicher hängt es damit zusammen, dass uns sehr viele Träume im Umfeld dieser Thematik in der Traumarbeit erzählt werden.

Ich beginne dieses Thema wieder mit einem Traum. Eine Träumerin bringt, innerlich bewegt, folgenden Traum:

Mein Sohn soll ins Bett. Ich möchte ihn mit und in Ruhe ins Bett bringen, weil ich auch zeitiger ins Bett möchte. Aber er will nicht, rennt herum. Er möchte, dass ich Spendengelder für arme Kinder gebe. Er legt sein Spenden-Portemonnaie und eine Liste auf den Tisch und bettelt immer wieder um Geld. Ich verspreche, ihm am nächsten Morgen Geld zu geben, und lobe ihn für sein Engagement. Aber auf mein Bitten, ins Bett zu gehen, hört er überhaupt nicht. Ich habe im Traum einen Vortrag über Selbstfürsorge gehört und in meinem Herzen war ein so wohliges Gefühl nach meinem Gebet. Dieses Gefühl geht durch das Verhalten meines Sohnes verloren. Wütend hebe ich meinen Sohn hoch und knalle ihn auf den Fußboden. Sofort tut es mir leid und ich laufe zu ihm, aber er rennt um den Tisch herum. Meine Kraft verschwindet, während ich meinem Sohn hinterherrenne, zu schnell.

Im Traumgespräch wandten wir uns ausführlich ihrem Sohn mit seinem Verhalten zu. In der Erinnerung der Träumerin war er als Kind sehr umgänglich gewesen. Der Träumerin fiel auf, dass er im Traum sehr aufgedreht gewesen war. Ich wies sie darauf hin, dass ihr Sohn im Traum für ihr Inneres Kind stehe. Wir sprachen darüber, dass ein Kind sich vor allem in Situationen aufgedreht zeigt, in denen es nicht genügend Aufmerksamkeit erhält oder gelangweilt ist. Die Träumerin hatte selbst als Kind wenig Zuwendung erfahren. Als erwachsene Person lebte sie in ständiger Selbstbeherrschung. Das aufgedrehte Kind könne ein Schattenkindanteil sein. Das Kind hatte im Traum noch eine andere Seite: Es war anderen Bedürftigen gegenüber sehr zugewandt. Und das war eine Seite, die die Träumerin auch selbst deutlich ausgeprägt lebte. Sie selbst wandte sich anderen viel mehr zu als sich selbst. Ihr Sohn bettelte im Traum um Geld. Hier wurde angedeutet, dass die Zuwendung zu anderen mit Selbstwert verbunden war.

Die Träumerin lebte in einem lebendigen persönlichen Glauben. Sie wollte sich ihr wohliges Gefühl nach ihrem Gebet nicht nehmen lassen. Aber dann rastete sie im Traum richtig aus: Als ihr Sohn sich nicht fügte, behandelte sie ihn extrem gewalttätig. Sie war sich auch selbst gegenüber sehr ungeduldig. Hier wies der Traum in einem drastischen Bild darauf hin, dass ihr Glaube noch auf eine tiefere Verbindung mit ihrem verletzten inneren Kind wartete. Es tat ihr dann sehr leid, aber ihr inneres Kind rannte vor ihr davon. Sie erreichte es nicht; ihre Kraft schwand im Traum, bevor sie es ergreifen konnte. Der Traum lud sie mit der drastischen Szene ein, sich bewusst ihrem inneren Kind zuzuwenden. So konnte das Gegeneinander zwischen der erwachsenen Träumerin und ihrem inneren Kind zu einer Versöhnung umgestaltet werden.

Was ist mit dem inneren Kind gemeint?

Die Metapher des inneren Kindes hat sich in neuerer Zeit in verschiedenen therapeutischen Kontexten etabliert.24 Sie geht davon aus, dass in jedem Menschen zwei Persönlichkeitsaspekte unterschieden werden können, den Erwachsenen und das innere Kind. Der Erwachsene steht für das Denken und Handeln. Das innere Kind repräsentiert das Fühlen, Erleben und Sein, die kreative und intuitive Seite, und schließlich auch unsere instinktive Seite, die mit unserem Bauchgefühl zu tun hat. Im inneren Kind sind die Erfahrungen, Erinnerungen und Gefühle der Kindheit gespeichert.

Für die persönliche Entwicklung eines Menschen ist die Beziehung zwischen dem Erwachsenen und dem inneren Kind entscheidend: Der Erwachsene kann sich für sein inneres Kind interessieren und so zu seiner positiven Entwicklung beitragen. In diesem Fall übernimmt der Erwachsene Verantwortung für sein inneres Kind. Hierfür kann man auch die Bezeichnung „liebevoller Erwachsener“ finden. Der innere Erwachsene kann das innere Kind aber auch vernachlässigen oder abwerten und so zu seiner Verkümmerung beitragen. Ein solches Verhalten des Erwachsenen ist eine Form von Verantwortungslosigkeit gegenüber dem inneren Kind. Dafür kann die Bezeichnung „liebloser Erwachsener“ verwendet werden.

 

Diese Zusammenhänge zeigen sich in vielfältigen Variationen auch in Träumen: Im Abschnitt über die Symbole haben wir gesehen, dass die Symbole als eine Sprache der Gefühle bezeichnet werden können. Das gilt zentral für Träume, in denen Kinder oder Jugendliche auftauchen. Man kann als Faustregel festhalten: Kinder im Traum stehen für Gefühle. An ihrem Ergehen und am Umgang mit ihnen im Traum lässt sich meistens etwas über das Verhältnis der träumenden Person zu ihren Gefühlen ablesen.

Das Kind-Symbol kann im Traum für Rückschritt in der psychischen Entwicklung oder für Fortschritt im Sinne der Entfaltung stehen. Es kann Infantilisierung oder Reifung anzeigen. Es kann Erfahrungen in der Kindheit darstellen und damit für Regression stehen. Es kann auch auf das Kindliche in der träumenden Person hinweisen, das verschüttet und verloren gegangen oder gerade am Entstehen ist. Je nach Kontext innerhalb des Traumes kann es auch eine nicht mehr altersgemäße, kindische Verhaltensweise anzeigen. Schwangerschaft oder ein neugeborenes Kind deutet häufig auf etwas Neues hin, auf ein Zukunfts- und Entwicklungspotenzial.

Dann können Altersangaben in Traumszenen hinzukommen: Wenn jemand z. B. von einem zehnjährigen Kind träumt, kann sich die träumende Person fragen, ob vor zehn Jahren ein neuer Prozess für ihn begonnen hat. Das kann von einem neuen Beruf über eine neue Beziehung, die damals begann, bis zu einer verletzenden Erfahrung gehen. Wenn sich unter dieser Fragestellung kein Aha-Erlebnis ergibt, kann es auch sinnvoll sein zu fragen, was er aus seinem Leben als Zehnjähriger erinnern kann. Es ist dann empfehlenswert, den Träumer anzuregen, sich an das damalige Lebensgefühl zu erinnern. Ein kleines Kind im Traum kann auf eine große Abhängigkeit von Erwachsenen hinweisen oder auf eine ursprüngliche Lebendigkeit im Träumenden. Jugendliche im Traum können auf wachsende Selbstständigkeit oder auf pubertäre Seiten im Träumenden hinweisen. Manchmal bedarf es einer Kreativität in der Fragestellung an den Traum, die der Kreativität des Unbewussten entgegenkommt.

Für viele Träume, in denen Kinder erscheinen, mag das gelten, was Anselm Grün sagt: „Träume von Kindern verkünden immer eine frohe Botschaft. In uns wächst Neues heran, und neue Lebendigkeit bricht sich durch die alte Starre hindurch.“25 Die Frage muss offenbleiben, ob dieses „immer“ im Zitat wirklich lückenlos auf alle möglichen Traumkonstellationen zutrifft. Welcher Aspekt der Vielschichtigkeit dieses Symbols im konkreten Traum zum Ausdruck gebracht wird, will in seiner Einmaligkeit jeweils neu erschlossen werden.

Ich bringe nun einige weitere Beispiele, in denen die dargelegten Zusammenhänge zum Kind-Symbol in Träumen anschaulich werden sollen: In einer Gemeinschaft hielt meine Frau und ich eine Lehreinheit zum Thema „Inneres Kind“. Wir verbrachten eine Nacht in dieser Gemeinschaft, weil wir am nächsten Vormittag noch eine Lehreinheit halten wollten. Darin gaben wir den Teilnehmenden Raum, ihre Träume aus der zurückliegenden Nacht einzubringen. Eine Teilnehmerin träumte:

Ich habe mein verlorenes Kind wiedergefunden. M. brachte es zu uns nach Hause.

Im Austausch über diesen Traum teilte die Träumerin mit, dass M. eine verstorbene Schwester ihrer Gemeinschaft war, die lange in der Kinderbetreuung gearbeitet hatte. Sie hatte sich fürsorglich um Kinder gekümmert. Die Träumerin war von den Ausführungen zum inneren Kind am Vortag angesprochen und wollte die Beziehung zu dieser Seite in ihr selbst bewusst aufgreifen. Ihre Entscheidung zu einer bewussteren Selbstfürsorge hat ihr Unbewusstes so aufgegriffen, dass M. ihr im Traum ihr eigenes verlorenes Kind nach Hause brachte.

Dieser Traum ist ein sprechendes Beispiel für die Kontinuitätshypothese: Diese besagt, dass der Traum Ereignisse des Wachbewusstseins aufgreift. Dabei werden keine Themen aufgegriffen, die für die Seele irrelevant sind. Vielmehr verarbeitet der Traum das, was für den Träumer emotional und existenziell bedeutsam ist.

Immer wieder kommt es vor, dass sich Träume derselben Person wechselseitig ergänzen und in ihrer Aussage verstärken. Das ist bei den nächsten beiden wiedergegebenen Träumen der Fall, die im Abstand von wenigen Wochen geträumt wurden:

Es geht um eine Hochzeit, die aber nicht zustande kommt. Ich muss immerzu Fragen beantworten und mein inneres Kind schreit ganz laut. Anschließend wechselt die Szene zwischen Hochzeitsvorbereitung und Entbindung.

Ich arbeite im Kreißsaal. Eine Frau liegt zur Entbindung im Kreißsaal. Wir wollen die Fruchtblase öffnen. Ich beginne, das Bett umzubauen, die Beinstützen anzubringen. Da bekomme ich auf einmal von der Ärztin ein Neugeborenes in den Arm gelegt. Das Baby krabbelt über meine Schulter. Ich muss doch noch die Frau lagern. Das Baby kann ich kaum bändigen, und die Frau liegt verkehrt herum im Bett und muss umgedreht werden. Das gelingt gut. Das Baby macht mich fertig. Es krabbelt ständig über meine Schulter.

Der erste Traum hinterließ in der Träumerin den Eindruck, dass Hochzeit und inneres Kind negativ korreliert waren. Im Gespräch über den Traum frage ich sie, ob sie in letzter oder nächster Zeit mit einer Hochzeit zu tun habe. Dazu fiel ihr nichts ein. Wir sprachen darüber, dass Hochzeit ein Bild sein könne, dass die männliche und weibliche Seite in ihr zusammenkommen wollen. Im Traum kam es jedoch nicht zur Hochzeit, weil sich das innere Kind laut schreiend meldete. Am Ende des Traums kam noch eine Entbindung dazu, die die Hochzeitsvorbereitung unterbrach.

Der zweite Traum begann mit der Entbindung einer Frau im Kreißsaal. Die Träumerin kannte die Frau im Traum in der Realität nicht. Im Gespräch über diesen Traum sprachen wir zuerst darüber, dass die Entbindung im Traum darauf hinweist, dass in der Träumerin neues Leben am Erscheinen war: Das Kind der Frau sollte zur Welt kommen. Die Vorbereitungen für die Geburt waren zwar etwas mühsam, aber sie gelangen. Dann sprachen wir über das bereits geborene Kind, das eine Ärztin der Träumerin übergab. Sie selbst war von Beruf Geburtshelferin und hatte eine gewisse „ärztliche Kompetenz“. Aber das bereits geborene Kind, das ihr am nächsten war, nervte sie am meisten. Der Traum brachte der Träumerin nahe, wie es um ihre Beziehung zu ihrem inneren Kind bestellt war: Das innere Kind wolle mit ihr in Kontakt kommen und deshalb nerve es so eindringlich. Wenn das geschehe, könnten auch ihre männliche und weibliche Seite mehr zusammenfinden.

Der folgende Traum führt bildhaft vor Augen, wie die Einstellung des Erwachsenen das innere Kind (bzw. die inneren Kinder) dominieren kann:

Ich sehe eine Familie. In der Familie wird festgestellt, dass es Läuse gibt. Die Läuse breiten sich aus. Es wird deutlich, dass sich diese Läuse von den Erwachsenen auf die Kinder ausbreiten.

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