Читать книгу: «Der Kunstreiter, 1. Band», страница 5
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Eine volle Woche war nach der gepflogenen Unterredung der beiden Brüder verflossen, und der Rittmeister hatte in der ganzen Zeit nichts weiter von Georg gehört. Nur die Stadt beschäftigte sich indessen mehr und mehr mit dem beabsichtigten Seiltanz zwischen den beiden Türmen, je mehr das Ende der Messe heranrückte; wußte man doch, daß die Erlaubnis dazu erteilt worden, und trotzdem spannte sich kein Seil auf jener Höhe, und nichts verriet, daß es überhaupt noch beabsichtigt werde. War es nur Prahlerei von dem Kunstreiter gewesen, das Publikum neugierig zu machen? Graf Geyerstein kannte den Grund und dankte Gott in seinem Herzen dafür; aber trotzdem beunruhigte ihn dieses Schweigen, und er hatte schon beschlossen, den Bruder heute in seiner eigenen Wohnung aufzusuchen, als sein Bursche ihm meldete, ein junger Herr sei draußen und wünsche ihn zu sprechen. Zugleich überreichte er dem Rittmeister die nämliche, mit seiner Adresse beschriebene Karte, die er damals in der Wohnung Monsieur Bertrands hinterlassen hatte.
»Ein junger Herr?« fragte der Rittmeister erstaunt, die Karte neben sich auf den Tisch werfend.
»Blutjung,« bestätigte Karl, »sieht auch ein wenig lustig aus, als ob er mit zu der – Sie wissen schon – zu der Reiterbande gehörte.«
»Es ist gut – laß ihn eintreten. Du störst uns indessen nicht, hörst du?«
»Zu Befehl, Herr Rittmeister,« erwiderte mit militärischem Takt der Bursche und verschwand aus der Türe, um im nächsten Augenblick den angekündigten Besuch hereinzulassen.
Graf von Geyerstein sah einen jungen, sehr elegant gekleideten Mann zu sich eintreten, mit vollen, schwarzen Locken und kleinem, leicht aufgedrehtem Schnurrbart, der erst jetzt, bereits in der Tür, seinen schwarzen, breiträndigen Filzhut abnahm. Das Gesicht desselben kam ihm allerdings bekannt vor, er konnte sich aber doch nicht entsinnen, wo er ihm schon begegnet wäre, und der Fremde machte dabei eine mehr formelle und tiefe Verbeugung, bis Karl die Türe wieder hinter sich ins Schloß gedrückt hatte.
»Was steht zu Ihren Diensten?« fragte der Rittmeister gespannt.
»Herr Graf,« erwiderte der Fremde, indem er einen Blick zurück nach der Türe warf, »ich schätze mich unendlich glücklich, daß Sie mir vergönnt haben – wir sind doch einen Augenblick ungestört?«
»Und zu welchem Zwecke, wenn ich fragen darf?«
»Sie kennen mich nicht mehr?« lachte der Fremde, und die Stimme klang dem Rittmeister jetzt ganz anders – viel weicher als vorher.
»Ich muß in der Tat gestehen…« sagte dieser.
»Also ist die Verkleidung gelungen?« lachte plötzlich der junge Mann, und mit einem Griff nach dem Munde stand er ohne Schnurrbart vor dem dadurch allerdings überraschten Grafen.
»Madame Bertrand!« rief dieser aber auch im nächsten Augenblicke erstaunt aus.
»Bst – nicht so laut!« warnte die mutwillige junge Frau, indem sie dem Grafen lachend mit dem Finger drohte. »Ihr Bursche braucht gerade nicht mit in das Geheimnis gezogen zu werden.«
»Aber was, um Gotteswillen, hat Sie bewegen können…«
»In Verkleidung zu Ihnen zu kommen?« unterbrach ihn die Schöne. – »In anderer Weise konnte ich Ihnen keinen Gegenbesuch abstatten, ohne sämtlichen Kaffeegesellschaften der Residenz auf wenigstens drei Wochen Stoff zur Unterhaltung zu liefern. Die Verkleidung schlägt aber in meinen Beruf, und daß ich geschickt darin bin, hab' ich Ihnen, glaub' ich, bewiesen. Doch Scherz beiseite,« setzte sie plötzlich, ernster werdend, hinzu, »ich mußte Sie sprechen, und da Sie uns nicht mehr mit Ihrem Besuche beehrten, so blieb mir keine andere Wahl, als Sie aufzusuchen. Das Resultat sehen Sie vor sich.«
»Und haben Sie nicht bedacht, welchen Mißdeutungen Sie sich durch einen solchen Schritt aussetzen?« sagte der Graf ernst.
Die junge, schöne Frau warf den Kopf mit einem halb spöttischen, halb verdrießlichen Lächeln zur Seite.
»Von dem Rittmeister eines Kürassierregiments hatte ich allerdings einen anderen Empfang erwartet,« lächelte sie dabei, »als eine ernste Strafpredigt und Ermahnung. Doch wie dem auch sei, mein Herr Graf, ich bin einmal da, und Sie werden mich hoffentlich nicht wieder fortschicken, ohne mich wenigstens zu hören.«
Graf von Geyerstein war in peinlicher Verlegenheit, aber allerdings blieb ihm hier keine andere Wahl, als die Dame eben gewähren zu lassen, und er bat sie artig, dann wenigstens auf dem Sofa Platz zu nehmen. Er selber rückte sich einen Stuhl zum Tisch und wollte sich eben darauf niederlassen, als Madame Bertrand lachend sagte: »Selbst das kann ich Ihnen nicht gestatten, – Sie müssen sich zu mir auf das Sofa setzen, denn was ich Ihnen zu sagen habe, möchte ich eben nicht laut schreien. Fürchten Sie sich vor mir?«
Ihr dunkles Auge brannte ihm dabei entgegen, und der Graf sagte artig: »Ich unterschätze wenigstens die Gefahr nicht – aber wie Sie wollen. Und welcher Ursache verdanke ich jetzt die Ehre dieses so – unverhofften Besuches?«
»Ich danke Ihnen, daß Sie kein härteres Wort dafür gebrauchten,« sagte die schöne Frau, »aber ein eigentümlicher Grund ist es in der Tat, der mich zu Ihnen führt, und zwar kein geringerer als – mein Mann.«
»Monsieur Bertrand?«
»Derselbe. Seit dem Besuch bei Ihnen, Herr Graf, kenne ich ihn nicht mehr. Er ist vollständig ein anderer Mensch geworden: trüb, ineinander gebrochen, zurückhaltend, scheu und – das Schlimmste für ihn und uns alle – verzagt. Die Zeit über habe ich es auch ertragen und geglaubt, er selber würde es mir endlich gestehen, was ihn drückt, denn drücken muß ihn etwas – etwas muß ihm auf der Seele liegen, das den sonst so kräftigen, elastischen Geist mit eiserner Schwere darniederhält; aber er bleibt stumm, und ich bin fest überzeugt, niemand kann mir darüber Auskunft geben als Sie.«
»Aber welchen Einfluß könnte ich auf ihn ausgeübt haben?« sagte der Graf, der nichts weniger wünschte, als mit des Bruders Gattin in diesem Augenblicke den Seelenzustand desselben zu besprechen.
»Das ist auch mir rätselhaft,« erwiderte die Frau, indem sie ihm fest und forschend ins Auge sah, »denn ich hatte bis jetzt nicht geglaubt, daß irgend ein Mensch imstande sei, den tollkühnen, vor nichts zurückschreckenden Bertrand zu zähmen. Aber zahm ist er geworden, seit er Sie gesprochen.«
»Wir haben uns allerdings nur über sehr zahme und alltägliche Sachen unterhalten,« lächelte der Rittmeister. »Ist aber wirklich eine Verwandlung in seinem Charakter, sich einer ruhigen Richtung zuzuwenden eingetreten, so mag er die vielleicht schon früher gefaßt haben; warum soll ich die Schuld deshalb tragen? – wäre überdies eine Schuld dabei? Sie selber haben doch gewiß auch schon manchmal an die Zukunft für sich, für Ihre Tochter gedacht, und können doch nur wünschen, diese gesichert zu sehen.«
»Allerdings habe ich das!« rief Georgine, und ihre ganze Gestalt hob sich dabei, ihr Auge blitzte. »Josefine soll und muß die gefeiertste Reiterin Europas werden.«
»Und Sie selber? – wenn Sie einmal altern?«
»Die Zeit liegt noch fern,« sagte die junge schöne Frau, indem ein leichtes trotziges Lächeln ihre Lippen umspielte, »und an eine Zukunft für mich habe ich noch nie gedacht.«
»Und könnten Sie sich nicht glücklich fühlen, wenn Sie Ihren Gatten in einem ruhigen Leben glücklich wüßten?« fragte Graf Geyerstein, mit weit mehr Herzlichkeit im Ton, als er bisher gezeigt.
Georgine lachte laut auf. – »Der moralische Ton steht Ihnen prächtig,« rief sie dabei. »Wenn Sie sich nur selber sehen könnten, Herr Rittmeister – aber« unterbrach sie sich plötzlich und fuhr fast erschreckt empor, »liegt Ihren Worten etwa ein tieferer Sinn zugrunde? – Wenn ich mir alles zusammenreime, was Georg in den letzten Tagen gesprochen, auf was er hingedeutet hat – auch seinen unterlassenen Seiltanz, zu dem er schon am Montag die Erlaubnis bekam…«
»Ich freue mich recht von Herzen, daß er ihn unterlassen hat,« sagte der Rittmeister ruhig, »diese halsbrechenden Künste sind so undankbar für den Exekutierenden, wie peinlich für die Zuschauer, und Sie selber sollten froh sein, Ihren Gatten von einer Gefahr abstehen zu sehen, der er doch einmal über kurz oder lang erliegen könnte.«
»Gefahr!« rief das schöne Weib verächtlich, »wär' ich noch Georgine Bertrand, wenn ich vor einer Gefahr zurückschrecken wollte? und glauben Sie, daß Georg etwas fürchtet auf der Welt! Nein, das ist es nicht; eine andere Ursache liegt seinem jetzigen Benehmen zugrunde, und nur bei Ihnen, Herr Graf, kann ich die Lösung finden.«
»Und wenn Sie sich dennoch darin irren sollten?«
»Sie haben mir von einer Aehnlichkeit gesagt, die Sie zuerst zu uns geführt!« flüsterte da Georgine, und ihre Augen bohrten sich in die Augen des Grafen, welcher fühlte, wie ihm das verräterische Blut in die Schläfe stieg, aber seine Züge blieben kalt und fest, und er erwiderte ruhig: »Allerdings, Madame, die Aehnlichkeit mit einem Jugendfreunde, nicht allein im Antlitz, nein, auch selber im Namen; es war aber ein Irrtum. Schon als ich Herrn Bertrand ganz in der Nähe sah, fand ich das.«
»Sie täuschen mich nicht, Herr Graf!« rief Georgine, seinen Arm ergreifend. »Georg ist ein anderer, als er sich mir gegeben, und die Wahrheit soll jetzt selbst seinem Weibe Geheimnis bleiben.«
»Wenn Herr Bertrand ein Geheimnis vor Ihnen hat, Madame,« sagte der Rittmeister artig, aber ernst, »so ist es nicht meine Sache, das zu lüften, selbst wenn ich darum wüßte.«
»So geben Sie mir Ihr Wort als Kavalier –«
»Halt, Madame,« unterbrach der Graf sie kalt, »Sie gehen zu weit. Ich habe Herrn Bertrand allerdings an jenem Morgen gesehen, aber seit der Zeit nicht wieder, weiß deshalb auch nicht, was seine Pläne sind. Was wir damals miteinander gesprochen, deutete wohl darauf hin, daß er dieses wilden, wüsten Lebens überdrüssig sei; wenn dem aber wirklich so wäre, würde ich nur mit Freuden die Hand dazu bieten, ihm einen solchen Plan ausführen zu helfen.«
»Sie?« rief Georgine erstaunt, »und welches Interesse könnten Sie, Graf von Geyerstein, an dem Kunstreiter nehmen, wenn nicht ein besonderer Beweggrund Sie dabei leitete? Sie verschweigen mir, was ich als Georgs Weib erfahren müßte, was ich erfahren will, und gönnen Sie mir nicht gutwillig oder erzwungen Ihr Vertrauen, so seien Sie fest versichert, daß ich Ihre Pläne kreuze.«
»Madame Bertrand –«
»Das ist mein offenes Wort,« rief die Frau, »und Krieg oder Friede liegt jetzt in Ihrer Hand.«
Der Graf schüttelte ernst mit dem Kopfe. »Sie irren sich, schöne Frau,« sagte er, »und würden selbst in dem Falle, daß Sie recht hätten, einen schweren, nie wieder gut zu machenden Fehler begehen.«
»Wie so, ich?«
»Daß Sie einen Fremden zum Mittelsmann Ihres häuslichen Friedens machen wollen.«
»Häuslichen Friedens?« rief aber die kecke Reiterin mit spöttischem Lachen, »denken Sie sich unser Leben nicht so idyllisch, Herr Rittmeister. Nicht für die Häuslichkeit sind wir bestimmt oder darauf angewiesen, und die Gesetze, die bei anderen Frauen vielleicht gelten mögen, halten deshalb auch bei mir nicht Stich. Mein Mann und ich haben uns überdies schon lange darüber verständigt, jedes von uns seine eigene, für sich abgeschlossene Bahn zu gehen. Vereinigen sich diese von selber, desto besser; tun sie es nicht, so ist jedes selbständig genug, die eigene zu verfolgen.«
»Und Ihr Kind?«
»Josefine? die allerdings folgt der meinen, wenn ihr Vater derselben abtrünnig werden sollte,« rief Georgine, und der forschende Blick, mit dem sie bei diesen Worten den Grafen betrachtete, sagte diesem, daß sie den Eindruck beobachten wollte, den sie machten. Graf von Geyerstein verriet aber durch keinen Zug, welchen Anteil er an dem eben Gehörten nahm. Wohl schien es, als ob er etwas darauf erwidern wollte; er überlegte sich aber bald, daß ein Drängen von seiner Seite die Frau nur noch mißtrauischer, ja auch neugieriger machen müßte, und kurz abbrechend sagte er nur: »Es ist das ein unerquickliches Gespräch für uns beide, Madame, und kann zu keinem Resultat führen. Ich stehe Ihren Familienangelegenheiten auch zu fern, um eine Einmischung in solche zu beanspruchen, selbst wenn sie von dem einen oder dem anderen Teile angenommen werden sollte. Machen Sie das, falls er nicht Ihrer Meinung sein sollte, mit Ihrem Gatten ab. Kann ich Ihnen in irgend sonst etwas dienen, so verfügen Sie frei über mich.«
»Sie sind sehr gnädig, Herr Graf,« lachte die junge Frau, »aber so bald und so leichten Kaufes werden Sie mich noch nicht los.«
»Ich habe mich selber erboten…«
»Ich weiß es schon und bin Ihnen sehr dankbar dafür – in allem mir gefällig zu sein – nur in dem nicht, was mich hierher geführt.«
»Und das ist?«
»Zu erfahren, in welcher Beziehung Sie zu meinem Gatten stehen, – den Beweggrund kennen zu lernen, der Sie leiten konnte, sich für den Kunstreiter zu interessieren und auf ihn einzuwirken.«
Wolf war aufgestanden und trat zum Fenster; er kämpfte augenscheinlich mit einem Entschluß, und Georgine fühlte es, denn sie unterbrach ihn nicht. »Madame,« sagte er endlich, zu Georginen zurückkehrend, »ich sehe eigentlich keinen Grund, Ihnen, da Sie auf diese Weise in mich dringen, länger zu verheimlichen, daß ich mich allerdings in der Aehnlichkeit mit Ihrem Gatten nicht getäuscht. Ich habe in ihm einen meiner früheren Jugendgespielen erkannt, aber das Geheimnis ist nicht mein eigenes, es gehört seiner Familie, und der gegenüber stehe ich nur als Mittelsmann zwischen ihr und Herrn Bertrand.«
»Also doch ein Geheimnis,« lachte Georgine bitter vor sich hin, »ein Geheimnis, Frau und Kind um ihre Existenz zu betrügen.«
»Nennen Sie das um Ihre Existenz betrügen, Madame, wenn man Ihnen die Aussicht gibt, sich eine unabhängige und ehrenvolle Stellung im bürgerlichen Leben zu sichern?« sagte der Graf.
»Und ist unsere Stellung nicht unabhängig – nicht ehrenvoll?« rief Georgine gereizt.
»Lassen Sie uns abbrechen?« bat Wolf von Geyerstein, dem das Gespräch schon lange peinlich war. »Das ist eine Sache, die Sie mit Ihrem Gatten weit besser beraten können als mit mir, die Sie nur allein mit ihm beraten müssen. Wenn ich Ihnen die Versicherung gäbe, daß ich selber den wärmsten Anteil an Ihrem Schicksale nehme, glaubten Sie mir vielleicht das nicht einmal.«
»Nein,« sagte Georgine finster, »nicht eher, als bis Sie mir auch den wahren Grund dafür sagen würden. Glauben Sie mir, Herr Graf, daß wir da nur zu bittere Erfahrungen mit solcher Teilnahme machen. Aber ich fühle, daß Ihnen unsere Unterredung nicht länger angenehm ist.«
»Madame Bertrand.«
»Bitte, – keine Komplimente zwischen uns. Ich bin wahr und offen gegen Sie gewesen – ohne dasselbe bei Ihnen erzielt zu haben. Ich will nicht zudringlich sein. – Entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe.«
Sie war aufgestanden und wandte sich zur Tür, als sich diese in dem nämlichen Augenblick öffnete und ein fremder Bedienter in grauer Livree den Kopf hereinsteckte.
»Was wollen Sie, und wer hat Ihnen erlaubt, hier einzutreten?« rief ihm der Graf finster entgegen.
»Bitte tausendmal um Entschuldigung, Herr Rittmeister,« sagte der Bursche, den Blick dabei aber auf den Fremden geheftet, »ich habe zweimal geklopft und konnte Ihren Karl nirgends draußen finden.«
»Warten Sie dann draußen, bis er kommt oder bis ich Zeit habe,« lautete die eben nicht freundliche Antwort, und der Bursche verschwand mit einer tiefen Verbeugung, wie er gekommen.
Der Rittmeister hielt den Blick auf die Tür geheftet, aber er hörte keinen Schritt. Der Bediente stand jedenfalls noch vor der Türe und horchte. Madame Bertrand hatte aber indessen wieder mit großer Geschicklichkeit, den benachbarten Spiegel benutzend, den kleinen Schnurrbart befestigt. Dann sich gegen den jungen Mann tief verneigend, aber doch wieder mit dem vorigen Spott auf den Lippen, sagte sie laut, indes mit weit tieferer, als ihrer natürlichen Stimme: »Herr Graf von Geyerstein, ich habe die Ehre, mich Ihnen gehorsamst zu empfehlen.«
»Bleiben Sie noch,« bat der Graf sie leise, »lassen Sie mich erst den Horcher entfernen.« Dabei öffnete er rasch die Türe – der fremde Bediente stand aber nicht, wie er erwartet hatte, davor, sondern war verschwunden, und nur die draußen angelehnte und nicht wieder ins Schloß gedrückte Vorsaaltüre zeigte, daß er sich entfernt hatte.
»Die Bahn ist frei,« sagte Georgine mit ihrer natürlichen Stimme. Sich leicht gegen den Grafen verneigend, verließ sie rasch und jede weitere Begleitung zurückweisend, das Zimmer, und gleich darauf das Haus, warf sich in eine Droschke und fuhr ihrer eigenen Wohnung zu. Graf von Geyerstein aber schritt mit untergeschlagenen Armen und gesenktem Haupte rasch in seinem Zimmer auf und ab, ungeduldig dann und wann nach der Türe horchend, bis draußen die Vorsaaltüre aufs neue geöffnet wurde und Karl gleich darauf im Zimmer seines Herrn erschien.
»Herr Rittmeister,« berichtete er hier in militärischer, das heißt sehr steifer Haltung, »ein Bedienter Seiner Exzellenz des Herrn Kriegsministers von Ralphen wünscht…«
»Wo bist du die Zeit über gewesen?« unterbrach ihn sein Herr.
»Im Stalle unten, zu Befehl, Herr Rittmeister.«
»Laß den Burschen hereinkommen.«
Karl machte rechtsum kehrt, und gleich darauf erschien die graue Livree wieder auf der Schwelle.
»Herr Graf,« sagte der Diener mit einer tiefen Verbeugung, »Se. Exzellenz lassen mit besten Empfehlungen morgen abend um acht Uhr um die Ehre bitten.«
Der Rittmeister antwortete ihm nicht; er sah den Burschen, dessen Erröten ihm nicht entgehen konnte, forschend an und dann wieder schweigend vor sich nieder. Endlich sagte er kalt: »Es ist gut – meine Empfehlung an Seine Exzellenz; ich werde zur bestimmten Zeit erscheinen.«
»Wer war denn der junge Herr, der vorhin bei deinem Herrn Besuch gemacht hat?« sagte der mit der grauen Livree, als er neben Karl über den Vorsaal der Treppe zuschritt.
»Weiß ich nicht,« antwortete, ziemlich kurz angebunden, Karl, »geht mich auch nichts an.«
»Der kommt wohl oft hierher?« fragte der Graue, dadurch nicht im mindesten eingeschüchtert.
»Das weiß ich auch nicht und geht dich wieder nichts an,« meinte aber Karl, »guten Morgen!« und öffnete dem Grauen die Tür.
»Grobian!« murmelte dieser, als er langsam die Treppe hinunterstieg, um die übrigen Einladungen auszuführen.
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Die Salons Seiner Exzellenz des Kriegsministers von Ralphen waren festlich erleuchtet, und eine kleine, aber ausgewählte Gesellschaft wurde erwartet. Es war dreiviertel auf Acht, und die Wirtin revidierte, schon in voller Toilette, noch einmal selber die befohlenen Anordnungen, während geschäftige Diener hin und wieder flogen, neu bestimmte auszuführen. Auf den beiden Spieltischen hatte man noch die Whistmarken vergessen, und der eine Bediente war hinauf zu Seiner Exzellenz gesandt worden, sie von dessen Kammerdiener herbeizuschaffen. Aber er hielt sich länger unterwegs auf, als eigentlich nötig gewesen wäre, denn er traf auf der Treppe Annette, Komtesse Melanies Zofe – allerdings in eben solcher Eile wie er selber.
»Lassen Sie mich los, Herr Franz,« sagte das junge Mädchen, indem sie einen, wenn auch schwachen Versuch machte, die Hände des galanten Lakaien von ihrer Taille zu entfernen, »das gnädige Fräulein wartet auf mich, und wenn ich so lange ausbleibe…«
»Nur einen einzigen Kuß, teuerste Annette!« bat Herr Franz in jugendlicher Kühnheit, und, vom Augenblick außerdem gedrängt, gleich zur Sache kommend.
»Sie sind nicht gescheit,« sagte Annette erzürnt, »und hier, auf der Treppe!«
»Nur einen einzigen!«
»Lassen Sie mich los – ich will nicht – wahrhaftig, ich schreie!«
»Und wenn ich nun eine höchst merkwürdige und interessante Neuigkeit für Sie hätte?« sagte Herr Franz, in dem Gefühl, daß ein Dienst des anderen wert sei, ohne jedoch ihrer Drohung nachzugeben.
»Ja – Ihre Neuigkeiten kenn' ich!« rief die Schöne, »sie hat wahrscheinlich schon in der Zeitung gestanden – lassen Sie mich los!«
»Selbst erlebt – gestern morgen – bei Graf Geyerstein,« beharrte Herr Franz. »Wenn sie nicht zehn Küsse wert ist, sollen Sie mich nie wieder ansehen.«
»Und die wäre?« fragte neugierig gemacht, die Kammerzofe, »hat er seinen Karl fortgeschickt? Mein Himmel, da klingelt die Komtesse schon – lassen Sie mich los!«
»Erst den Kuß!«
»Sie sind ein unverschämter Mensch – und Ihre Neuigkeit – so lassen Sie mich doch nur los!«
»Und bekomme ich dann den Kuß – einen jetzt und einen anderen später…«
»Gleich zwei? – ich schreie wahrhaftig – ich kann nicht länger warten!«
»Schön – Graf von Geyerstein hat gestern morgen verkleideten Damenbesuch gehabt – ist das zwei Küsse wert?«
»Nicht einen halben, wenn ich nicht weiß, wen!«
»Madame Bertrand.«
»Die Kunstreiterin?« rief Annette schnell; »es ist nicht wahr.«
»Auf meine Ehre – in Männerkleidung. – Oben im Zimmer hatte sie ihr glattes Gesicht, und als sie unten aus dem Hause trat, einen Schnurrbart. Sie kam mir gleich bekannt vor, aber ich konnte mich doch nicht recht besinnen, wo ich das hübsche Gesicht schon gesehen hatte, merkte mir aber die Nummer der Droschke, in die sie stieg, und als ich heute nachmittag dieselbe Droschke wiederfand, nannte mir der Kutscher auf meine Frage ohne weiteres das Haus, wohin er den jungen Herrn gefahren.«
»Und das war?«
»Die Rose, wo die Kunstreiter wohnen.«
»Meine Güte! die Komtesse reißt die Klingelschnur ab!« rief in diesem Augenblick Annette, erschreckt zusammenfahrend. Unten klingelte es in der Tat heftig, und sie wollte sich von Franz freimachen. Ohne den versprochenen Lohn kam sie aber nicht davon, Herr Franz nahm sie im Nu beim Kopf, und: »Sie böser Mensch!« sagte die Schöne, als sie sich endlich glücklich von ihm befreit, und, ihre Frisur wieder in Ordnung bringend, die Treppe, so rasch sie konnte, hinabeilte. Herr Franz aber blieb noch eine Weile dort, wo sie ihn verlassen, stehen und schaute ihr, sich vergnügt dabei die Hände reibend, nach, bis sie im Gange unten verschwunden war. Dann stieg er selber, langsam und behaglich, die Stufen hinauf, den ihm gegebenen Auftrag nach seiner Bequemlichkeit auszuführen.
Es schlug acht; einzelne Equipagen fuhren vor; die Familie des Kriegsministers war unten im Salon versammelt, die nach und nach eintreffenden Gäste zu empfangen, und die Dienerschaft kam herbei, um den Tee, den die alte Exzellenz eigenhändig bereitete, herumzureichen. Komtesse Melanie stand neben ihrer Mutter und unterhielt sich mit dem eben eingetretenen Grafen Selikoff; aber sie sah bleich und angegriffen aus, und nur einmal färbte ein leichtes Rot ihre Wangen, als ihr Blick, neben dem jungen Manne hinstreifend, auf den eintretenden Grafen Geyerstein traf. Aber es schwand, so rasch wie es gekommen, und kalt und förmlich dankte sie der Verbeugung des sonst so willkommenen, ja oft heimlich ersehnten Gastes.
Dem jungen Grafen konnte diese Veränderung in dem Benehmen des ganzen Wesen Melanies nicht entgehen, aber die Gesellschaft selber gestattete ihm auch nicht, sie darum zu befragen. Der alte, freundliche Herr von Ralphen, der dem gern gesehenen jungen Manne so herzlich entgegentrat wie früher, nahm ihn vor allen Dingen in Beschlag, um ihn mit einigen anderen fremden Offizieren bekannt zu machen, und er kam nicht eher wieder von ihm los, als bis der alte Herr seine Aufmerksamkeit auf die zu arrangierenden Spieltische wenden mußte. Graf Geyerstein selber spielte nicht und hatte dadurch die beste Entschuldigung, sich von ihm zurückzuziehen. Ehe er aber seinen Vorsatz, Melanie unter jeder Bedingung anzureden, zur Ausführung bringen konnte, lief er Ihrer Exzellenz, der Frau von Ralphen, in den Weg, die freundlich ihre ringbedeckte Hand auf seinen Arm legte.
»Aber, lieber Geyerstein, wo in aller Welt haben Sie nur die ganze Woche gesteckt? Man sieht Sie ja gar nicht mehr und muß Sie ordentlich mit Gewalt herbeiziehen, wenn man Sie wirklich einmal haben will.«
»Exzellenz sind zu gnädig, mich glauben zu machen, daß Sie mich vermißt haben,« sagte der junge Mann leicht errötend. »Sie mögen aber selber beurteilen, wie streng in dieser Woche unser Dienst gewesen sein muß, da ich genötigt war, die liebsten Menschen zu meiden.«
»Aber abends hätten Sie doch gewiß einmal Zeit gehabt. Sogar aus der gewöhnlichen Vorlesung sind Sie uns neulich weggeblieben, und Graf Selikoff hat an Ihrer Stelle lesen müssen, denn unsere Racine durften wir doch nicht im Stiche lassen.«
»Es würde mir unendlich leid tun, wenn ich die Ursache einer Störung gewesen wäre.«
»Das ist das wenigste – darüber beruhigen Sie sich. Rosalie hat Sie aber am meisten vermißt, denn sie brennt vor Begierde, Ihnen ihre neuen Zeichnungen vorzulegen.«
»Darf ich sie holen, Mama?« flüsterte ihr die junge Komtesse, die neben sie getreten war, rasch ins Ohr.
»Jetzt nicht, mein Kind,« lächelte die Exzellenz, »der Herr Graf hat jetzt mehr zu tun, als sich mit deinen Kunstprodukten abzugeben – aber, Fräulein,« unterbrach sie sich plötzlich, mit einem strengen Blick nach einer jungen Dame hinübersehend, die unfern von ihnen, den Blick fest auf die Gruppe geheftet, stand, »Sie vergessen Ihr Amt – dürfte ich Sie bitten darauf zu achten, daß die Herrschaften Tee bekommen?« Und mit einer heimlichen, nicht ganz leidenschaftslosen Bewegung deutete sie dabei auf den Rittmeister, der sich indes zu Rosalien gewandt hatte und mit freundlichem Gruß zu dem jungen Mädchen sagte: »Lassen Sie sich nicht abschrecken, Komtesse, bringen Sie mir getrost ihre Studien. Die Gesellschaft soll mich nicht abhalten, mich recht herzlich über Ihre Fortschritte zu freuen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, lieber Graf,« sagte das junge Mädchen, dessen Antlitz hohes Rot überflog und ihre lebendigen Augen noch viel lieblicher erhellte, »ich werde Sie auch nicht lange plagen, ich habe mich aber so darauf gefreut,« und mit leichten Schritten huschte sie durch den Salon, dem nächsten Ausgange zu, um die Blätter selber schnell herbeizuholen.
Die Exzellenz hörte diese kleine Unterredung nicht, denn ihr Blick haftete noch, und zwar lange nicht mit der Freundlichkeit, mit der sie vorher den Rittmeister angeredet, auf der jungen Dame, die schon bei ihren ersten mahnenden Worten tief errötend zusammengefahren war und sich rasch abgewandt hatte, ihre für den Augenblick versäumte Pflicht zu erfüllen.
Luise von Mechern, aus einem altadligen Geschlecht stammend, war durch die Empfehlung des ***schen Gesandten nach *** und in das Ralphensche Haus gekommen, wo sie die Stelle einer Gouvernante bei Rosalien und ihrer jüngsten, erst siebenjährigen Schwester ausfüllte und zugleich mit musterhafter Ordnung die Wirtschaft der nichts weniger als wirtschaftlichen Exzellenz führte. Luise von Mechern war ein liebes, bescheidenes und dabei höchst geistreiches, gebildetes Wesen, das jede Stellung im Leben vollkommen ausgefüllt haben würde. Aber ihr Körper hatte mit ihrem Geiste nicht Schritt gehalten, und einer Unvorsichtigkeit der Wärterin in frühesten Jugendjahren verdankte sie ein Uebel, das sie jetzt durch das ganze Leben tragen mußte. Ihr Gesicht war bildschön, ein wahrhaft griechisches Profil mit großen, sprechenden blauen Augen, dunklem vollen Haar und feinen, edlen Zügen, aber – ihre rechte Schulter war verwachsen und dadurch dem übrigen Körper nicht die nötige freie Entwicklung geworden. Wie bald vergaß man aber, sobald man näher mit ihr bekannt wurde, diesen körperlichen Fehler in all den geistigen Vorzügen, die ihr eigen waren, und welchen wohltätigen Einfluß übte sie dabei auf die Erziehung der ihr anvertrauten Kinder, ja durch ihren Umgang selbst auf Melanie aus! Die Töchter des Kriegsministers hingen auch mit treuer Liebe an dem jungen Mädchen, und Melanie besonders fühlte, welch ein wohltätiger Geist der Ordnung in ihr ganzes Haus gekommen sei, seit Luise von Mechern mit ihrem stillen, einfachen Wesen die Leitung desselben übernommen hatte. Nur Frau von Ralphen schien das nicht zu bemerken oder wenn sie es bemerkte, dies für der Ordnung gemäß zu halten. Daß die angenommene Gouvernante und Wirtschafterin ihre Pflicht tat, verstand sich von selbst; eine weitere Anerkennung blieb deshalb überflüssig. Frau von Ralphen war nicht etwa eine böse oder übermäßig strenge Frau – ihren Kindern gegenüber hätte sie sogar noch bedeutend strenger sein dürfen. Aber sie fühlte, daß sie in der Residenz eine sehr bedeutende Rolle spiele; sie wußte und war überzeugt, daß sie zu den »ersten Damen« des Landes gehöre, und dadurch stolz, rücksichtslos stolz gegen alle geworden, die unter ihr standen. Das gerade gab denn auch oft ihrem Betragen und ganzen Wesen eine Härte und Schroffheit, die unter anderen Umständen ihrem sonst wirklich weichen und guten Herzen fern geblieben wären.
Luise ertrug das aber mit einer wahren Engelsgeduld. Still und freundlich, mit der ihr eigentümlichen sanften und immer guten Laune, vermied sie jede Klippe, die zwischen ihr und der Exzellenz hätte zu einem Wortwechsel führen können, fügte sich ihren kleinen Eigenheiten, ohne sich selber je das geringste dabei zu vergeben, und erwiderte zugleich von ganzer Seele die Liebe, die ihr die Kinder entgegenbrachten. Nur in Gesellschaft, selbst bei einem einzelnen Besuche, fühlte sie sich gedrückt. Sie wußte, wie sehr sie mit ihrem Körper, dem raschen, oberflächlichen Urteil der Welt gegenüber im Nachteil war, und suchte es soviel als möglich zu vermeiden, dem zu begegnen. Darin unterstützte indessen die Exzellenz sie nicht; denn ob sie nun Luisen wirklich nicht entbehren konnte oder gar heimlich fühlte, daß durch die Gegenwart der unscheinbaren Gouvernante die Erscheinung ihrer eigenen Töchter gehoben würde – wer vermag im Innern eines menschlichen Herzens zu lesen? – aber Luise mußte stets und in jeder Gesellschaft erscheinen, und nur die dringendste Abhaltung oder wirkliches Unwohlsein konnte sie entschuldigen. Von den gewöhnlichen Gästen wurde sie aber selten oder nie beachtet. Die Damen besonders nahmen nie Notiz von ihr – es war ja nur die Gouvernante, wenn auch aus einer edlen, vielleicht edleren Familie, als sie selber, entsprossen. Nur Graf Geyerstein hatte sich gern und viel mit ihr unterhalten, in früheren Zeiten sogar manche Partie Schach, das sie meisterhaft spielte, mit ihr gezogen, und an Melanies Seite stundenlang ihrem seelenvollen Vortrage auf dem Piano gelauscht. Das alles nahm sie still und dankbar hin, zog sich nach solchen Abenden aber immer um so viel scheuer in sich selbst zurück. Dergleichen Abende waren aber auch in der letzten Zeit viel seltener geworden, ja hatten sogar in der letzten Woche ganz aufgehört, und vielleicht dachte Luise, als ihr Auge vorhin so ernst und fast traurig auf dem Grafen ruhte, jener Zeit – war er ihr doch indessen fast fremd geworden.
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