Das alte Haus. Heimliche und unheimliche Geschichten

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Der Famulus legte dabei sein Instrument und seinen Bogen neben sich auf das Spiegelschränkchen und rieb sich die langen, knochigen Hände, als ob er sie in Feuer setzen wolle. /51/

Helene und Marie sahen sich erstaunt an. Noch vor wenigen Minuten hatten sie den wunderlichen Menschen in quälendem Seelenschmerz fast aufgelöst geglaubt, und jetzt saß er wieder mit seinem alten trockenen Humor in den Zügen so unverändert vor ihnen, als ob er weder kurz vorher seine herzzerreißenden Melodien gespielt, noch wie ineinander gebrochen gestöhnt und gezittert hätte.

„Aber was meinen Sie damit, Schwiebus," sagte Helene endlich - wirklich verlegen, wie das Gespräch wieder zu beginnen - „wenn der Nordstern auf dem Kopfe steht? - Wie kann denn ein Stern auf dem Kopfe stehen, und wenn er's thäte, wie wären wir im Stande, das zu erkennen?"

„Der Nordstern ist ein komischer Gesell," lachte der Famulus leise vor sich, indem er die Hände stärker zusammenrieb, daß sich die bleichen Wangen ordentlich zu färben anfingen - „komischer Gesell und macht komische Streiche - aber ich habe ihn gern. Ganz allein am Himmel steht er da droben, hat den kleinen Bären am Schwanz und schlenkert ihn sich um den Kopf Nächte lang. Ist er doch auch der Stern der Todten und schützt ihre stillen Stätten über Nacht, wenn sie der Mond oft und oft im Stiche gelassen."

„Was Sie da wieder für tolles Zeug reden, Schwiebus!" sagte Helene kopfschüttelnd - „wenn man nicht wüßte, daß Sie Spaß machten, könnte man sich ordentlich fürchten."

„Spaß? - ja, Spaß!" lachte der Famulus, aber es war kein wirkliches Lachen, sondern fast nur ein krampfhaftes Verziehen der Mundwinkel. Diese zogen sich in tausend und tausend kleine Fältchen zusammen, bis der Mund mit den schmalen, dünnen Lippen ordentlich darin verschwand und dem bleichen Gesichte mit den sparsam rothblonden Haaren etwas entsetzlich Unheimliches gab. „Es ist unendlich spaßhaft, wenn der Nordstern da drüben so kalt und still auf ein frisches Grab niederfunkelt und wir uns dann den Todten da drinnen denken, wie er, die Hände auf der Brust gefaltet, die Glieder ausgestreckt und starr in seinem engen Hause da unten liegt und wir nicht hinunter können zu ihm , - er nicht herauf zu uns."

"Schwiebus hat heut Abend einmal wieder seine geister-/52/hafte Laune," lächelte Helene zu Marien hinüber. „Oh, wenn Du ihn doch da einmal könntest erzählen hören! Er weiß gar zu prächtige Märchen, und ich bin da wie ein kleines Kind und wäre im Stande, ihm Nächte lang zuzuhören."

„Märchen - ja, das ist ja wohl der Name, den die Menschen für derlei haben," sagte der Famulus, langsam dazu mit dem Kopfe nickend - „Märchen - ein ungemein bequemes Wort, und damit sind sie fertig. Märchen - das erklärt ihnen Alles, und sie zerbrechen sich den Kopf nicht weiter über Dinge, die ihnen sonst am Ende das Hirn auseinander treiben könnten. Aber sie haben auch Recht. Wozu sich das Herz schwer machen und den Kopf mit Dingen füllen, die nichts Anderes neben sich dulden und die ruhigen, friedfertigen Gedanken hinauswerfen, ihrem eigenen tollen Sein den Spielplatz frei zu halten! Märchen ist auch ein höchst charmantes Wort dafür. Im Ofen knistert und knattert das Feuer, daß die Fensterscheiben ordentlich an zu schwitzen fangen. Die Kinder und Erwachsenen rücken dicht um den Tisch, auf dem die Lampe düster brennt; draußen heult wo möglich ein Schneesturm über das Land und kos't mit den Trauerweiden, bis sie verlangend und zitternd die nackten Arme hinter ihm drein strecken, pfeift in die Kamine hinunter und fegt sich die Straßen rein zum Tanz, während droben am Himmel die Wolken an der dünnen Mondessichel vorüberjagen, als ob sie zu spät zum neuen Tage kämen. - Das ist die Zeit, ein Märchen zu erzählen, und weshalb?

- weil es draußen gleich mit spielt in Lebensgröße, an die Läden klopft und durch die gefrorenen Fenster schaut und seine wilden Weisen summt zu den drinnen gesprochenen Worten. Die Menschen rücken dann dicht zusammen im warmen Zimmer, horchen mit der gespanntesten Aufmerksamkeit auf das Erzählte, und freuen sich wie die Kinder über den Nervenkitzel, der ihnen eben nur leichthin über das Leben streift. Es ist ja nur ein Märchen!"

„Aber wie ich noch ein Kind war," rief Marie lächelnd, „hab' ich wahrhaftig geglaubt, daß das Alles auch wirklich passirte!"

„So?" sagte der Famulus und fing wieder an, sich die /53/ knochige» Hände zusammen zu reiben, „so? - wirklich passirt. - Es ist doch toll, was sich die Menschen manchmal für wunderlichen Gedanken hingeben - wirklich passirt - hihihihi!"

„Wie ich ein Kind war, Schwiebus, hab' ich gesagt," entschuldigte sich die Jungfrau dem Lachenden gegenüber, der sie ja sonst für noch immer so kindisch halten konnte - „jetzt weiß ich wohl, daß das nur Thorheit war."

„Und doch hören wir die Märchen noch gern, wenn wir auch erwachsen sind," sagte Helene; „es ist ordentlich wie eine Erinnerung aus der Kinderzeit, von der sich das Herz ja doch nur ungern und schwer trennt, und was früher so viel mehr den Reiz des Schauerlichen hatte, das ersetzt jetzt reichlich die Erinnerung an die vergangenen Tage."

„Ja, es ist entsetzlich, wie gescheidt und klug wir werden mit der Zeit," sagte der Famulus und griff wieder seine Geige auf, über deren Saiten er leise und wie herausfordernd mit dem Bogen strich - „und wir haben nachher eine Erklärung für Alles - auch für das Unerklärliche, mit dem wir eigentlich am allerleichtesten fertig werben."

„Das Unerklärliche?" sagte rasch Helene; „allerdings giebt es dessen genug für uns arme Sterbliche hier, und ich gehöre gewiß nicht zu denen, Schwiebus, die Alles nur einfach fortleugnen, weil sie eben nicht gleich in das geheime Schaffen und Walten der Natur den Blick thun können oder dürfen, der ihnen die Räthsel derselben enthüllen würde. Ich glaube zum Beispiel an eine geheime Verbindung unserer Seelen mit einer andern Welt, in die wir oft hineinragen, ohne es mit unseren gröberen Sinnen zu verstehen, und die uns wieder zu Zeiten berührt und mit Ahnungsschauern jenes unerforschten Reiches durchzittert, das unser Fuß nie betreten soll, bis einst der Körper im stillen Grabe schlummert."

„Helene," lächelte Marie, „Du darfst mich nicht mehr mit meinem Aethertraum necken und mit dem alten Herrn Quetzlinberger und der Frau Bause."

Der Famulus zuckte bei Nennung der Namen zusammen und hörte mit Spielen auf; endlich sagte er langsam:

„Die Frau Bause? - Kennen Sie die denn auch?"

„Warum sollen wir sie nicht kennen?" sagte Helene; /54/ „wohnt sie nicht hier in der Stadt, und prophezeit sie den Leuten nicht, die zu ihr kommen?"

Schwiebus sah wohl ein paar Minuten lang still und schweigend vor sich nieder, ohne irgend etwas darauf zu erwidern. Dann griff er sein Instrument wieder auf, und die Worte mit den leisen Tönen begleitend, fuhr er langsam fort:

„Die Frau Bause ist eine gar würdige alte Dame, die schon etwas durchgemacht hat in der Welt - mehr, als sich manche Menschen vielleicht träumen lasten. Wenn die erzählen wollte, müßte es gar interessant sein, zuzuhören, aber" - und wieder sprangen die Töne in die frühere schrille und schroffe Weise über, und er lachte dabei still und unheimlich vor sich hin - „sie darf nur nicht."

„Und das ist auch nicht mehr als recht!" rief Marie. - „Mutter hat noch neulich davon gesprochen, daß die Polizei das Prophezeien und Kartenlegen eigentlich gar nicht dulden sollte. Einzelne, zufällig eingetroffene Sachen machen die Leute nur verwirrt. Viele setzen sich tolle Ideen in's Hirn - lassen sich ihren Todestag sagen und sterben zur prophezeiten Stunde, nur weil sie sich so entsetzlich davor gefürchtet. Andere treiben andern Unsinn, der ihr Vermögen oder ihre Gesundheit ruinirt, um einem geweissagten Unglück auszuweichen oder ein versprochenes Glück zu erjagen. Der liebe Gott hat es gar unendlich weise eingerichtet, daß uns nicht allein die ferne Zukunft, nein, schon die nächste Stunde ein verschlossenes, unberührbares Buch bleibt. Ich würde nie die Hand danach ausstrecken, es zu öffnen."

Schwiebus hatte das junge Mädchen indessen mit hoch aufgezogenen Brauen, weit ausgespitzten Lippen und einem unendlich komischen Ausdruck in den wunderlichen Zügen stier angesehen. Die Violine stützte er dabei, um besser hören zu können, auf sein linkes Knie, während die rechte Hand mit dem Bogen auf dem andern ruhte.

„Die Polizei," sagte er, als sie geendet, leise, und über die immer dunkler werdenden Züge zuckte und blitzte es in eigenen wunderlichen Lichtern - „die - die Polizei." - Und er schüttelte sich plötzlich, ohne aber einen weiteren Laut /55/ von sich zu geben, so vor innerem Lachen, daß es ordentlich aussah, als ob ihm die Glieder locker würden.

„Nun ja, was ist denn darin so Komisches, Herr Schwiebus?" sagte Marie erstaunt; „hat denn die Polizei nicht das Recht, Leuten, die ein ordentliches Gewerbe daraus machen, leichtgläubigen Menschen das Geld aus der Tasche zu locken, das Prophezeien zu verbieten?"

Schwiebus nickte wieder und wieder rasch mit dem Kopfe, als ob ihm das innere Lachen fast die Stimme ersticke, und nur endlich sagte er heiser und von öfterem Husten unterbrochen:

„Ja - verbieten kann sie's - verbieten kann sie‘s, die - die Polizei. Schwiebus kann auch dem Laubfrosch verbieten, daß er bei schlechtem Wetter in's Wasser geht."

„Aber, Schwiebus," lachte Helene, „Sie wollen doch nicht alte Frauen, die einen Erwerb daraus machen, andere Leute anzuführen, mit etwas vergleichen, dem die Natur schon den Instinct für das Wetter wenigstens gegeben hat? Ja, wenn die Frau Bause so gut prophezeien könnte wie ein Laubfrosch!"

„Hm - würde ihr sehr angenehm sein, das zu hören," lachte der Famulus wieder auf seine stille Weise - „würde ihr ungemein angenehm sein." Er blinzelte dabei mit dem linken Auge, den Kopf halb dem Fenster zugewandt, immer nach dort hinüber, als ob da draußen Jemand säße, mit dem er sich unendlich über den Spaß freue und der ganz einverstanden mit ihm wäre.

 

„Sie sind ein komischer Kauz," sagte lächelnd Helene und schraubte die Lampe etwas höher, daß sie heller brannte. „Ob übrigens die Frau Bause prophezeien kann oder nicht, soll mich wenig kümmern, ich werde ihre Künste doch nicht in Anspruch nehmen. - Man soll mit solchen Dingen keinen Scherz treiben."

„Scherz?" sagte der Famulus und wurde auf einmal ganz ernsthaft, „Scherz? - wer hat von Scherz gesprochen? - Wer sich einen Spaß zu machen wünscht, soll um Gottes willen andere Sachen wählen, als die Geister einer andern Welt zu incommodiren. Es thut nicht gut, und wir kommen /56/ mit ihnen schon weit mehr, als rathsam, in unseren Träumen zusammen."

„In unseren Träumen?" rief Marie rasch, die in den Worten eine Art Bestätigung für Manches zu finden glaubte, dem sie sich selber, sie mochte sich dagegen sträuben, so viel sie wollte, hinzuneigen begann. - „Also halten Sie unsere Träume auch für etwas Wirkliches?"

„Unsinn!" rief Helene lachend; „wenn die etwas Wirkliches sind, so bin ich vor vierzehn Tagen vom Thurme der Dorotheenkirche über die ganze Stadt fortgeflogen und nachher in den Schwanenweiher gefallen, und wie ich aufwachte, lag ich doch warm und weich in meinem Bette."

„Ihr Körper," erwiderte Schwiebus trocken - „Ihr Körper lag im Bette, Fräulein Helene, und der hatte mit der Sache auch weiter nichts zu thun. Ein Körper kann, wie sich das von selbst versteht, nicht träumen, und was der Geist unter der Zeit treibt, wo er den Körper verlassen hat, davon sagt er ihm gewöhnlich nichts. Nur die Seele, die indessen natürlich zu Hause bleibt, verräth es ihm manchmal."

„Die Seele?" riefen Helene und Marie fast zu gleicher Zeit aus; „so machen Sie einen Unterschied zwischen den beiden, die Sie für zwei ganz verschiedene Wesen zu halten scheinen?"

„Und sind sie das nicht?" lächelte der Famulus. „Eine Seele dürfen wir selbst dem Thiere nicht absprechen, dem wir keinen Geist gestatten. Der Geist mag den Körper im Schlafe verlassen, und den Beweis haben wir, wie er in der Zeit durch ferne Räume schweift. Die Seele dagegen muß den allgemeinen Naturgesetzen nach im Körper bleiben, ob er schläft oder wacht. Sobald sie ihn verläßt, ist er todt - bis sie zu ihm zurückgekehrt" - setzte er mit leiser, kaum hörbarer Stimme hinzu.

„Aber sobald sie ihn einmal verlassen, kann sie nie mehr zurück!" rief Marie. „Todte müßten ja sonst wieder zum Leben erstehen."

„Und geschieht das nicht bisweilen?" sagte der Famulus.

„Scheintodte, ja."

„Gut, wir nennen sie Scheintodte!" rief der Famu-/57/lus kopfschüttelnd. „Der Name thut nichts zur Sache, und - sind noch keine solche Scheintodte beerdigt worden?"

„Oh Gott, ja!" rief Helene schaudernd -„selbst in unserer Familie haben wir ein derartiges furchtbares Beispiel."

„In Deiner Familie?" fragte Marie überrascht; „davon hast Du mir ja noch nie erzählt!"

„Wer spricht gern von so Entsetzlichem!"

Der Famulus stemmte die Geige wieder an die Schulter, und eine neue, aber leise Melodie beginnend, um das Gespräch nicht zu stören, sagte er langsam:

„Auch das Entsetzliche wird interessant, sobald es mit dazu dient, die Kenntnisse zu vermehren, an deren Schwelle wir noch stehen - die Kenntnisse jener Welt, von der die Wenigen, die wirklich etwas davon wissen, eben nichts, oder doch so gut wie nichts, verrathen dürfen."

„Also glauben Sie in vollem Ernst, Schwiebus," fragte ihn Helene, „daß hier wirklich Leute auf unserer Erde, in unserer Mitte leben, die etwas von jener andern geheimnißvollen Welt sagen könnten, wenn sie nur eben dürften?"

Der Famulus erwiderte nichts darauf, aber die Töne seiner Geige schnitten wie ein Weheruf in das Ohr der Mädchen.

„Sie wollten uns ja die Geschichte des Scheintodten erzählen," sagte er dann plötzlich, zu Helenen gewandt. „War es Mann oder Frau?"

„Eine Tante von mir," lautete die Antwort. „Erst wenige Jahre verheirathet, fiel sie bald nach ihrer ersten Entbindung in eine schwere Krankheit. Mein Oheim wich nicht von ihrem Lager und berief die geschicktesten Aerzte aus der Residenz, das flüchtige Leben der Sterbenden aufzuhalten. Umsonst - das Kind starb zuerst, und an dem nämlichen Tage folgte ihm die Mutter. Ihr Gatte war außer sich - er raste förmlich, warf sich über den Leichnam und schwur, daß er nicht ohne die Dahingeschiedene leben könne und wolle. Er widersetzte sich sogar den Leuten, nach denen geschickt war, die Leiche für das Begräbniß vorzubereiten, und die Aerzte, die für seinen Verstand fürchteten, drangen endlich darauf, daß /58/ er entfernt würde. Im Anfange ließ er sich das auch wirklich gefallen, schon nach der ersten Nacht aber fing er an zu toben und schrie, daß man seine Frau, von der er behauptete, sie wäre ihm im Traume erschienen, lebendig begraben wolle. Er wüthete dabei dermaßen, daß man ihn festhalten und in eine Zwangsjacke einschnüren mußte.

„So lag er sechsunddreißig Stunden, bis er endlich ruhiger wurde oder seine Kräfte doch so aufgerieben hatte, um sich nicht weiter rühren zu können. Die Zwangsjacke wurde ihm dann allerdings wieder ausgezogen, aber Wochen vergingen doch noch, ehe ihn die Aerzte für so weit wieder hergestellt erklärten, die Anstalt verlassen zu können. Er reiste augenblicklich nach Hause, und seine Schwester, die indessen sein Haus verwaltet, fand ihn wohl noch niedergeschlagen und ernst, aber doch sonst ruhig und selbst gefaßt. Er erkundigte sich nach dem Begräbniß, wie es gehalten worden, und ob Mutier und Kind zusammen begraben wären, fragte, ob die Aerzte auch in der That jedes Mittel angewandt hätten, sich von dem wirklichen Tode der Hingeschiedenen zu überzeugen, und schien sich, als ihm alle diese Fragen genü-gend beantwortet worden, vollständig beruhigt zu haben.

„Er aß zu Mittag, trank seinen Kaffee und sagte dann seiner Schwester, daß er hinaus auf den Kirchhof gehen und die Gruft, in der sein Weib und Kind ruhten, besuchen wolle. Seine Schwester wollte ihn allerdings begleiten, aber er lehnte es ab. Er wünschte allein mit seinem Schmerz zu sein, und wenn er sich da draußen ordentlich ausgeweint, werde ihm schon bester und leichter werden."

„Es war im Januar und bitter kalt, und der Kirchhof lag etwa eine halbe Stunde von der Stadt entfernt. Mein Oheim hatte dort ein Erbbegräbniß, ein ziemlich tiefes und geräumiges Gewölbe mit einem eisernen Gitter darüber, in dem die Särge aus der Familie beigesetzt wurden. Den Schlüssel dazu trug er bei sich, die Kirchhofsthür selber war über Tag offen, denn der Todtengräbcr wohnte draußen in der Nähe. So verging der Nachmittag und es wurde Nacht, und mein Oheim kehrte nicht zurück. Seine Schwester ängstigte sich und wartete bis zu später Stunde auf ihn, doch /59/ umsonst. Mit Tagesanbruch aber, als er bis dahin immer noch nichts hatte von sich hören lassen, bat sie einen Mann aus dem Hause, hinaus zu gehen und sich bei dem Todtengräber nach dem Vermißten zu erkundigen. Großer, allmächtiger Gott! wie sollten sie ihn wieder finden! Der Todtengräber ging mit dem Boten zur Gruft, deren Thür nur angelehnt war, und der Anblick, der sich hier ihnen bot, muß fürchterlich gewesen sein, ließ aber auch nicht den geringsten Zweifel über das, was hier vorgefallen. Der Sargdeckel, unter dem meine Tante damals hinausgetragen worden, war abgeworfen, der Sarg leer, und in der einen Ecke des Gewölbes, die kleine Leiche des Kindes fest in das eigene Leichentuch gehüllt, wie um es gegen die furchtbare Kälte zu schützen, kauerte der erstarrte Körper der jedenfalls lebendig Beigesetzten. Bald nach dem Begräbniß mußte sie wieder zu sich gekommen sein und war nicht mehr im Stande gewesen, ihr Gefängniß - ihr Grab wieder zu verlassen. Nur vor dem Sarge war sie geflüchtet, so weit sie konnte, und dort hatte sie, das bleiche Haupt an die eisbedeckte Wand gelehnt, der Tod ereilt. Neben ihr aber, die Arme in wilder Verzweiflung um die erstarrten Glieder der Gattin und des Kindes geschlagen, lag mit durchschnittenen Adern angefroren an den Boden und die Leichen mit dem eigenen Blute - mein Oheim!"

„Allerbarmer!" rief Marie, „das ist ja fürchterlich!" Der Famulus aber fiel wieder in seine wilden, tollen Weisen ein, und nickte dazu, während er sich fast ganz dem Fenster zudrehte, in einem fort mit dem Kopfe, der auf dem langen Halse ordentlich hin und wieder schwankte.

„Entsetzlich ist es," fuhr Helene langsam fort, „wenn man sich in die Lage der Unglücklichen denkt. Sie war nur wieder zum Leben erwacht, um in grauenvollster Weise alle Schrecknisse des Todes noch einmal durchzumachen."

„Merkwürdig bleibt es aber doch," sagte Marie, „daß der Mann vorher den warnenden Traum gehabt. Großer Gott! die Frau lebendig begraben und der Gatte, der ihr zu Hülfe eilen will, in's Irrenhaus gesperrt und in die Zwangsjacke geworfen. Kein Wunder, daß sich der Unglückliche das Leben /60/ nahm, als er das Elend, den Jammer begriff - er muß da wirklich wahnsinnig geworden sein."

Die Töne der Violine wurden hier so furchtbar grell und laut, und klangen so wie Spott und Hohn zwischen die heraufbeschworenen Bilder des Entsetzens, daß die beiden Mädchen den Famulus bestürzt ansahen. Dem aber schienen mit der Erzählung ähnliche Saiten in seiner eigenen Erinnerung berührt zu sein. Jedenfalls hatte er die Gegenwart Anderer neben sich ganz vergessen. Das Gesicht dem Tische zudrehend, warf er das rechte Bein über das linke Knie und ging plötzlich, nach einem kurzen Vorspiel seines Instrumentes, dessen Töne jetzt in der That wie Worte klangen, in eine seiner barocksten Melodien über. Herüber und hinüber zuckten diese wie springende Gnomen und erreichten ihren Zweck wenn sie den gehabt, auch bald vollkommen; denn seine Zuhörerinnen wurden dadurch ordentlich gewaltsam von dem Schreckensbild abgezogen, das Helenens Erzählung vor ihrem innern Geist heraufbeschworen. Im Anfange lauschten sie nur dem sonderbaren, aber nie unmelodischen Gewirre von Tönen, und vergaßen endlich, was eigentlich diesen Sturm von Klängen hervorgerufen, in der Bewunderung über die erstaunliche Fertigkeit, ja, Kunst des Spielenden.

„Träume!" sang da plötzlich Schwiebus mit einer so wilden, heiser knarrenden Stimme, daß die Mädchen, wie sie ihr wenige Tacte gelauscht, und trotz der schaurigen Stimmung, in der sie sich noch vor wenigen Secunden befunden, kaum das Lachen unterdrücken konnten. Ueberrascht schauten sie dabei zu dem langen fahlen Gesichte des Singenden auf, der die wunderlichsten Grimassen dazu schnitt und den ungeschickten Oberkörper, wie um den Tact zu halten, den er auch zugleich mit dem rechten übergeworfenen Beine begleitete, von einer Seite zur andern warf.

„Träume! - Träume, sitzen am Bett, Die närrischen Burschen, und lachen, Wissen wohl, wie es da drüben steht. Wissen nicht, wie sie es machen. /61/

Tanzen, tanzen können sie wohl,

Werfen die schattigen Beine;

Kriechen in's Hirn wie der Has in den Kohl,

Dünken sich Herrn da alleine.

Plaudern können sie, geben nicht Ruh',

Haben schon Manchen betrogen.

Necken und quälen und - greift Ihr dann zu -

Hui! - sind sie blitzschnell entflogen."

„Aber ich habe ja gar nicht gewußt, daß Sie singen können, Schwiebus," lächelte Helene, als er die Strophen beendete und zum Schluß die neckische Melodie durch ein ganzes Chaos von Tönen führte.

„Kann ich auch nicht," sagte der Famulus trocken, „ich mache nur eine Art von Spectakel, den manche Menschen, die es eben nicht besser verstehen, für Gesang halten."

„Nun, schmeicheln thun Sie auch nicht," lachte Helene, „da ist wahrhaftig Ihr Rabe galanter. Der sagt doch jedesmal, wenn ich zu ihm hinüber komme: kluge Frau, kluge Frau!"

„Er wird es eben auch nicht bester verstehen," lächelte Marie, und der Famulus, der keinesfalls die Worte gehört hatte, nickte ganz in Gedanken mit dem Kopfe dazu. Die Mädchen mußten jetzt wirklich laut darüber lachen.

„Ja, ja," sagte aber der Famulus, ernsthaft dabei vor sich hinnickend - „lacht nur, lacht nur, so lange Ihr jung seid und keine weiteren Sorgen, keine Gedanken habt, die Euch quälen und peinigen dürfen. Die Zeit, wo das anders wird, kommt doch noch früh genug."

„Aber es braucht gar nicht anders zu werden, Herr Schwiebus," sagte Marie freundlich. „Wie vielen Menschen hat nicht Gott ein glücklich, friedlich Los beschieden, dem stillen Wasser gleich, das aus sanfter Ebene, unter Blumen hin der Ewigkeit entgegenquillt! Warum sollen wir das nicht auch für uns erhoffen dürfen und uns die schönen Tage jetzt mit Sorge und Noth nutzlos verkümmern? Es geht uns gut aus der Welt, das wollen wir also mit dankbarem Herzen genießen und die finsteren und traurigen Gesichter denen überlassen, die eben Ursache haben, traurig zu sein, und welchen allen wir ja doch nicht helfen können." /62/

 

„Marie hat Recht," bat da auch Helene, „lassen Sie die trüben Bilder, Schwiebus, machen Sie wieder ein freundliches Gesicht und erzählen Sie uns etwas Lustiges - aus Ihrem eigenen Leben vielleicht. Sie haben es mir schon lange versprochen, und heut Abend hätten wir so treffliche Zeit. Halten Sie Ihr Wort."

„Etwas Lustiges aus meinem Leben?" sagte der Famulus achselzuckend; „wäre nicht übel, möchte nur wissen, wo ich's gleich hernehmen sollte. Etwas Lustiges vom Famulus Schwiebus - Famulus beim Doctor - Hetzelhofer" - und er sprach den letzten Namen mit leiser, scheuer, kaum hörbarer Stimme.

„Oh, Sie wissen gewiß etwas," bat Helene, „wenn Sie sich nur recht besinnen wollten. Ich selber könnte Ihnen etwas angeben."

„So?" sagte der Famulus, und sein Gesicht zog sich wieder in jene tausend Falten, in denen man nie im Stande war zu erkennen, ob er lache oder weine; denn selbst Thränen wären in jenen zahllosen Gruben spurlos verschwunden. „Sie also wüßten etwas Lustiges aus meinem Leben?" wiederholte er nach kleiner, nachdenkender Pause - „gut, so nennen Sie's, Fräulein Helene, und wenn ich's nicht vergessen habe, will ich's erzählen."

„Gewiß?" rief Helene rasch und streckte ihm die Hand zum Einschlagen entgegen.

„Gewiß," sagte der Famulus, ihr selber neugierig dabei in's Auge schauend.

„Gut!" rief Helene, der Freundin zublinzelnd, „dann erzählen Sie uns heut Abend, Schwiebus, wie Sie - mit meinem Bruder bekannt wurden."

Der Mann zuckte zusammen, als ob er von einem elektrischen Schlage getroffen wäre, und sein Blick flog rasch und unstät von dem Antlitz der vor ihm Stehenden nach dem Fenster hinüber und wieder zurück. Als er aber die Augen Helenens in jubelnder Lust, ihn so weit überlistet zu haben, aus sich ruhen sah, war es fast, als ob ein eigen wilder Humor über ihn komme. Er griff den Bogen wieder auf und schaute mehrere Minuten lang still und schweigend vor /63/ sich nieder. Dann lachte er aber plötzlich so laut und hell auf, daß die beiden Mädchen ordentlich zusammenfuhren. So herzlich hatten sie ihn noch nie lachen hören, und doch lag auch wieder etwas gar so Unheimliches in dieser wilden, fast unnatürlichen Fröhlichkeit.

„Und weshalb glauben Sie, meine Damen, daß das etwas Lustiges ist?" sagte er endlich, nachdem er einen förmlichen Lachkrampf überwunden hatte und wieder zu sich gekommen war; „wer hat Ihnen überhaupt je davon erzählt?"

„Erzählt? eigentlich noch Niemand," sagte Helene; „aber mein Bruder hat doch schon mehrere Male, selbst wenn Sie dabei zugegen waren, darauf angespielt und dann jedesmal so herzlich dabei gelacht."

„Herzlich gelacht? - so?" - sagte der Famulus, jetzt wieder vollkommen ruhig, indem er die auf's Knie gestellte Violine dabei stimmte; „also herzlich gelacht hat er darüber? - ist ein gar lustiger Mann, der . . . der Doctor Hetzelhofer."

„Und wollen Sie es uns erzählen?" fragte Marie.

„Ob ich will? Gewiß will ich!" lachte der Famulus wieder; „habe ich es Fräulein Helenen nicht in die Hand versprochen? Ich halte immer Wort - das thut ja sogar mein Rabe, und ich werde mich doch nicht etwa gar von dem beschämen lasten. Aber - es wird ein wenig lang werden, das - Märchen. - Die ganze Geschichte ist auch überhaupt weiter nichts," setzte er, still und heimlich vor sich hinlachend, hinzu - „und - ich habe sie wahrscheinlich nur irgendwo einmal geträumt."

„Desto besser, Schwiebus!" rief Helene, der Freundin vergnügt dabei zunickend, denn nun verging ihnen der Abend gewiß rasch und angenehm.

„Aber ich begreife nur nicht, wie es ein Märchen sein kann," sagte Marie.

„Kein Märchen?" wiederholte der Famulus kaum hörbar, und sah Momente lang still und stier vor sich nieder.

Sein Gesicht war dabei wo möglich noch fahler geworden, und die Augen lagen ihm tief in ihren Höhlen. Das dauerte aber nicht lange - er legte sein Instrument neben sich nieder, /61/ bog sich im Stuhl zurück, stützte den linken Ellbogen auf das Fensterbrett und den Kopf in die Hand, daß sein Blick zuweilen die Sterne draußen suchen konnte, und begann dann mit leiser, aber vollkommen deutlicher, ruhiger Stimme:

V.

Die Geschichte des „todten Famulus".

„Draußen im Walde wohnen die Träume - kleine, winzige, luftige Dinger, in Felsenspalten und Bergesschlucht, in hohlen Bäumen und einsamen Klüften, wie der Adler seinen Horst sucht, still und allein - aber Nachts kommen sie hervor. In Schaaren und Schwärmen, die der blöde Wanderer gewöhnlich für Schwaden und Nebel hält, verlassen sie Berg und Wald und suchen Schlafende. Mit deren Geist plaudern sie dann und führen ihn mit sich fort in Gedankenschnelle - weit über die Welt hinaus, bis er eben so wie sie zum Traum einst wird. Husch sind sie hier - husch sind sie da, und was für Schätze breiten sie da dem staunenden Blicke nicht aus in Gold und Demanten, köstlichen Speisen und Gewändern, was das Herz wünschen könnte und begehren! Und Zauberstäbe haben sie, Zauberkäppchen, Tischchen decke dich und Scepter und Kronen; Flügel für den, der durch die Lüfte zu ziehen wünscht, Flossen für den Schwimmer, und weit auf werfen sie die Pforten ihrer Berge, die Eingänge zu Muschelsaal und Demantenwald, dem neugierigen Schwärmer ein herzliches Willkommen entgegen rufend. Nur mitnehmen darf er nichts, wenn er sie verläßt. Ob er's geschenkt bekommen oder selbst genommen, unter den Händen schwindet's ihm wieder fort in Luft und Hauch. Die Flügel versagen ihm den Dienst, das Wasser speit ihn aus, der Berg drängt ihn zurück, und die Erinnerung nur bleibt dem Geiste mit ihren bunten, schillernden Farben - gerade wie das Bild, das der Sonnenstrahl auf glatte Fläche wirft und auf ihr hält - anscheinend fest und deutlich, und doch nur wie ein Duft darüber hingehaucht. /65/

„Der Geist des Menschen ist frei, und kann streifen und schweifen, wohin er will, wachend oder schlafend. Nicht an die Materie gebunden, sattelt er sich sein zauberschnelles Roß, den Gedanken, und fliegt damit weit über Berg und Thal, über Land und Meer. Geist und Traum sind deshalb auch wackere, tüchtige Spielgefährten - nicht so die Seele.

„Die sitzt daheim, an den Körper gebunden, und sorgt und sinnt und grübelt und rechnet, und sehnt sich hinaus in's Freie dabei - in die Luft zu fliegen mit dem Aar, in die Tiefe des Meeres zu tauchen - wie es der Geist kann, der wilde, unruhige Gesell. Umsonst - das Band, das sie an den Körper fesselt, ist wohl zerreißbar, kann aber dann nicht wieder geknüpft werden mit Menschenhänden, und aus ihrer Hülle vorzeitig gerissen, müßte sie durch das Nichts schweifen in Ewigkeit - durch das öde, entsetzliche Nichts ..."

Er hielt schaudernd einen Augenblick inne und griff, fast wie unwillkürlich, nach dem Instrumente, ließ es aber neben sich liegen und fuhr nach kleiner Pause, wieder vollkommen ruhig, fort:

„Draußen im Berge wächst eine Kraft - die Menschen nennen sie Gift - die ist im Stande, die Seele von dem Körper zu trennen, und keine menschliche Kunst wäre im Stande, sie zurück zu führen. In der Tag- und Nachtgleiche aber, wenn die Sonne gerade über dem Aequator steht, schießt hier und da über Nacht in einzelnen Felsspalten ein dünner, blutrother Halm auf und welkt und verdorrt, wenn nicht gepflückt, wie ihn der erste Sonnenstrahl bescheint. Die Träume, rastlose Burschen, die herüber und hinüber streifen und alle Winkel und Ecken kennen, wissen die Plätze wohl, und wem sie gut sind, dem zeigen sie geheime Kraft und führen den Geist, der mit ihnen um ihre Spielplätze kreist, zu den geweihten Stellen.

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