Das alte Haus. Heimliche und unheimliche Geschichten

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

„Marie," flüsterte dabei das liebe, fremde Kind dicht neben ihr, und selber kaum wissend, was sie that - halb besinnungslos in Angst und Aufregung, schlüpfte sie durch die eben weit genug geöffnete Thür, die sich augenblicklich wieder /21/ hinter ihr schloß. Noch immer aber sich nicht sicher glaubend, wollte sie weiter den Gang hinunter fliehen, um fort, nur aus der Nähe des mehr als alles Andere gefürchteten Arztes zu kommen, als der Knabe sie am Arm festhielt und lächelnd flüsterte:

„Bleib ruhig stehen, Marie; hier können sie nicht her, wenn wir sie nicht hereinlassen wollen. Horch, wie sie hin- und herlaufen und sich den Kopf zerbrechen, wo Du auf einmal hingekommen bist. Hahahaha - ich kenne sie und habe sie oft und oft behorcht, wenn sie aus der alten, hohlklingenden Treppe auf und nieder liefen. Aber Du hast Schmerzen, armes Kind - warte, davon helf' ich Dir gleich."

Dabei strich er ihr nur ein einziges Mal mit der Hand über das fieberglühende Antlitz, und Marien war es, als ob er mit dem einen eiskalten Finger den Zahn berühre. Im Nu verschwand da der Schmerz, und sie fühlte sich leicht und wohl.

„So, Marie!" sagte da der fremde Knabe freundlich, „jetzt komm mit mir, denn da Du doch nun einmal bei mir bist, so zeige ich Dir auch jetzt die eigene Heimath. Wie lange habe ich mich darauf gefreut!"

„Marie, meine Marie!" rief in diesem Augenblicke der Mutter Stimme in Todesangst draußen auf der Treppe, und Marie zögerte ängstlich. Der Laut klang gar zu wehmüthig zu ihr herein.

„Wir bleiben nicht lange," flüsterte ihr aber der Knabe zu, „nur bis der Doctor fort ist."

„Der Doctor!" schauderte Marie, und draußen hörten sie sein feines, höfliches Lachen, und es kam ihr fast vor, als ob sie das Klirren der Instrumente, wie der Stahl klingend zusammenstieß, unterscheiden konnte.

„Fort, fort!" stöhnte sie und floh so rasch den dunkeln schmalen Gang entlang, daß ihr der fremde Knabe kaum zu folgen vermochte, bis sie eine verschlossene Thür erreichte und dort stehen bleiben mußte.

„Siehst Du," lachte der Knabe hinter ihr drein, „so ist's, wenn man hinter verschlossenen Thüren sitzen und warten muß und nicht hindurch kann. Aber nur vorsichtig, Marie! /22/ hier sind Stufen - tritt leise auf," setzte er mit unterdrückter Stimme hinzu, „und sprich kein Wort, bis ich selber es Dir sage. Wir dürfen den alten Mann nicht böse machen."

„Welchen alten Mann?" flüsterte Marie mit kaum hörbarer Stimme furchtsam zurück.

„Nun, den Herrn Quetzlinberger, wen denn sonst? Dem gehört ja das Haus."

„Ja, dem Herrn Quetzlinberger," hauchte Marie mehr, als sie sprach. Der Knabe drückte ihr aber wieder leise den Finger auf die Lippen und öffnete auch in demselben Augenblick eine hohe und, wie sie beim Oeffnen sah, wunderlich geschnitzte Thür. Dann aber wollte ihr das Blut fast in den Adern stocken, denn vor ihr lag - sie deckte die Augen einen Moment mit der Hand, das konnte und mußte ja doch nur ein Traum sein - nein, vor ihr lag in voller, unverkennbarer Wirklichkeit das Hauptzimmer des alten Hauses, mit seinen gelbseidenen niedergelassenen Gardinen, mit dem schweren Teppich, den alten, aus dunkelm Eichenholze gar sonderbar geschnitzten und vergoldeten, aber auch weichgepolsterten Möbeln, und den polirten und ebenfalls zierlich geschnittenen Nußbaumwänden, an denen alte, kaum noch er- kennbare mächtige Bilder hingen.

Eins von diesen fesselte ihre Aufmerksamkeit vor allen anderen. Es stellte einen jungen Mann in Lebensgröße dar, mit hochgepudertem Haar und reich bordirtem, hellgelbem Seidenrocke; das Gesicht sehr roth und weiß, und die ganze helle Figur aus dem fast schwarz gedunkelten Hintergrunde des Zimmers herausspringend.

„Herr Quetzlinberger," flüsterte da der Knabe leise, der dem auf das Bild gehefteten Blicke seines jungen Gastes mit den Augen gefolgt war. Er deutete dabei vorsichtig mit der Hand nach dem schon fast düstern Erker hinüber, wo Marie jetzt zu ihrem Entsetzen die Gestalt des kleinen Mannes erkannte, gerade wie ihn die Großmama in dem gelbseidenen Schlafrocke mit den grellrothen Aufschlägen beschrieben haben sollte, und der jetzt zwischen den fest zusammengezogenen Gardinen vorsichtig nach der Straße hinunter blinzelte. Wie das aber so eigenthümlich ist, daß wir den eigenen /23/ Namen, der in unserem Umkreise, oft selbst außer Gehörweite ausgesprochen wird, fast mehr fühlen als verstehen und uns unwillkürlich, manchmal sogar unbewußt, danach umdrehen, so wandte auch die Gestalt im Erker, die den leisen Ton unmöglich gehört haben konnte, den Kopf halb zur Seite, und ihr Blick fiel in diesem Moment auf das kleine Mädchen, das zitternd in der Mitte der Stube stand.

Herr Quetzlinberger sah sie ein paar Secunden still und forschend an, hob dann langsam die Hand auf und drohte ein klein wenig mit dem Finger. Aber er sah nicht böse dabei aus, und es war mehr, als ob er Ruhe gebieten wolle.

„Er kommt heute wieder nicht," sprach er dabei leise vor sich hin und schüttelte traurig mit dem Kopfe; „es ist schon fast dunkel und er läßt sich noch nicht sehen."

Marie sah fragend zu ihrem Führer auf, der aber legte warnend den Finger auf seine Lippen und zog Marien mit sich auf die gegenüberliegende Seite der Stube, wo gerade unter dem großen Bilde ein breitmächtiges, weich gepolstertes und mit schwerem Seidenzeuge überzogenes Kanapee stand. In dessen eine Ecke drückte er sich hinein und winkte dem Mädchen, neben ihm Platz zu nehmen.

In dem großen Zimmer war es indessen ganz dunkel geworden - dunkel und still. Von gegenüber aber, und wie es Marien so vorkam, von einer breiten, hochbeinigen Commode nieder, schaute ein anderes, fast weißleuchtendes Gesicht aus dem vollkommen unerkennbaren Hintergrunde heraus. Es war dies das Gesicht eines jungen, bildschönen Mannes, auch natürlich in der Tracht damaliger Zeit, doch mit edlen, offenen Zügen, aus denen nur ein trüber, gar so schwermüthiger Ernst sprach. Marien kam es aber fast vor, als ob das gar kein Bild sein könne und die Gestalt mit den lebhaft klugen Augen und den halb geöffneten, wie sprechenden Lippen dort oben in Wirklichkeit stehen müsse und jeden Augenblick herunterspringen könne. Links von dem Erker, wo an der schmalen Wand eines starken Vorbaues ein schmaler hoher Spiegel in goldgeschnitztem Rahmen angebracht war, stand unter diesem ein kleiner Pfeilertisch mit Marmorplatte /24/ und eingebogenen vergoldeten Beinen. Auf diesem lag ein großes aufgeschlagenes Buch voll schwarzer und rother Buchstaben mit großen gelben Beschlägen, wie es die Großmutter beschrieben. Die Brille zwischen den Blättern verrieth auch, daß der alte Herr erst ganz kürzlich darin gelesen und den Band vielleicht erst weggelegt hatte, als es anfing dunkel zu werden. Auf der Commode stand eine Uhr, wie ihr Vater eine ganz ähnliche, ein Erbstück aus alter Zeit, in seinem Studirzimmer hatte. Der Perpendikel ging auch in regelmäßigen Schwingungen herüber und hinüber - aber vollkommen geräuschlos. Nicht das geringste Schnarren oder Klappern konnte sie hören. Lautlos schwang er hin und her, und ebenso rückte der Zeiger nach, das unerbittliche Schreiten der Zeit verkündend.

Keins sprach von da an mehr ein Wort, und Marie schloß die Augen. Es war ihr dabei fast, als ob sie nun wieder daheim in der eigenen Stube in dem bekannten Lehnstuhl sitzen müsse und nur um sich zu schauen brauche, um gleich zu wissen, daß irgend ein toller, wunderlicher Traum sie geneckt. Und doch fühlte sie, daß es kein Traum sei, selbst noch ehe sie die Augen wieder öffnete. Die ganze Luft um sie her war anderer Art; das Sopha, auf dem sie lehnte, so leicht und elastisch, als ob sie mehr darauf schwebe wie ruhe, und das fremde, wunderbare Wesen selbst dort drüben im Erker - deutlich hörte sie es seufzen, und als sie, darüber erschreckt, die Augen aufschlug, hatte es sich von seinem Sitze erhoben und ging langsam, mit den Pantoffeln eben hörbar auf dem weichen Teppich schleppend, durch das Zimmer, durch dessen andere Thür es verschwand.

Marie sah das Alles und wunderte sich dabei, daß sie bei all' dem Unheimlichen, Grausenhaften um sie her so ruhig blieb und sich so gar nicht fürchtete. Aber der freundliche Knabe an ihrer Seite hatte seine Hand wieder auf ihren Arm gelegt, und mit der Berührung war es ihr fast, als ob ihr nun gar nichts Böses von irgend Jemandem geschehen könne.

„Nun muß ich aber wieder hinübergehen," sagte sie endlich, als der junge Bursche aufgestanden war und eine Weile /25/ hinter dem alten Herrn hergehorcht hatte - „die Mutter ängstigt sich doch sonst um mich."

„Jetzt?" lachte aber der Knabe, „jetzt essen wir ja erst zu Nacht, und da mußt Du ja doch unser Gast sein. Hörst Du nicht die alte Margareth draußen mit den Schlüsseln klimpern? das ist stets ihr Zeichen. Heute hat es überdies so lange gedauert."

„Die alte Margareth?"

„Nun ja, unsere Haushälterin."

„Von der hat mir aber ja Mama neulich erzählt," sagte Marie ganz erstaunt, „daß sie spurlos verschwunden wäre und kein Mensch wieder etwas von ihr gehört hätte. Ist das nicht wahr?" Der Knabe lachte leise vor sich hin und sagte kopfschüttelnd:

„Da draußen mögen sie sich wunderliche Dinge erzählen, ihre Spanne Zeit durch, und sie kommen und gehen. Einer hört's vom Andern und Jeder thut das Seine noch dazu. Laß Dich das nicht kümmern, Marie; siehst Du, da kommt sie schon. So, nun gieb mir Deine Hand, und ich führe Dich hinüber in den Speisesaal."

Marie sprang von ihrem Sitze auf, als sich die Thür auch öffnete und eine alte Frau mit einer, das gelbe Gesicht dicht umschließenden spitzen, hohen weißen Mütze den Kopf ins Zimmer steckte und ein freundliches „Es ist angerichtet!" hereinrief. Da nahm der Knabe die Hand des Mädchens und führte es über den sammetweichen, dicken Teppich der Nebenstube zu. Diese öffnete er, und ein heller, blendender Lichtstrahl schoß ihnen daraus entgegen.

 

„Aber, mein Gott, da hat der alte Nachtwächter ja doch Recht gehabt!" rief Marie fast unwillkürlich aus.

„Ja, sieh nur nach den Gardinen, Margareth," lachte der Knabe, der ihr aber jetzt schon viel größer und älter vorkam als vorher, „daß der alte Narr nicht wieder die ganze Straße in Aufruhr bringt, wie neulich einmal. Und nun komm, Mariechen; setz' Dich zu uns und thu, als ob Du bei Dir zu Hause wärest. Du bist gern gesehen bei uns, und wir haben uns lange darauf gefreut, Dich einmal hier /26/ zu bewirthen; hätten aber doch lange darauf warten müssen, wenn der Doctor heute nicht gekommen wäre."

Marie konnte nichts erwidern, denn zu viel des Neuen, Unbegreiflichen umgab sie hier. Der Kopf wirbelte ihr ordentlich.

Das Speisezimmer stieß dicht an das Wohnzimmer, mußte auch in früherer Zeit gar prachtvoll mit gelber Seide tapeziert gewesen sein, wie denn überhaupt Gelb die Lieblingsfarbe des Hauses schien. Die helle Beleuchtung verrieth hier aber doch, daß die Jahre den Wänden arg mitgespielt. Die Seide hing an sehr vielen Stellen in Streifen herunter und war verschossen und abgebleicht, die Spiegel sahen blind und fleckig aus, und nur die mächtigen Stühle und Schränke standen noch in alter Stattlichkeit. Sie hatten dem Zahn der Zeit trotzig die Stirn geboten, und das Einzige was er vermochte, war vielleicht, ihrem Holze einen dunkleren Glanz zu geben und das Zimmer dadurch allerdings noch düsterer zu machen.

„Nun, gefällt es Dir nicht bei uns?" fragte der Knabe.

„Gewiß, gewiß," sagte schnell Marie; „ich hatte mir das hier Alles nur ganz anders gedacht," setzte sie dann langsam und schüchtern hinzu. „Ich glaubte früher, der Staub müsse auf den alten Möbeln handhoch liegen."

„Da kämest Du bei Margareth schön an," lachte der Knabe; „siehst Du, die geht nicht einmal von einer Ecke des Zimmers in die andere, ohne das Wischtuch in der Hand zu haben."

Die alte Wirthschafterin hatte sich bis dahin eifrig damit beschäftigt, die Gardinen und Vorhänge nachzusehen, ob sie auch alle vollständig und doppelt verhängt wären, und drehte sich jetzt zum Licht, als Marie erstaunt ausrief:

„Aber die kenne ich ja auch! Das ist ja die Frau Bause aus der Scharrenstraße, die den kleinen Laden hat, und den Leuten Schmerzen bespricht, und aus Karten und Kaffeesatz künftige Schicksale phrophezeit."

Die alte Frau schmunzelte still und selbstzufrieden vor sich hin und sagte:

„Ich weiß wohl, Mariechen, Du bist ein braves Kind, /27/ und sollst den schönsten Bonbon haben, den ich im Laden finde, wenn Du einmal wieder zu mir kommst; aber prophezeien thue ich Dir nichts."

„Und warum nicht, Frau Bause?"

„Ja, Kinder, ich habe jetzt keine Zeit zum Plaudern," sagte die Alte geschäftig. „Der Herr Qnetzlinberger werden gleich da sein, und dann muß auch das Essen auf dem Tisch stehen."

Ihre Schlüssel aufgreifend, warf sie dabei einen Blick nach rechts und links im Zimmer umher, ob auch Alles in Ordnung sei, und mit ihrem Tuche noch im Vorbeigehen über die eine Commode fahrend, möglicher Weise aufgeflogenen Staub sorgfältig mit fortzunehmen, verschwand sie rasch durch die hintere Thür.

Der Knabe blieb mit Marie im Zimmer stehen, ohne an dem runden Tische, auf dem für vier Personen gedeckt war, Platz zu nehmen. Marie sah aber fragend und auch ein wenig neugierig zu ihm auf; denn in dem dunkeln Zimmer war sie bis jetzt noch gar nicht im Stande gewesen, sein Gesicht deutlich und ordentlich erkennen zu können.

Der junge Bursche mochte ihrer Meinung nach wohl fünfzehn Jahre zählen, und sein Gesicht war zart und selbst schön zu nennen. Die dunkeln, kastanienbraunen Locken kräuselten sich ihm leicht und weich um die hohe Stirn, und die feingeschnittenen Lippen zeigten ein Paar Reihen blendendweißer Zähne. Auch die Augen waren lebhaft und feurig. Dennoch lag etwas in ihnen, das sie schüchtern von ihm zurücktreten machte, wenn sie sich auch keinen Grund dafür anzugeben wußte - und doch lächelte er so freundlich zu ihr nieder. Wunderbarer Weise zog sich ihm eine feine Narbe quer über die ganze Stirn, oben von der rechten Seite bis hinunter und über den linken Schlaf laufend. Und doch war es auch kaum eine Narbe zu nennen, sondern glich mehr einem scharf darüber hingezogenen Schnitte, der gerade nur die Haut verletzt haben konnte, weil er sonst hätte den ganzen Kopf von einander legen müssen.

Wie sie aber noch furchtsam zu der Narbe aufsah und der Knabe sie anlächelte, ging plötzlich die andere Thür auf, und /28/ Herr Quetzlinberger, jetzt nicht mehr im Schlafrock, sondern in einem hochgelben seidenen Frack mit reicher Stickerei, trat herein. Er trug dabei die Haare schön und sorgfältig gepudert, daß das zierlich gedrehte, schlanke Zöpflein, ein wenig nach der linken Schulter hinüberneigend, ihm keck und etwas nach oben gebogen hinten ausstand; dabei ein kleines dreieckiges Hütlein in der Hand, das er aber augenblicklich wieder ablegte, und kurze, ebenfalls gelbseidene Hosen, Strümpfe und Schnallenschuhe.

Mit einer freundlichen, aber etwas formellen Verbeugung gegen das Kind, die dieses in die größte Verlegenheit setzte, ging er jetzt auf den nächsten Stuhl zu, auf den er sich niederließ, und Margareth, die hinter ihm eingetreten war, legte ihm eine große weiße Serviette vorn über die gelbseidene Weste und band sie hinten in einem großmächtigen Knoten zusammen, daß die beiden Zipfel nach rechts und links hinausstanden.

„Aber, Gundelrebe," sagte der alte Herr da plötzlich, als er sich die Serviette gerückt, eine große Tabaksdose aus der Tasche genommen und neben sich niedergestellt, und den Hals ein paar Mal hin und her gedreht hatte, weil ihm die Margareth wahrscheinlich den Knoten etwas zu fest gebunden, „warum führst Du denn Deinen kleinen Gast nicht zu Tisch? Das Essen wird kalt und die Margareth nachher wieder böse."

„Heißt Du Gundelrebe?" fragte Marie den Knaben leise.

„Nicht wahr, das ist ein wunderlicher Name?" lächelte dieser, „aber Onkel nennt mich immer so. Doch nun komm, setze Dich hierher und lange zu und iß und trink. Wenn Du satt bist, führe ich Dich wieder hinüber auf die Treppe."

„Und darf ich dort Alles erzählen, was ich hier gesehen?" fragte die Kleine schüchtern.

„Warum nicht, mein Kind?" lachte da der alte Herr, der indessen schon tüchtig zugelangt hatte und mit beiden Backen kaute. „Warum nicht, mein Herzchen? Sie werden Dir's nur nicht glauben."

„Ich habe noch nie gelogen," sagte Marie. /29/

Der alte Herr Quetzlinberger lachte, wie er das hörte, dermaßen, daß ihm der Bissen, den er gerade im Munde hielt, vor die Luftröhre kam und er furchtbar anfing zu husten. Nachher fing er noch einmal von Neuem an zu lachen, drehte sich dann nach der hinter ihm stehenden Margareth herum und blinzelte sie mit den kleinen verschmitzten Augen gar so komisch an. Die Margareth aber schüttelte den Kopf, und die Haube darauf wurde immer größer und weißer, und zuckte wie in Strahlen nach der Decke hinaus. Das Flüstern des Knaben an ihrer Seite klang Marien dabei wie das Knistern eines lustigen Feuers im Ofen, und in aller Verlegenheit hob sie den schon eine ganze Weile auf der Gabel gehaltenen Bissen an den Mund. So delicat duftete ihr aber die fremdartige Speise entgegen, daß sie bald alles Andere darüber vergaß.

„Oh, wie herrlich das riecht!" rief sie erstaunt aus, „wie nach Vanille und Zucker und Rosen! So etwas habe ich ja in meinem ganzen Leben noch nicht gekostet!"

„Spucken Sie aus, Mariechen, spucken Sie aus!" rief ihr aber die Frau Bause in dem Augenblick, über den Herrn Quetzlinberger weg, zu, „sonst bleiben Sie hier drüben bei uns und können nie wieder hinüber zu Ihrer Frau Mama."

Und wie sie das sagte und Mariechen den Bissen im Munde vor Schrecken festhielt, drehte sich der Herr Ouetzlinberger ärgerlich nach der Frau Bause um, legte sein Messer hin und faßte seine große Dose, als ob er ihr die an den Kopf werfen wollte.

„Iß nur, Mariechen, und laß Dir's schmecken," flüsterte jetzt Gundelrebe an ihrer Seite, „die Frau Bause hat nur Spaß gemacht, und der Onkel wird ihr gleich den Kopf mit der Dose herunterwerfen."

Aber Marie sah nur den Serviettenzipfel und die große spitze Haube, die in weißen Lichtern nach der Decke hinauf auszuckten und blitzten. Zwischen den funkelnden Strahlen heraus, unbekümmert um diese wie um die nach ihr zielende Tabaksdose, rief dabei die Frau Bause immer noch: „Spucken Sie aus, spucken Sie aus!" und jetzt war es Marien plötzlich, als ob ihr die Stimme so bekannt vorkomme und die Frau /30/ Bause das eigentlich gar nicht gerufen hätte. Die Warnung kam ja von Jemandem, der dicht hinter oder neben ihr stand, und den sie bis jetzt noch gar nicht gesehen hatte. War das der für das vierte Couvert erwartete Gast? Kaum hob aber das Köpfchen, so blickte sie in das todtenbleiche lächelnde Gesicht des Zahnarztes, der ihr nachgekommen sein mußte, und wie sich das Zimmer in Schrecken und Entsetzen mit ihr zu drehen anfing, und die regenbogenfarbigen Streifen der Serviettenzipfel und Haubenbänder zu vielfarbigen Kreisen wurden, schloß sie die Augen und lehnte sich in den Stuhl zurück.

„Spuckem Sie nur gefälligst aus!" sagte da die Stimme wieder dicht neben ihr, und eine andere rief: „Gott sei tausendmal gelobt, sie kommt wieder zu sich!"

„Mutter!" rief Marie, halb erschreckt, halb erfreut die Augen zu der geliebten Stimme aufschlagend, „wie bist Du hier hereingekommen?" - Sie fühlte dabei, wie sie in dem Arm der Mutter lag, die sie vornüber gebeugt hielt. Vor ihr aber kniete der entsetzliche Mann mit den Stahlinstrumenten und hielt ein Waschbecken in der Hand, in dem Blut war. Als sie jedoch davor zurückschrecken wollte, rief die Mutter wieder mit zitternder Stimme:

„Sei ruhig, mein Kind - es ist ja Alles glücklich vorüber. - Ach, ich habe es ja gleich gefürchtet, daß es sie zu sehr angreifen würde."

„Aber wie bin ich den wieder hier herübergekommen?" sagte Marie, erstaunt und überrascht dabei um sich herschauend. Sie lag wieder in demselben Lehnstuhl, aus dem sie vor dem schrecklichen Manne geflohen, und weder von Herrn Quetzlinberger noch Gundelrebe war das Mindeste zu sehen. - „Wo ist denn - wo ist denn die Frau Bause?"

„Die Frau Bause!" sagte die Mutter erschreckt; der Arzt winkte ihr aber heimlich zu, der eben Erwachten nicht gleich zu widersprechen, und sagte leise und beruhigend:

„Sie ist eben fortgegangen, liebes Kind. Sehen Sie, nun haben Sie sich vor dem Schmerz gefürchtet, und doch noch nicht das Mindeste, davon gefühlt, nicht wahr? Da, da liegen jetzt die beiden bösen Zähne, die Ihnen so heftiges /31/ Weh verursacht haben. Es sind aber auch recht häßliche Knochen, und der eine hat wirklich eine starke, schon fast reife Fistel, die Ihnen noch hätte viel zu schaffen machen können. Es war die höchste Zeit, daß sie herauskamen. Nun ist aber auch Alles überstanden, und Sie werden in ein paar Tagen wieder so gesund und munter herumspringen, wie nur je."

„Und der Herr Quetzlinberger?" sagte Marie leise.

„Aber, Mariechen!" bat die Mutter, ihre Stirn streichelnd.

„Lassen Sie nur, lassen Sie nur, beste Frau Regierungsräthin," beschwichtigte sie der Arzt. „Das giebt sich Alles von selber wieder."

„Ich habe ihr neulich von dem alten Mann erzählt," sagte die Mutter, noch immer mit ängstlicher Besorgniß in den Zügen, „und das hat sich ihr jetzt am Ende in den Kopf gesetzt."

„Sie hat das geträumt," lächelte der Arzt; „wir haben davon manchmal die wunderlichsten Beispiele, und bei den gefährlichsten Operationen singen die Kranken nicht selten, oder träumen die schönsten, angenehmsten Sachen. Lassen Sie die Kleine eine Stunde schlafen, dann ist Alles vorüber und das Ganze wie ein Rausch verflogen, mit dem es auch in seinen Wirkungen eine Aehnlichkeit hat."

Marie blickte in Zweifel und Schwanken zu dem Sprechenden auf, aber der Einfluß des Aethers lag noch zu lähmend auf ihrem Geiste, um sie schon irgend einen Gedanken klar fassen zu lassen.

„Nur ein Traum," hauchte sie leise, und sank dann, die Augen schließend, in den Stuhl zurück, wo sie bald darauf in einen leisen, wohlthätigen Schlummer fiel.

Der Arzt verließ, von seinem Erfolge vollkommen befriedigt, leise das Zimmer, und die Mutter saß neben dem kranken Kinde und bewachte mit liebender Sorgfalt, aber auch mit schon halb getröstetem Herzen die ruhigen, regelmäßigen Athemzüge der Schlafenden. /32/

III.

Marie schlief die ganze Nacht ununterbrochen, aber nicht so sanft und ruhig fort, wie nach der ersten erschlaffenden Wirkung des Aethers. Sie träumte lebhaft, sprach oft einzelne unzusammenhängende Worte, lachte einige Mal und faßte auch wohl krampfhaft und wie ängstlich der Mutter Hand, die nicht von ihrer Seite wich. Nichtsdestoweniger stand die Sonne schon hoch am Himmel, als sie endlich erwachte, oder vielmehr die Augen öffnete, und halb träumend noch umherschaute. Kurz vorher hatte der Hausarzt das Zimmer wieder betreten und hielt jetzt die linke Hand, den Gang des Pulses zu fühlen, während ihre Rechte in der der Mutter ruhte.

 

„Mutter," flüsterte das Kind endlich leise, „liebe Mutter!"

„Ja, mein Kind, ich bin bei Dir," sagte diese, sie an sich drückend und küssend. „Ich gehe nicht fort von Dir. Halte Dich nur ruhig, und Du wirst bald wieder vollkommen wohl sein."

„Und darf ich dann auch wieder einmal zum Herrn Quetzlinberger und zu Gundelrebe hinüber, liebe Mutter?" fragte Marie. Die arme Frau seufzte recht tief auf, denn was das Kind aus seinem Traume sprach, klang ihr gar zu unheimlich.

„Besinne Dich doch nur, Mariechen," bat sie endlich mit zärtlicher Stimme; „Du hast ja das Alles nur, von dem Aether betäubt, geträumt und bist ja die ganze Zeit nicht hier aus dem Lehnstuhl, nicht aus der Stube hinaus gekommen."

„Nicht?" sagte Marie, rasch und erstaunt zu ihr aufschauend, „und ich wäre nicht nebenan in dem alten Hause gewesen?"

„Mit keinem Fuße, Kind."

„Aber die Thür stand doch offen."

„Welche Thür?"

„Nun, die an der Treppe, an der Gundelrebe schon so oft geklopft hat, wenn ich oder jemand Anderes vorüberging." /33/

„Gundelrebe? wer um Gottes willen ist Gundelrebe?" fragte die Mutter, der die Thränen in die Augen traten.

„Gundelrebe? ei, das ist ja der Neffe des alten Herrn Quetzlinberger, der die feine, schmale Narbe über der Stirn hat."

Der Arzt hatte indessen noch immer ihre Hand gehalten; den Puls aber vollkommen frei von Fieber fühlend, sagte er freundlich:

„Du bist gestern nicht aus der Stube gekommen, liebes Kind, und wie Dir Deine Mutter sagt, ist sie nicht von Deiner Seite gewichen; das darfst Du glauben. Wenn Du also wirklich fortgewesen wärest, müßte sie Dich doch gleich vermißt haben, nicht wahr? Ueberdies möchte es Dir auch schwer geworden sein, in das alte Haus hinein zu kommen."

„Aber ich bin nun doch einmal drüben gewesen und habe es mit meinen eigenen Augen gesehen," sagte tief erröthend das Kind. Es fiel ihm jetzt wieder ein, was ihr der alte Herr Quetzlinberger gesagt hatte, daß es ihr Niemand glauben würde, und wie er dann fast erstickt war von heftigem Husten. Sie deckte dabei ihre bleiche Stirn mit beiden, fast durchsichtig dünnen Händchen und hielt eine ganze Zeit lang die Augen geschlossen. Unten von der Treppe schallte indessen Hämmern und Pochen herauf, und nachdem Marie kurze Zeit dem fremdartigen Geräusch, auf das sie erst nach und nach aufmerksam wurde, gelauscht hatte, fragte sie leise:

„Was ist das, Mama?"

„Das ist die häßliche Thür," erwiderte die Mutter, indem sie liebkosend das Haar von der Stirn der Kranken strich, „die häßliche Thür, die uns schon so viel Aerger, Noth und Sorge gemacht hat, und die der Rath der Stadt endlich auf Deines Vaters ernste und entschiedene Vorstellungen zu¬mauern läßt."

„Die Tür ist offen?" rief aber Marie schnell; „siehst Du, Mama, daß ich Recht gehabt und nicht gelogen habe?"

„Aber Du hörst ja, daß sie erst heute Morgen geöffnet wurde! rief die Mutter - „die Leute haben erst vor kaum einer halben Stunde damit begonnen." /34/

„Und darf ich einmal hineingehen in den Gang?" fragte schüchtern Marie.

„Gott bewahre!" rief da rasch der Arzt, „wir müssen jede solche unnöthige und thörichte Aufregung streng vermeiden, und man soll um Gottes willen nicht mit solch' albernen Geschichten spielen und Mißbrauch treiben. In die alte, unnütze Thür kommt jetzt, wie mir die Leute unten sagten, eine vier Fuß dicke Mauer, und das wird dem verrückten Mädchenschnack hier im Hause endlich einmal ein Ziel setzen. Der Herr Regierungsrath hätte das schon lange betreiben sollen."

„Eine vier Fuß dicke Mauer!" seufzte Marie leise vor sich hin; „aber du lieber Gott, da kann ja..." Sie hielt plötzlich ein und blickte still und erröthend vor sich nieder, als ob sie sich scheue, das auszusprechen, was sie gerade überdacht.

„Was, mein liebes Kind - was kann? - was meinst Du?" fragte die Mutter. Marie barg das Köpfchen an ihrer Brust, schüttelte es aber dabei und sagte leise:

„Nichts, nichts, liebe Mutter - der Traum will mir noch immer nicht aus dem Sinn - er war gar zu lebhaft und ... und das Hämmern und Klopfen da unten thut mir weh. Müssen sie denn solch' eine dicke Mauer in die Thür setzen?"

„Gewiß, Marie," beruhigte sie die Mutter. „Es ist der Leute wegen, damit das tolle Gerede endlich einmal aufhört." Ein eigener Gedanke schien aus des Kindes Auge zu blitzen, und zu dem Doctor rasch und mißtrauisch aufschauend, sagte sie:

„Aber weshalb vier Fuß dick, Doctor? Wenn wirklich Niemand dahinter klopft und hindurch will, wäre doch die eiserne Thür allein genug gewesen - und wenn..."

„Und wenn - Marie?" fragte die Mutter, dem Doctor dabei einen ängstlichen Blick zuwerfend.

„Und wenn nun doch Gundelrebe," fuhr das Mädchen, sich ein Herz fassend, fort, „wenn nun doch Gundelrebe in dem dunkeln Gange säße, wäre es da nicht traurig, ihm jede Hoffnung abzuschneiden je heraus zu kommen, und müßte er dann nicht in Jammer und Einsamkeit da drinnen vergehen ?" /35/

„Papperlapapp!" lachte der Doctor, „quäle Dich nur jetzt nicht mit solch' albernen Ideen! Die dicke Mauer wird nicht aus Furcht vorgesetzt, daß irgend Jemand von innen herausbrechen könnte, sondern nur um das Gesinde zu beruhigen und die Thür selber zu entfernen. Wenn die erst einmal fort ist und solch ein Haufen Backsteine dasteht, werden auch die Furchtsamsten Muth bekommen und nicht mehr an Geister denken. Säße aber wirklich Dein Gundelrebe dahinter, so könnte er zu irgend einem Fenster oder Kellerloch oder oben zum Dach deshalb noch immer mit Bequemlichkeit herauskommen. Die Fenster sind ja doch nicht zugemauert, und selbst ein gewöhnlicher Mensch könnte von innen herauskommen, wie viel mehr denn ein Geist! Mach' Dir also darüber ja keine unnützen Sorgen, Marie; schlafe jetzt hübsch und halte Dich ein paar Tage ruhig, bis sich die Schmerzen im Zahnfleisch und die Folgen des Aethers verloren haben. Sobald Du dann neue Kräfte gesammelt hast, werden Dir auch die traurigen und überspannten Gedanken vergehen, und Du wirst wieder unser munteres, braves Mariechen sein, wie in früherer Zeit."

Marie war seinen Worten mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt, und als er die Fenster und Kellerlöcher erwähnte, nickte sie ihm leise und lächelnd zu. Dann sank sie wieder, die Augen schließend, auf ihr Kissen zurück. Die Kranke schien übrigens mit diesem Gespräch eine Art von Krisis überstanden zu haben. Sie schlief fast den ganzen Tag vollkommen ruhig, wachte gegen Abend auf und genoß etwas, und verbrachte dann eine eben so ruhige Nacht, ohne ein einziges Mal mehr das alte Haus, den Herrn Quetzlinberger oder Gundelrebe zu erwähnen. Die Mutter kam übrigens in der Zeit gar nicht von ihrem Bette, und schlief selbst die Nacht auf dem Sopha neben ihr. Die nächsten Tage fühlte sich Marie viel kräftiger und wieder ziemlich wohl, und da sich die Eltern jede Mühe gaben, sie zu zerstreuen und aufzuheitern, so wurden die Bilder jenes Abends, die ihr mit so merkwürdiger Schärfe vor der Seele gestanden, schwächer und schwächer. Ihre Umrisse verloren erst an Klarheit, und mit anderen Träumen, die sie später geträumt, ver-/36/schwamm das Ganze endlich zu einem wohl immer noch wunderlichen, aber doch wirren Bilde, dessen einzelne Gestalten sie schon nicht mehr so genau abzuscheiden vermochte, und die deshalb auch bald ihre Macht über sie verloren.

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»