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III
Die Prekarisierung wurde in Europa politisch erzeugt, einerseits durch die Lockerung der Arbeitsrechte, andererseits aber auch durch die Privatisierung der einstigen staatlichen Aufgaben. Der Staat als Arbeitgeber schuf in den Zeiten des Wohlfühlkapitalismus eine Stabilität, die auch weniger wettbewerbsorientierte und leistungsbereite Menschen bescheiden aber sicher ernährte, und ein Instrument, das als antizyklische Korrektur eingesetzt werden konnte. Insgesamt ging die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst zwischen 1991 und 2006 um 32,1% zurück, ähnlich im Energie- und Versorgungsbereich, im öffentlichen Personenverkehr betrug der Arbeitsplatzabbau immer noch 9,6 %. Gleichzeitig bemühten sich staatliche Organisationen wie die Post, langfristige Arbeitsverträge in schlechter bezahlte Arbeitsbedingungen umzuwandeln. Die Konkurrenten konnten gegen diese Unternehmen nur bestehen, indem sie die Prekarisierung ihrer Arbeitsplätze noch weiter trieben. Weniger Arbeitnehmer müssen mehr Arbeit für weniger Lohn verrichten. Im selben Zeitraum ist für das Pflegeperson in deutschen Krankenhäusern die Zahl der zu betreuenden Patienten pro Pflegekraft um 30% gestiegen. Die Prekarisierung betraf in den neunziger Jahren nur ein Segment des Arbeitsmarktes, von dem traditionelle »Belegschaften« noch nicht betroffen waren. Die Entwicklung eines Zwei-Klassen-Arbeitsmarktes blieb lange Zeit ebenso unbemerkt wie die Ausbreitung dieses Sektors nicht nur in immer weitere Bereiche des Wirtschaftslebens, sondern vor allem von Generation zu Generation. In Deutschland beträgt der Anteil der Niedriglöhner rund ein Viertel der arbeitenden Menschen, und zur gleichen Zeit wurden die Sozialleistungen (der von der rot-grünen Koalition geführte Kampf gegen die »Lohnnebenkosten«) in etlichen Bereichen drastisch gekürzt, die Infrastruktur wurde vernachlässigt, die Altersvorsorge zurückgeschraubt. Ab einem bestimmten Status, der zu Beginn des neuen Jahrtausends schon annähernd erreicht war, wird die Prekarisierung zum Selbstläufer; der Druck auf die Erwerbslosen ist groß genug, dass man sie zwingen kann, unter beinahe allen Bedingungen jeden sich bietenden Arbeitsplatz zu akzeptieren. Auch die Gewerkschaften schlossen sich schließlich ohne nennenswerte Gegenwehr der Prekarisierung unter dem Motto »Leiharbeit ist besser als gar keine Arbeit« an.
Eine besondere Art des Kognitariats sind die so genannten »Crowdworker«, die Datenarbeiter des Internets, die überall auf der Welt arbeiten können und deren Arbeit an allen Ecken und Enden der Welt wirkt. (Der größte Markt für das Crowdworking nach den USA ist Indien.) Das Funktionieren dieser Organisation von Minijobs hat in dankenswerter Klarheit der amerikanische Crowdwork-Makler Lukas Biewald ausgedrückt: »Mit dieser Technologie kannst du tatsächlich jemanden finden, bezahlst ihm einen winzigen Geldbetrag und wirst ihn dann los, wenn du ihn nicht mehr brauchst.« Unter solchen Umständen entstehen zum Beispiel Texte für das Internet im Akkord, die keinen anderen Zweck haben, als möglichst viele Suchmaschinen-Klicks zu generieren. Niemand macht sich Gedanken darüber, dass aus solcher ausbeuterischen Arbeit von semantischer Sinn-Zerstörung auch der Verfall von Sprache und Diskurs einhergeht, ganz zu schweigen von jeder Art Solidarität: Zum Crowdworking gehört es, die Arbeit der unbekannten Kolleginnen und Kollegen zu kontrollieren, zu reparieren und zu zensieren. Ein Crowdworker sorgt mit seiner Arbeit dafür, dass die Arbeit eines anderen zunichte gemacht wird. Wer zu viele Fehler macht, wird sehr rasch aus der Crowd hinausgeschmissen, schließlich warten genügend andere auf seinen Job. Irgendeine Form der Absicherung gibt es nicht. Die Gewerkschaft verdi schätzt, dass in Deutschland etwa eine Million Menschen haupt- oder nebenberuflich als crowdworker arbeiten, darunter auch viele akademisch Ausgebildete oder Berufstätige, die einen Zuverdienst brauchen. (2016 wurde eine »Frankfurter Erklärung zu plattformbasierter Arbeit« mit der Forderung nach fairem Lohn und Sozialversicherung veröffentlicht; sie verhallte ohne Wirkung.) Crowdworking ersetzt mittlerweile auch schon »anspruchsvollere« Tätigkeiten von Werbetexten, Redaktionen und Lektoraten. Wenn man unter Pop auch all die codierten Kommunikationen des Alltags zur Beschleunigung der Waren- und Finanzflüsse versteht, so wird die Basis der Popkultur einerseits durch Algorithmen bestimmt, social bots, die wolkenförmig Bilder, Meinungen, Stimmungen etc. erzeugen, und durch crowdworking.
Das Prekariat, von seiner Luxus- und Bildungshöhe herab bis in die Tiefen aussichtsloser Quasi-Arbeitslosigkeit und des working poor, scheint einer neuen Form der Sklaverei näher zu sein als einer neuen Form von Proletariat. Es unterscheidet sich von einer Arbeiterklasse dadurch, dass sie durchlässig ist (es kann jeden treffen: weder Biographie noch Ausbildung, nicht einmal Qualifikation und Einsatz sind Kriterien, die dauerhaft gegen die Auflösung im Prekariat schützen), dass es so vielgestaltig ist, dass es schwer fällt, die einzelnen prekären Lebensweisen kommunikativ miteinander zu verbinden, und dadurch, dass es keine einheitliche Kultur, einschließlich einer mehr oder weniger einheitlichen Funktion von Religion und Religionsersatz, mehr entfalten kann. So wird das Prekariat zur Klasse, die für den permanenten kulturellen Zerfall sorgt. Und natürlich verhält es sich auch genau umgekehrt: Der kulturelle Zerfall, der eine Notwendigkeit der Kulturindustrie angesichts des Falls der Profitraten ist, erzeugt wiederum prekäre Lebensumstände. Lebensumstände, in denen man für diesen Zerfall dankbar sein muss, denn er erzeugt (zyklisch) jene Nischen, in denen sich wiederum prekäre Arbeitsbiographien ansiedeln können. Prekarisierung ist mithin toxisch: Jede Prekarisierung tendiert dazu, weitere Prekarisierungen nach sich zu ziehen, während die Algorithmisierung und das crowdworking bereits die nächste Phase der Abwertung der (kulturellen) Arbeit einleitet.
Der Subjektcharakter der prekären Lebensweise ist wesentlich prägender als der Klassencharakter, zumal die angebotene Kultur (Pop und Kulturindustrie) darauf abzielt, kein »Klassenbewusstsein« für das Prekariat zuzulassen. Die Kulturkämpfe der Rechten und die Kommerzattacken des neoliberalisierten Medienmarktes treffen sich genau in diesem Punkt: Der Verhinderung einer Solidarisierung und Politisierung im Prekariat. Diese Klasse ist auf die kleinsten Partikel hinunter gespalten, und die Spaltung ist ökonomisches und politisches Ziel der Postdemokratie. Denn würde sich das Prekariat wirklich zu einer Klasse und zu einem politischen Subjekt verbinden, das weder auf die Trostangebote des Mainstreams noch auf die Sündenbock- und Verschwörungsphantasmen des Rechtspopulismus hereinfällt, sondern ein Bewusstsein davon entwickeln würde, wie und von wem es ausgebeutet und verachtet wird, dann wäre sie die Kraft, die wirkliche Veränderung herbeiführen könnte, vor allem dann, wenn sich ein Teil der »alten« Lohnabhängigen, statt sich von ihr zu distanzieren, mit ihr verbünden würde.
Wenn sich das Prekariat als Klasse erkennt, wird es für das Kapital gefährlich oder immerhin lästig. Es reagiert daher mit Mitteln, die wir aus seiner analogen und materiellen Phase kennen: Mit dem Mythos (alle Insassen des Prekariats erinnern sich ursprünglicher Klassen und Milieus, denen sie entstammen und wähnen sich in einer Erzählung, die entweder von einer Krise in dieser verlorenen Identität erzählen, oder einer Krise zwischen Gesellschaft und der verlorenen Identität, und eine Krise könnte ja auch einmal wieder überwunden werden), mit der Ideologie (du kannst es schaffen, du musst es schaffen, du darfst an nichts anderes denken oder du bist selber schuld) und mit der Faschisierung. Ob die Mitläufer, Gröhler und Täter von Pegida und ähnlichem wohl wissen, dass sich ihre Aggression gegen die ganz und gar Falschen richtet, gegen einen Sündenbock? Egal: Sie leben in einer Kultur, die diese Aggression erlaubt, und sie werden nachher von nichts gewusst haben.
Die verbotene oder unmögliche Solidarität einer Klasse wird ersetzt durch das Phantasma einer völkischen Gemeinschaft. Eine solche stellt sich nicht durch Erfahrung und Erkenntnis, sondern durch die Behauptung und die Praxis der Gewalt her. Wer völkische Gemeinschaft werden will, muss jemand haben, der zu fürchten, zu hassen und zu verachten ist. Dieser Feind, der zum Opfer werden muss, ist nicht weniger abstrakt als die »Volksgemeinschaft« selber; zwingend ist nur die Gier danach. Die Beziehung von Prekarisierung und Faschisierung ist kompliziert; keinesfalls ist es jedoch so, dass die Prekarisierung biographisch und kulturell direkt den Faschisierungsdruck erhöht. Allerdings verhindert sie ein wirksames Gegengewicht.
So stellen sich drei Fragen:
Wo und inwieweit war es populäre Kultur, die die Faschisierung vorbereitet hat?
Wo und inwieweit begleitet und widerspiegelt populäre Kultur die Faschisierung der Gesellschaft des Prekariats?
Wo und inwieweit kann Popkultur der Faschisierung der Gesellschaft etwas entgegensetzen?
Angesichts dieser Fragen wird unserem prekär beschäftigten Popkritiker natürlich extrem mulmig. Denn sie zu beantworten fehlt ihm sowohl der gesellschaftliche Auftrag als auch eine ökonomische Basis. Vielleicht – so argwöhnt er, zu leichten Anfällen von Paranoia tendierend – hat man ihn gerade deshalb prekarisiert, damit er diese Fragen weder stellen noch verbreiten kann. (Jedenfalls würde sich auf diese Weise ein Kreis schließen, was wenigstens seiner Sehnsucht nach Zusammenhängen zupass käme.)
Der Kulturkampf, der gegen die prekäre Klasse und ihre Verbündeten geführt wird, mit religiösem Fundamentalismus ebenso wie mit Verblödungsstrategien der Medien, mit dem völkischen Gemeinschaftsversprechen der neuen Nazis ebenso wie mit den Ideologien von individuellem Aufstieg, von Freiheit und subjektiven Chancen geführt, und dies von einer unheilvollen Allianz aus neoliberalem Kapital, Rechtspopulismus und postdemokratischer Politik. Jeder AfD-Auftritt, jedes Dschungelcamp, jede Sonntagsrede, jede Werbekampagne, jede städtebauliche (Fehl-)Entscheidung spricht genau von diesem Kulturkampf. Denn der Rechte nimmt genau das auf, was der Linke gerade verlieren musste, nämlich das Bewusstsein davon, dass populäre Kultur eben nicht primär von einem Oben/Unten-Klassismus bestimmt ist, sondern von einem Kulturkampf zwischen rechts und links.
Was aber bedeutet rechts und links im allgemeinen und in der Popkultur im besonderen, wo doch schon das Erwähnen von Klassen, von rechts und links, von Kapital und Arbeit als hoffnungslos old school betrachtet wird? Vereinfacht könnte man sagen: Links ist die Hoffnung, die arbeitenden Menschen könnten sich gegen das Kapital und gegen seine politische Herrschaft erheben, um eine gerechtere Welt zu erschaffen. Rechts ist die Hoffnung, sich als privilegierte, identifizierte (»identitäre«) und exkludierende Gruppe in den Dienst von Kapital und Herrschaft stellen zu können, um Teil der Aneignung der Welt zu werden – und sei’s als Wärter, Krieger oder Folterknecht. Schon von daher wäre es erst einmal ziemlich einfach, »linke« von »rechten« Inhalten in der Popkultur zu unterscheiden und zwar weit über jene Elemente hinausgehend, die sich selber dezidiert als links oder rechts zu erkennen geben.
Wir ähneln insofern eher den Sklaven als den Lohnabhängigen, als es auf der einen Seite allein durch Schicksal und Geschichte (durch Kriegsglück, dumme Zufälle, durch Verrat und Korruption, vor allem aber und immer wieder: durch Gewalt) geschieht, dass jemand (ein Mensch, eine Gruppe, ein ganzes Volk wie in der Bibel) in die Sklaverei geraten kann, als auch durch wundersame Umstände, durch Befreiung und Flucht, aber auch durch Akte von Gnade, von Verrat, List und psychische Kriegsführung gegen die »Herren« wieder aus ihr herauskommen kann; stets nur als einzelner oder als »Auserwählte«. Die Befreiung der Kinder Israels aus der ägyptischen Sklaverei bedeutete nicht das Ende der Sklaverei.
So wie es die unterschiedlichsten Formen der Sklaverei gibt, von brutalen und tödlichen Feld- und Bauarbeiten über den Kriegsdienst bis zur privilegierten Stellung am Hof oder in der Universität, wo ein Sklave mit Verachtung auf den anderen blicken kann, vor allem, wenn man nicht der gleichen Familie, dem gleichen Volk, der gleichen Kultur angehört, so gibt es auch die unterschiedlichsten Formen des Prekariats. Wie es viele Sklaven gab, denen es besser erging als den untersten Schichten der »Freien«, so gibt es natürlich viele Prekäre, die auf größerem Fuß leben als die gewöhnlichen Arbeitnehmer und Lohnabhängigen.
Die Prekären sind verbunden und getrennt durch die Produktion der populären Kultur. Die Kultur ist es, die auch die ökonomisch noch so nahen Menschen voneinander trennen und es unmöglich macht, dass man miteinander ins Gespräch kommt, sich womöglich politisch organisiert.
Popkultur hat also die gleiche Aufgabe wie Religion (wir sind wieder in Gramscis Modell), nämlich eine Gemeinschaft zu bilden, die zugleich durch sie geeint und in sich gespalten ist. Dabei ist die Legitimierung der Spaltung nur der geringste (wenngleich der Aufklärung zunächst am verdächtigsten erscheinende) Aspekt. Die drei Aufgaben sind vielmehr
Legitimation
Überhöhung
Trost (»Opium des Volkes«)
Aufhebung des Widerspruchs (Mythos)
Unterhaltung (Beschäftigung und Bindung der Leidenschaften)
Gemeinschaft (das Fernseherlebnis als Gesprächsbasis)
Integration (man kann uns beinahe alles erzählen, wenn es nur unterhaltsam ist) usw.
Aber auch die dissidenten und subversiven Elemente sind hier zu finden. Jede Sklavenreligion ist immer auch um einen heißen Kern der Befreiungsreligion herum organisiert. Und so, wie ein linker Popkritiker stets auf der Hut sein muss, vor den »affirmativen«, den unterdrückenden, anpasserischen, konformistischen, manipulierenden, verdummenden und verrohenden Elementen ihres Gegenstandes, so müssen sie auch auf der nimmermüden Suche nach den Befreiungshoffnungen darin sein. Aber was sich da befreien will, ist nicht immer nach dem Geschmack des linksliberalen Kritikers. Der angewandte Gramsciismus der cultural studies lässt mittlerweile, verglichen mit dem ideologiekritischen Rigorismus früherer Zeiten, ganz zu schweigen vom düsteren Bild der kritischen Theorie, zwar ein differenzierteres Bild der Popkultur zu, aber immer noch müssen wir im Vagen bleiben, wenn es darum geht, zu beschreiben, wie eigentlich Beeinflussung und Widerspiegelung sich zueinander verhalten.
Zweifellos ist Pop ein Wegbereiter der Prekarisierung, und Pop ist es auch, was daran erinnert, dass die Deregulierung der Arbeit nicht per se etwas schlechtes ist, sondern das erst durch die Umstände wird, in denen sie geschieht. Heute viel und morgen wenig arbeiten, heute dies und morgen das, heute reich sein und morgen, sagen wir, recht und schlecht versorgt, heute lehrend und morgen lernend, heute mit der Hand und morgen mit dem Kopf arbeiten, heute drinnen und morgen draußen und vieles andere, das wäre ja nicht das Schlechteste, allerdings nur unter zwei Voraussetzungen: Erstens müsste dies alles wirklich in der Entscheidungsfreiheit der Menschen liegen, die wissen, dass »Vollzeit-Arbeit für Alle«, noch dazu sinnvolle Arbeit für alle nicht mehr drin sind, und sie müssten ein Interesse und ein Vergnügen am Teilen der Arbeit entwickeln können, und zweitens dürfte die Deregulierung nicht zu einer wahrhaft apokalyptischen Ungerechtigkeit und beständigen Elendsdrohung führen.
Tatsächlich also könnten wir behaupten (wenn auch über gewisse Spiegelungen): Pop rettet das Utopische in der neuen Arbeitswelt, nicht nur in Form der gewaltigen Aufstiegshoffnung – gestern Fensterputzer, heute Sieger in einer Casting Show, morgen Superstar in Funk und Fernsehen, oder heute ein paar dutzend Follower und morgen Website-Queen –, sondern vor allem in der Form der Un-Entfremdung: Ich werde jemand durch genau das, was ich bin (und wenn ich kaufkrank oder magersüchtig bin, dann werde ich eben Supermodell der Shopaholics oder der Barbie-Fetischisten). Nichts, was ich bin (und sei es meine Vorliebe für guatemaltekische Archäologie), das nicht als Pop zur ökonomischen Verwertung kommen kann. Eine Gesellschaft des Prekariats ist nicht vorstellbar, die nicht zugleich eine Gesellschaft des Pop ist (also etwas ganz anderes als ihr Vorläufer, die Gesellschaft mit Pop). Pop ist nicht mehr das Instrument oder das Medium dieser Gesellschaft des Prekariats, sondern Pop ist ihr Wesen. Auch die politische Ökonomie dieser Gesellschaft ist vor allem Pop-förmig; auch Aktien und andere Finanztitel haben ihren nahezu ausschließlichen Wert in der Performance. Jeder ist so viel wert, dass man andere damit beeindrucken kann. So wie das Spektakel nach Debord die Proletarisierung vorantrieb, treibt der Performance-Druck die Prekarisierung voran.
In der Gesellschaft des Prekariats ist auch die Arbeit Pop-förmig. Ob das gut oder schlecht ist, kommt natürlich auf die Umstände an. Die Kehrseite davon freilich bedeutet: Pop ist in der Gesellschaft des Prekariats arbeitsförmig. Sie entsteht nicht aus dem Überschuss, sondern aus dem Zwang. Damit ist nun nicht mehr das schweißtreibende Handwerk gemeint, das wir so gerne mit »handgemachter« Musik verbinden (und für eine Zeit im Heavy Metal so etwas wie die Reminiszenz an Hochöfen, Bergarbeit oder Fließbänder sahen mit der strengen und »männlichen« Kumpelhaftigkeit in der gegenseitigen Abhängigkeit, so wie wir dann im »Industrial« schon wieder eine Reminiszenz an verlorene analoge Maschinen und urbane Brachen wie in einem frühen David-Lynch-Film sahen), sondern gemeint ist mit der Arbeitsförmigkeit von Pop das Primat ihrer Verwertung.
Der Pop, der aus der Casting Show kommt, unterscheidet sich fundamental von dem Pop, der aus den Kellern kommt, weil er in seinem Wettbewerbscharakter ausschließt, eine »Szene« zu bilden und dafür allenfalls auf »Allianzen« setzt. Eine Szene produziert zwar Stars und damit auch so etwas wie »Gewinner«, aber sie untersagt sich mehr oder weniger glücklich die Produktion von Verlierern. Das exakte Gegenteil findet im Casting-Pop statt. Und damit schließt sich erneut ein Kreis: Die Szene war stets auch so etwas wie ein Safe Space, in dem man einerseits herausfinden konnte, was in einem steckt, die einen aber andererseits auch nicht tief fallen ließ (solange man nicht ein wahrer Verräter an ihren Werten und Zeichen wurde). Die Ästhetik der Oberfläche, die eine Zeit lang den Pop-Diskurs so beherrschte, als wäre der Stein der Weisen gefunden worden, die Betonung des Look gegenüber den Aussagen (im Kino wie in der Musik) sagt semantisch viel weniger aus als ideologisch. Denn was bedeutet es schon, den Signifikanten gegenüber dem Signifikat oder die Inszenierung gegenüber dem Text zu betonen? Mehr als die verblüffende Aussage, dass Pop ästhetisch ist, kommt nicht dabei heraus. Und wenn es keinen Innenraum gibt, gibt es auch keine Oberfläche. Was sich verändert, sind die Grammatiken zwischen beidem. Es ist eine Frage der Erfahrungen aus Alltag und Arbeit, ob man sich einer Sache (einer Idee, einem Wunsch, einem Interesse, einer Aussage etc.) über die Oberfläche oder über den Innenraum nähert. Mittlerweile trifft der Kunst-Diskurs auf einen Andy Warhol, der einst als Meister der Oberfläche angesehen wurde, und nun zur Tiefenanalyse unserer Kulturgeschichte taugt.
Das Prekariat ist mithin die Synthese aus Sklaverei, Lohnarbeit und »freiem Unternehmertum«, in der es, was das eigene Fortkommen angeht, vor allem auf Performance und Kreativität ankommt. Wir sind in dieser Klasse, die keine ist, zugleich Sklaven und Kapitalisten in der Form ursprünglicher Akkumulation. Wir müssen uns zugleich als Unterwürfige zeigen und als hemmungslose Kleptomane, wir müssen fatalistisch und zugleich unendlich »hungrig« sein. Es ist aber auch, wie zum Beispiel Nina Power sagt, eine »Feminisierung« der Arbeit, also die Veränderung der Arbeit hin zu Arbeitsweisen, die früher als »typisch weiblich« konnotiert waren, performativ, »sozial«, flexibel und »bescheiden«. Prekarisierung trifft nicht nur die unteren, sondern auch die oberen Einkommensschichten.
Wir haben unseren Ausdruck etwa in TV-Serien wie »Girls« (Netflix), der von Zwanzig-und-Etwas-Frauen in New York handelt, die zwar höchst unterschiedlich sind, und oft gar nicht genau wissen, warum sie eigentlich so zu zusammenhocken, die aber alle in prekären Verhältnissen als ewige Praktikantinnen, als Galeriemitarbeiterin, als Babysitterin usw. leben und gelegentlich auch vor demütigenden Jobs (wie dem Nacktputzen) nicht zurückschrecken (nur um das Geld für ein L’il Wayne-Konzert zusammenzukriegen). »Breaking Bad«, »Mad Men«, »Girls« oder »Sex and the City« begleiten auf unterschiedlich drastische Weise die jeweils nächsten Phasen der Prekarisierung und erklären den entsprechenden Wertewandel.
Neben der Popkultur, die uns auf einer hohen Ebene alle gleich macht, und auf einer niederen Ebene massiv trennt, wie die Höllenkreise voneinander getrennt sind, ist es die Vorstellung von diesem »System«, von der Identifikation mit einem »homo oeconomicus«, die uns bindet.
Die Pointe ist, dass der Geist des Neoliberalismus, die Idee einer alles umfassenden wirtschaftlichen Denkweise, in der es längst keinen »freien Markt« mehr gibt, sondern nur noch ein Überleben der Starken, Bösen und Gemeinen, ausschließlich aus ihrer Negation heraus verstanden wird. Denn nur durch einen äußeren Gegner, eine moralische und rationale Kritik, die durch schiere Evidenz funktioniert.
So wenig es einen Kapitalismus ohne menschliche Arbeit gibt, auch wenn diese vorwiegend in der Herstellung einer Hierarchie-Simulation besteht, so wenig also gibt es einen klassenlosen Kapitalismus. Der deutet sich in der Idee der 99% an und in den wiederkehrenden Bildern der populären Kultur von abgehobenen, weit oben über dem brodelnden Volk thronenden Konzernherren/Schöpfergöttern des neuen Zeitalters. Ebenso spiegelt sich diese Vorstellung von einer klassenlosen Kapitalisierung in der Phantasie von »Establishment« und »Volk« wieder. Und auch in diesem Mythos nähern wir uns wieder dem feudalen Mittelalter an. Sowohl die elitäre Geste als auch die populistische will darüber hinwegtäuschen, dass es sehr wohl noch Klassen gibt. Nur muss uns klar werden, dass ökonomische, politische, kulturelle und alltägliche Klassen nicht mehr miteinander verbunden werden können. Dass eine kulturell verachtete Klasse zur ökonomisch herrschenden werden kann, dass aber auch politisches vom ökonomischen Bewusstsein (der eigenen Position) getrennt sind, erzeugt die neuen Spannungen, denen wir einigermaßen ratlos gegenüberstehen. (Wer will kann eine Analogie in der Auseinandersetzung zwischen Plebejern und Patriziern im alten Rom sehen, die mit einem Sieg der reichen Plebejer endete.)
Daher fragen sich auch »linke« Theoretiker, was zur Hölle zwischen der Linken und dem Proletariat schief gelaufen ist und suchen folgerichtig die Schuld vor allem bei sich selbst (denn »das Proletariat« ist schließlich heilig), ohne zu überlegen, was mit der Schicht der Intellektuellen und mit der Klasse des Proletariats geschehen ist. Einen organischen Intellektuellen in Gramscis Sinn (also einen, der nicht nur selbst seine Parteilichkeit formuliert, sondern auch Teil von Alltag, Sprache und Kultur der Klasse ist, der er sich zugehörig fühlt) kann es nur insoweit geben, als kulturelle (»kognitive«) und ökonomische Interessen miteinander zu verbinden sind.
Dabei wäre beides zunächst eher einfacher als früher. Kaum ein Intellektueller hat noch den »bürgerlichen Hintergrund«, von dem er sich manchmal unter großen Widerständen und Schmerzen lösen muss, und weil es offenere und »demokratischere« Foren und Medien gibt, wären auch technische Hürden rascher zu nehmen. Aber wir wissen, was geschah: Statt der erhofften Netzdemokratie und einer Offenheit von Wissen und Diskursen entstand das Schlachtfeld der Shit Storms und der Botisierungen.
So entsteht (nicht nur durch Pop, aber auch nicht ohne die Unterhaltungsmedien) ein negatives Klassenbewusstsein. Das besteht zum einen in einer mythischen Selbst-Viktimisierung, das fortwährend über eine kulturelle und politische Unterdrückung – die es nicht oder kaum gibt – und über die Erkenntnis von ökonomischer Unterdrückung und Ausbeutung lamentiert, zum anderen in einer Verachtung von allem, was »traditionell« Teil einer bürgerlich-aufklärerisch-demokratischen Kultur ist, Kritik, Diskurs, Kunst, Geschichte, Wissen etc.
Dementsprechend verändern sich die gesellschaftlichen Diskurse; alle Modelle, Ideen, Geschmacksproben, Urteile definieren sich in einem sonderbaren Wettbewerb, in dem der- oder diejenige verloren hat, die sich der rasenden Affirmation entgegenstellen. Was also in der Umgestaltung der medialen Grundversorgung geschah, war das Ende eines Paktes zwischen Pop und Demokratie. Die »Diktatur der Angepassten«, von der Blumfeld einst sang, scheint indessen allen Kritikern der bürgerlichen oder repräsentativen Demokratie recht zu geben, die es seit Platos Zeiten gibt. Im Populismus als rechtem Erbe der Demokratie wird Pop zum Instrument einer auch politischen Überwältigung. Hegemonie im Pop – Schlachtfeld und comfort zone zugleich – verwandelt sich in die Hegemonie durch Pop, so dass aus den Techniken des Mainstreaming, aus den Methoden eines »manufacturing of consense«, wie ihn Noam Chomsky beschrieb, eine stalinistische oder fundamentalistische Form der Sprach- und Bilderregelungen wird. Die Rechtspopulisten verlangen schließlich nicht wegen einer vermeintlichen Staatsnähe oder wegen irgendwelcher »Zwangsgebühren« die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems, sondern weil dieses als Agent weder des Staats noch der Ökonomie, sondern der Gesellschaft, für einen minimalen aber deswegen nicht unbedeutenden »Freiraum« der Sprachen des Pop zuständig ist. Um das gemeinsame Ziel von Rechtspopulismus und Neoliberalismus zu erreichen, nämlich die Abschaffung der Gesellschaft zugunsten von Markt und völkischer Gemeinschaft, muss auch Pop ent-gesellschaftet werden. Sprechen wir also vom »Entsozialisierungspop« und darüber, wie wir in der gemeinsamen Geschichte von Pop und Prekarisierung den entsozialisierten Pop gesehen haben.
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