Читать книгу: «Die Liebe ist ein schreckliches Ungeheuer», страница 5
1964, im 36. Jahrgang, fusioniert Atlantis mit der Kulturzeitschrift Du. Drei Jahre später lassen illustre Gäste am 70. Geburtstag das Leben des Verlegers hell aufleuchten. Er habe sich leidenschaftlich mit dem Verlag identifiziert; Theo W. Dengler erinnert an die enge Hausgemeinschaft zwischen Familie und Verlag in Berlin, an eine «Atmosphäre selbstverständlicher Zusammengehörigkeit, die auf Gedeih und Verderb die gemeinsame Arbeit bestimmte». Erwin Jaeckle dankt «dem ungeduldigen Lehrer, dem angesengt Versengenden der Arbeit, Arbeit und noch einmal Arbeit, dem ‹unvermeidlichen› Weltreisenden, dem kargen Zürcher, ehrlichen Forscher an Sachen um der Sache willen, dem Landschaftsverwurzelten mit dem herausfordernden Pflaumenbaum im mütterlichen Seegarten, dem bedachten Gastgeber, dem ungehalten Vorauseilenden, dem Bewohner des Erdkreises, dem Zwingli-Asiaten, dem Bruder Heinrich Pestalozzis. […] Hürlimann setzte Ziele, regte an, gab Ahnungen Gestalt. […] Er war ein glanzvoller Journalist, ein chinesischer Unterhändler im Dienste seiner Zeitschrift, ein fingerfertiger Geistesbesessener. Er hätte dies oder anderes tun können. Alles mit Rang, alles aufreizend, immer wieder festlich versöhnend und einladend. Mir imponierte er. Mit so viel Händen und Sinnen arbeiten zu können, rauhte auf, reizte an, förderte und forderte mehr. Da fieberte alles zwischen Freundschaft und Befehl, zwischen Entwurf und Vermögen. Hatte Kräfte – Kraft. Das fühlte jeder».
Am 7. Februar 1971 wird nach einer eidgenössischen Abstimmung das Frauenstimmrecht eingeführt. Am 23. September zeichnet der Zürcher Stadtpräsident, Sigmund Widmer, das Ehepaar Hürlimann-Kiepenheuer für «kulturelle Verdienste» aus. Das Tonhalle-Quartett spielt Beethoven und Honegger. Sie habe Glück, meint die Geehrte, «vielleicht schauten Sie gar aus nach einer weiblichen Person» – und äussert sich beinahe unterwürfig: Sie habe den Worten ihres Mannes nicht viel hinzuzufügen, doch viel mehr zu danken, «denn um meiner bescheidenen Verdienste willen allein wäre ich nie zu solchen Ehren gekommen». Wahrscheinlich freue sie sich mehr als ihr Mann über die gemeinsame Auszeichnung, «weil wir wirklich zusammen gearbeitet haben. Und nur durch dieses Zusammen war es mir möglich, den Beruf, in dem ich seit meiner Kindheit aufwuchs, den ich von der Pike auf lernte, den ich liebte, fast ein Leben lang auszuüben». Martin Hürlimann kontert: «Der Mitarbeiter, dem ich den grössten Dank schulde, ist jene Tochter eines Verlegerkollegen, die mich 1930 als junges Mädchen in meinem kaum gegründeten Verlag an der Oranienstrasse in Berlin aufsuchte und die dann später als meine Lebensgefährtin alle Mühsale einer aus den Fugen geratenen Zeit überwinden half.» Er freut sich, dass der Stadtrat auf den «ebenso originellen wie verblüffend angemessenen Einfall» gekommen ist, «diese meine älteste und treueste Mitarbeiterin» mit ihm gemeinsam zu bedenken, die beiden Gewichte in dieselbe Waagschale zu werfen. Bettina habe Eigenes geleistet, das sie mit niemandem, auch nicht mit ihm, zu teilen habe. «Aber nicht minder zählen für mich alle die vielen grossen und kleinen, nach aussen kaum sichtbaren Dienste an der Sache, die wir ein Leben lang gemeinsam verfolgt haben. Der Verleger ist ja vor allem auf das Gespräch angewiesen, und glücklich der Verleger, bei dem dieses fruchtbare Gespräch zwischen Gleichgesinnten, aber durchaus selbständig Denkenden mit dem Ehepartner stattfinden kann, besonders wenn dieser den Verlegerberuf in all seiner dornenreichen Vielseitigkeit gewissermassen schon mit der Muttermilch aufgesogen hat.» Emil Staiger rückt die «unbeirrbare Sachlichkeit» des Ehepaars ins Zentrum seiner Laudatio, bemüht, beiden gerecht zu werden; beide hätten in «freier Gemeinschaft ihre eigene Individualität zu behaupten gewusst». Dass der Reichtum des Verlagsprogramms, «dieses Nebeneinander so vieler Gebiete, die scheinbar nichts miteinander zu schaffen haben, doch nie zur Charakterlosigkeit führt, dass alles sich auf schwer fassbare, aber unverkennbare Weise als zusammengehörig darstellt und von dem Siegel eines Geistes, einer Persönlichkeit geprägt ist. Dies dürfte denn doch wohl die Persönlichkeit Martin Hürlimanns sein».
1972 wird der Atlantis Verlag verkauft, keines der Kinder möchte das Werk der Eltern weiterführen. Regine Schindler-Hürlimann, die Germanistin und Expertin für Kinderbibeln, verheiratet mit dem Theologen und Kirchenhistoriker Alfred Schindler, schreibt religiöse Kinder- und Jugendbücher und trägt einen theologischen Ehrendoktor. Christoph Hürlimann wirkt ab 1964 als Gemeindepfarrer in Kappel am Albis. Für das Kloster baut er, unterstützt von seiner Frau, das Haus der Stille und Besinnung auf, das er von 1988 bis 1998 als Theologe und Gastgeber leitet.
Was nun? Martin Hürlimann baut 1972 die Casa Barbara in Samedan, denkt dabei an einen Rückzugsort für seine Lieblingstochter, die jedoch im selben Jahr stirbt. Im Engadin schreibt der Verleger später an seiner Autobiografie, «Zeitgenosse aus der Enge». Er verspüre keinen Drang zu Konfessionen; es gebe eine private Sphäre, die er weder bei sich «noch bei andern verletzt wissen möchte». Sich selbst charakterisiert er so: «Als Zeitgenosse glaube ich über eine repräsentative Durchschnittlichkeit zu verfügen: Ich falle nicht auf, werde oft mit anderen Leuten verwechselt, in fremden Städten fragt man mich auf der Strasse nach dem Weg, und als ich mir in Pamplona eine Baskenmütze gekauft hatte, lief meine eigene Frau an mir vorbei, weil ich unter der Tarnkappe einer der herumstehenden Basken geworden war.» Bettina stellt er vor als «Hausfrau, Herstellerin, Lektorin und Autorin, mein ältester, treuester, liebster Freund und Mitarbeiter – ob wir es uns immer leicht gemacht haben, das, lieber Leser, bleibt Privatsache».
Freund? Mitarbeiter? Sagt das der Junggeselle, der er auf seine Art lebenslang geblieben ist? Der Abenteurer, der Frau und Kinder auf Platz zwei verweist? Ueli, der Jüngste, habe am meisten darunter gelitten. Für Sohn Christoph äusserte sich die Liebe der Eltern «unterschwellig». «Sie waren immer zärtlich zueinander. Der Vater konnte auch ironisch sein, die Mutter blieb ihm jedoch nichts schuldig.» – Tochter Regine erinnert sich an «ein so intensives, ein so selbstverständliches, aber doch aussergewöhnliches Geben und Nehmen zwischen den beiden, dass es nicht beschrieben werden kann» – und betont, dass ihre Mutter, «dieses ‹Kind›, auch das erwachsene Kind, immer wieder ihren Mann auch als väterlichen Beschützer brauchte und wollte und bei ihm ein Stück jener Geborgenheit nachholte, die sie in der Kindheit vermisst hatte – ein äusserer und innerer Rückhalt, ohne den wohl ihre grosse Aktivität nicht möglich gewesen wäre».
«Die Jahre werden kürzer, der Film läuft schneller» – auch für Martin Hürlimann. «Weltwenden nützen sich ab, aber die Weltneugier hält mich weiter wach.» Die nicht ersehnte Musse beschränke sich auf ein erträgliches Mass. Bettina sei unverdrossen hinter dem Unkraut her, stöbere immer neue Robinsonaden auf und lasse kein neues Buch von Frisch aus. «Bücher, immer wieder Bücher. Und dann ist es wieder da, das lange Weihnachtsmahl.»
In ihren Aufzeichnungen skizziert Bettina Hürlimann jedes ihrer «Sieben Häuser» als Zentrum eines Lebenskreises. Das achte Haus ist die Chesa Barbara, im neunten, dem Zürcher Neumünster-Spital, liegt sie lange vierzehn Monate. «Kann man im Paradies lesen?», fragt sie ihre Tochter Regine und meint: «Hier ist es so dunkel; wir brauchen mehr Licht.» Es ist der 8. Juli 1983, blendend heller Nachmittag, ihr letzter Nachmittag. Sie möchte das Märchen von den Sterntalern nochmals hören – und über das Buch streichen: «Fritz Kreidel, eine schöne Ausgabe.»
Epilog
In seinen letzten Jahren gehören zwei kleine Kreise zu Martin Hürlimanns engsten Begleitern: die Freunde vom Streichquartett und die Kalligrafiegruppe, in der er laut seinen Kindern «immer neu begeisterungsfähig, japanische Schriftzeichen wunderbar schrieb und mit der er eine Japanreise plante». Eine Operation mit Komplikationen, dann eine Lungenentzündung. Seine erste ernsthafte Krankheit habe er mit bewundernswerter Gefasstheit hingenommen und sich bis zum Schluss «fast leidenschaftlich» für das politische Geschehen interessiert. Doch die Betriebsamkeit täuscht, Martin Hürlimann stirbt am 4. März 1984. Für die Abdankungsfeier in der Kirche Zollikon hat er sich den dritten Satz aus Beethovens «Quartett Nr. 15 in a-Moll» gewünscht: «Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit».
Das Sommerhaus in Caputh, nach dem Krieg von einer Familie aus Leipzig genutzt, 1984 von den DDR-Behörden enteignet, wird 2005 an die Familie Hürlimann rückübertragen und von einem in Berlin lebenden Enkel wieder als Wochenendhaus genutzt. Den Atlantis Verlag – vom Ehepaar Hürlimann «nach eigenen Interessen geformt und verzweigt» – in eine erfolgreiche Zukunft zu führen, war schwierig, steht in der Jubiläumsschrift «80 Jahre Atlantis Kinderbücher». Im Spannungsfeld zwischen alten Idealen und neuer Marktsituation gerät das Unternehmen in eine heikle Phase. 1982 wird der Verlag neu aufgestellt, die Stiftung Pro Juventute übernimmt die Sparte Kinderbuch. 1992 erlischt der verbliebene Verlagsteil, die Rechte an den Musiktiteln erwirbt der Schott Verlag in Mainz. Seit 2003 ediert Orell Füssli das Kinder- und Jugendbuchprogramm unter dem Label «Atlantis». Bettina Hürlimanns Kinderbuchsammlung mit einem exakten Verzeichnis der 4500 Kinderbücher beherbergt das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien.
Quellen
Archiv Christoph Hürlimann und Gespräche mit Christoph Hürlimann.
Hürlimann, Bettina: Sieben Häuser. Aufzeichnungen einer Bücherfrau. Zürich 1976.
Hürlimann, Martin: Zeitgenosse aus der Enge. Erinnerungen. Frauenfeld 1977.
Schwarzenbach, Alexis: Emigrant der allerletzten Stunde. In: Die Zeit, 7.10.2004.

Lidija Petrowna Kotschetkowa und Fritz Brupbacher
Im Hirnanatomischen Laboratorium der Universität Zürich trafen sich 1897 zwei Revolutionäre – und schlossen zwei Jahre später einen avantgardistischen Ehevertrag: der kosmopolitische Schweizer und die patriotische, radikal feministische Russin. Fritz Brupbacher, Anarchist, Armenarzt und Wegbereiter der Sexualreform, träumte vom vollkommenen Menschen, brachte jedoch Idee und Wirklichkeit nicht zusammen. Lidija Petrowna Kotschetkowa, Ärztin und Sozialrevolutionärin, hin- und hergerissen zwischen Medizin, Wissenschaft, Politik, war bereit, sich für ihr Land zu opfern, liess sich von nichts beirren, auch nicht von den drei Jahren Verbannung – doch der «hemmungslose Sinnesrausch», den Fritz sich wünschte, war ihr zu viel. 6000 Briefe, Karten und Telegramme bezeugen ein unstetes Leben, eine leidenschaftliche, letztlich zerstörerische Liebe.
Im letzten Jahr des 19. Jahrhunderts, es ist Frühling, unterzeichnen Lidija Petrowna Kotschetkowa und Fritz Friedrich Brupbacher einen «Ehecontract» – entschlossen, ihre Liebe und ihren Einsatz für eine gerechtere Gesellschaft in Einklang zu bringen. In fünf Paragrafen halten sie fest, auf «sämtliche Rechte und Pflichten» zu verzichten, die Eheleuten in der Schweiz auferlegt werden. Der Vertrag ist nur so lange gültig, als beide «mit dem Bestehen dieser Ehe» einverstanden sind. «Die beiden Contrahenten» verbringen im Minimum jährlich einen Monat zusammen. Das Zusammenleben ist für beide mit gleichen Rechten und Pflichten verbunden. Und schliesslich: Die Ehe hat kinderlos zu bleiben.
«Im Sommer 1897 geschah das Unvermeidliche», notiert Fritz Brupbacher in sein Tagebuch, «ich verliebte mich in eine russische Studentin aus Samara an der Wolga, die in konzentriertester Weise Nihilismus und Sozialismus verkörperte». Lidija Petrowna Kotschetkowa studiert in Zürich Medizin, ebenso Brupbacher. Sie treffen sich im berühmten Hirnanatomischen Laboratorium des Constantin von Monakow und sezieren «Idiotenhirne». «Ich weiss nicht, ist es Täuschung, aber ich glaube, sie liebt mich. Wo ich bin, scheint es sie hinzuziehen und drei Schritte von mir hält sie an und wendet sich ab.» Eines Tages wendet Lidija sich ihm zu; sie reden «à la russe», das heisst endlos. Sie streiten, rauchen, spazieren, sitzen am See, fahren mit der Standseilbahn auf den Dolder, wo sich die russischen Studenten zum Schlitteln treffen, hören Konzerte in der «neuen» Tonhalle. Fritz lernt die revolutionäre Geschichte Russlands kennen, den russischen Nihilismus, der eine freiheitliche und atheistische Gesellschaft anstrebt; er liest russische Schriftsteller, die auf Deutsch oder Französisch erhältlich sind. Lidijas «höchstes Ehrgeizideal» ist es, für Freiheit und Volk gehängt zu werden. «Diese so selbstverständliche, unposierte Leidenschaft, einer Idee sich zu opfern, sozusagen sein ganzes Ich auszulöschen, hatte etwas Verwirrendes, etwas geradezu Märchenhaftes. Es war eine Frische und eine Kraft in all dem, die unsereinen verblüffte.»
Ein Doppelporträt um 1900 zeigt beide festlich gekleidet, Lidija Kotschetkowa mit weichen Gesichtszügen, aufmerksam, ernst. Eine schöne Frau mit ausgreifend unruhiger Handschrift. Auch Fritz Brupbacher blickt ernst, trägt Bart und Schnauz und Nickelbrille. Seine kleine, regelmässige Schrift passt zum Erscheinungsbild. Er ist hin- und hergerissen: «Ich liebe die Kotschekowa, sie ist’s wert. Sie liebt mich vielleicht, fast sicher auch. Aber sie wird gehen. Wir sind beide zu klug und zu selbst, um uns aneinander zu fesseln. Ich werde sie in Ruhe lassen, wir werden beide weniger unglücklich sein, wenn wir nicht glücklich sein wollen.» – «Sie ist mir zu lieb, als dass ich ihre Nachteile kennen lernen wollte.» Zwei Tage später schwindet die Liebe zu K., wie er sie im Tagebuch nennt; die «kleine K.» geht ihm auf die Nerven. Alsdann verzweifelt er über ihr abweisendes Verhalten, ihre heftigen Auseinandersetzungen. Die Frau ist ihm ein Rätsel.
Brupbacher habe ihr zwar immer gefallen, erinnert sich Lidija später, aber er habe sie auch abgestossen, «weil Du, Fritzli, soviel Zeug vorschwatztest, denke nur an conservative politische Ideen und an Dein Ideal, eine Sclavin zu heiraten». Er habe keine Ahnung vom Sozialismus gehabt. Zwar sei er der beste Schweizer gewesen, «doch sehr schlecht im Vergleich mit russischen intelligenten Männern», ein «Objekt», nicht mit demselben Massstab zu messen wie den «echten Menschen».
Lidija, Tochter von Peter Wassiljew Kotschetkow und Anastassija Iwanowna, kam am 29. August 1872 in Samara zur Welt, einer Industriestadt am Ostufer der Wolga. Der Vater sei ein Trunkenbold gewesen, mehr erfuhren sie und ihr älterer Bruder, Wjatscheslaw, nicht. Er sei wohl früh gestorben, vermutet Karin Huser, die das Leben von Lidija Kotschetkowa in «Eine revolutionäre Ehe in Briefen» minutiös rekonstruiert hat. Der Mann, die Familie als Quelle des Unglücks: Das prägte sich dem Mädchen ein. Die Mutter «verachtete ihren Mann und beweinte ihre gestorbene Seele. Aber ihr Unglück war die Lehre für mich. […] Ich lebte so wie sie leben wollte und nicht konnte», erklärt Lidija ihrem Fritz Jahre später. In Anastassijas Haus versammelten sich politisch Engagierte; die Tochter erlebte Hausdurchsuchungen und Verhaftungen im mütterlichen Freundeskreis. Sie war neunjährig, als Zar Alexander II. am 1. März 1881 bei einem Attentat ums Leben kam. Die Mörder, vor allem Sofija Peroswkaja, als erste Frau wegen revolutionärer Tätigkeit hingerichtet, wurden Lidijas Vorbilder. Anastassija, gebildet, bekannt für revolutionäres Agitieren, war so wohlhabend, dass sie im westlichen Ausland leben und auch weitgehend für den Unterhalt der Tochter sorgen konnte. Eine schwierige Beziehung. Lidija schildert ihre Mutter als antisoziales Wesen, sie verletze alle, die mit ihr in Kontakt kämen. Dennoch lebten die beiden Frauen immer wieder für längere Zeit zusammen, verbunden in Hass und Liebe.
Um 1890 belegte die junge Frau pädagogische Kurse in Sankt Petersburg, traf sich mit aufständischen Studenten, beobachtet von der Geheimpolizei Ochrana. Lidija wechselte für ein halbes Jahr nach Berlin, wo sie laut Brupbacher «im Kreise russischer Landsleute ihre sozialistische Taufe» erhielt und ein Medizinstudium begann. Wie viele Russinnen studierte sie dann in der Schweiz, zuerst in Genf, ab Winter 1895/96 an der Universität Zürich, die 1864 als erste in der Schweiz Frauen zum Studium zuliess – und wo 1867 als erste Frau die Medizinerin Nadežda Suslova promovierte, eine Russin.
In einem komplett anderen Milieu lebte Fritz Brupbacher, am 30. Juni 1874 in Zürich geboren. Der Vater, Karl Friedrich, als Waise aufgewachsen, hatte sich mit seinem Zauberwort «Rendite» nach oben gearbeitet, war Prokurist in der Seifen- und Kerzenfabrik Bluntschli (die dem Vater von Johann Caspar, Rechtswissenschaftler und «berühmter Kommunistenfresser», gehörte), betrieb dann eine öffentliche Badeanstalt, schliesslich ein Hotel am Paradeplatz. «Pflicht» und nochmals «Pflicht» war sein Mantra. Der «personifizierte Kleinbürger» in den Augen des Sohnes. Die Mutter, Anna Barbara, geborene Grau, «ernst und sanft», geprägt vom Geist des Liberalismus der 1830er-Jahre, kam aus einer Bürgerfamilie mit «intellektuellen Aspirationen». «Sie machte uns zu Feinschmeckern durch ihre exquisite Küche.» Das Kurzweiligste, erinnert sich Brupbacher in seiner Autobiografie, «60 Jahre Ketzer», waren die drei jüngeren Schwestern; im Umgang mit ihnen übte er sich als Lehrer und entwickelte die Fähigkeit zur Geselligkeit. Im Quartier der «artige Fritz» genannt, schwärmte er früh schon für Mädchen. «Ich putzte für sie meine Zähne, gab acht auf die Falten meiner Strümpfe, träumte mich für sie hoch zu Ross … und rettete sie natürlich aus Wasser und Feuer.»
Der Gymnasiast träumte immer noch. In der Pubertät war dann aber Schluss mit dem «Artigkeitsideal». Die Kühnsten der Klasse zündeten sich schon im Schulzimmer die Zigarette an und spazierten von dort direkt ins Wirtshaus, in den «Kropf» oder ins «Grüne Glas». Fritz war unter ihnen, seine insgeheimen Heldentaten und Träume hielt er im Tagebuch fest. Die Mutter las es, in Tränen aufgelöst – und der Jüngling schwor, ernsthaft ein guter Schüler zu werden. Zweieinhalb Jahre bei drei Lehrern – Literatur, Geschichte, Latein – waren ein Glück fürs ganze Leben. «Der scharfe Verstand, die blühende Phantasie, die satirisch-sarkastische und gleichzeitig soziale Analyse zog einem ins Hirn ein, sofern man eines hatte.» Daraus erwuchs sein Ideal des Uomo universale, Goethe war ihm Vorbild: ein «individualistischer Idealist, ja Anarchist», eine Art «militanter Kulturindividualist». Der 16-Jährige hörte Auguste Forel, Leiter der Irrenheilanstalt Burghölzli, über die schädliche Wirkung des Alkohols predigen, ein «Evangelium der Geistigkeit». Zwei Jahre später engagierten sich an dem kleinen Gymnasium etwa zwanzig Schüler für die Abstinenzbewegung. Fritz war mit dabei, die «Kleinbürgermuffigkeit» des Vereins irritierte ihn zwar. So kam ihm – kurz vor der Matura – die Einladung einer lebenslustigen Tante zu Ferien am Vierwaldstättersee gerade recht. In dieser Atmosphäre des «Luxusgrossbürgertums», der Onkel war ein bekannter Pariser Kunsthändler, «wurde meine Seele durch die Sinne geheilt».
Im Wintersemester 1893 begann Fritz sein Medizinstudium in Genf, was ihm «etwas zu Beschränktes, fast Erniedrigendes» schien für jemanden aus der Schule Goethes, der Griechen, der Renaissance: «Unsereiner hatte sich und die Welt zu vervollkommnen, und ich gedachte das in der Weise zu tun, dass ich mich vorbereitete, Philosoph und Publizist zu werden, und Medizin zu studieren, weil Papa das wünschte, da er doch die banausische Idee pflegte, dass man einen bürgerlichen Beruf haben müsse.» So bummelte der Student mit Ebenholzstock und Blume im Knopfloch am See entlang und besuchte ab und zu eine Vorlesung: Nur das wollte er tun, wozu das Innerste ihn trieb. Nietzsche verlieh ihm «das Quantum Grössenwahnsinn, das der Mensch braucht, wenn er sich von der Welt nicht einschüchtern lassen will». Nietzsche blieb das Idol, bis Brupbacher den Sozialismus der russischen Studenten kennenlernte, der für ihn aber kein Gegensatz zu Nietzsche war. Nach dem medizinischnaturwissenschaftlichen Examen kehrte Fritz im Herbst 1894 nach Hause zurück. Der Vater besass nun das Hotel Centralpost beim Paradeplatz. Fritz beobachtete die Gäste, «diese Spiesserwelt». «Da wurde geschimpft über Juden, Tschinggen und die ‹chaibe Schwabe›, die schuld waren an so vielen Übeln in der Schweiz.» Fritz spazierte, Schweglers Geschichte der Philosophie in der Tasche. Er verschlang Montaigne, Spinoza, Leibniz, Voltaire, Helvétius. Die Rekrutenschule riss ihn aus diesem vergeistigten Leben – Strafexerzieren, scharfer Arrest. Kaum hatte er die Uniform jedoch abgelegt, las er wieder «alle möglichen herrlichen Dinge» und dachte nicht daran, Arzt zu werden. «Ein Prophet oder ein Künstler – ja! Auf alle Fälle ein Lebenskünstler.» Angewidert von der Anatomie fiel er durchs Examen.
Erst der Neurologe Constantin von Monakow, «der überall Zusammenhänge sah, bei dem jedes Zellchen und jedes Fäserchen ein Teilstück des grossen Organismus Leben bedeutete», kann ihn für das Fach begeistern. In dessen Vorlesungen begegnet er Lidija Petrowna Kotschetkowa. Es rumort gerade unter den Studenten in diesem Wintersemester 1896/97. Studentinnen fordern das passive Wahlrecht. Man versammelt sich im «Plattengarten», dem Lokal «aller Aufrührer, Russen, Feministinnen und Sozialisten», und konstituiert sich – nach Reden von Anita Augspurg, Rosa Luxemburg und anderen – als «Allgemeine Studentenschaft» mit Fritz Brupbacher an deren Spitze. Der Schweizer Student sei im Herzen gegen das Frauenstudium, schreibt Brupbacher in seinen Erinnerungen. «Er hatte Rendite- und Heiratsprobleme, der russische hingegen Weltprobleme.» Brupbacher hört bei Auguste Forel allgemeine Psychiatrie – ein «strenger Moralist, ein Weltschulmeister» mit einem Hirn «wie ein Dampfkessel unter Hochdruck» –, und er besucht die psychiatrische Klinik mit «massloser Begeisterung»; ab Februar 1897 ist er dort Unterassistent. Nach dem dreimonatigen Praktikum ist klar: Er will Psychiater werden.
Fürs Wintersemester 1897/98 immatrikuliert sich Lidija Kotschetkowa an der Universität Bern. «Es ist langweilig», klagt sie, «besonders an Festtagen; das Leben in der Stadt ist furchtbar träge». Die Vorlesungen des Chirurgen Theodor Kocher, dem späteren Nobelpreisträger, überzeugen sie, auch diejenigen von Hermann Sahli, Professor für Innere Medizin. Und die Umgebung gefällt ihr. Die Bevölkerung hingegen begegnet den Studentinnen aus dem Osten abweisend: junge Frauen, die Männerbesuche empfangen … Viele Zimmervermieter wehren ab: «Keine Russen!» «Keine Slaven!» Wie die meisten ist Lidija aber brav und lernt fleissig, spielt abends mit der Mama eine Partie Schach oder schreibt Fritz Brupbacher – kühl, moralisierend, noch per Sie.
Er versteht sie nicht. «Blond, klein, subtil – und eine grosse, harte Weltanschauung.» Noch nie habe er «ein Weib» so geliebt. Er – umschwärmt von Studentinnen, nicht nur russischen – ist eifersüchtig «wie ein Panther». Dem Tagebuch vertraut er glühende Liebeserklärungen an, in seinen Briefen gibt er sich ironisch-distanziert: «Liebes Fräulein Kotschetkowa, Sie wissen, ich halte wenig von der Welt, nichts von der Liebe und noch weniger von der Freundschaft, sehr viel auf Empfindungen und Sentimentalität, und drum will ich Ihnen einen Vorschlag machen, den Sie am Ende, sei’s aus Laune oder irgendeinem anderen nebensächlichen Grunde […] annehmen werden. Ich meine, dass ich anfange, für Sie zu schwärmen und Sie natürlich dann Ihrerseits anfangen für mich zu schwärmen. […] Oder in ernsteren Worten ausgedrückt, dass wir zusammen ein bisschen sentimental seien, einander Herzensgeheimnisse ausplaudern, einander ein bisschen lieben – natürlich fürchterlich mässig – und dann, wenn uns die Geschichte zu langweilig wird, wir selbst zu ernst werden – einander gehen lassen, als sei nichts gewesen. Nachher werden wir sein wie vorher …» Den sonderbaren Vorschlag quittiert sie knapp: Ihr sei nicht klar, was er unter kurzweiligem Zeitvertrieb verstehe, aber die Geschichte scheine ihr bedenklich. «Im übrigen mit freundlichem Gruss, Lydia Kotschetkowa.» Sie schickt ihm den «Grünen Heinrich» zurück; sie habe ihn gemocht mit seiner «couleur nationale». Sie werde ab Sommer wieder in Zürich studieren, sei einverstanden, dass sie sich «in Medizin zusammensetzen» – und bittet Brupbacher, am Anfang seiner Briefe den «status präsens» seiner Laune zusammenzufassen, damit sie sich weniger missverstehen würden.
Er vertieft sich in Schriften von August Bebel und Wilhelm Liebknecht, ins kommunistische Manifest – und als Lidija im Mai 1898 zurück nach Zürich kommt, offeriert er ihr sein Herz und sein eben erstandenes sozialdemokratisches Mitgliedsbuch. Sie spazieren Hand in Hand, er aber beklagt ihre Gefühlskälte, sie habe keine Seele. In den Semesterferien fährt Lidija an den Genfersee nach Baugy-sur-Clarens; die Gegend, von der schon Tolstoi schwärmte, zieht immer wieder russische und polnische Reisende und Emigranten an. Lidija wohnt mit ihrer Mutter in einer Pension voller Russen, schreibt Fritz sehnsüchtige Briefe und redet ihn erstmals mit «Mein Lieber» und «Du» an. Erklärt ihm, dass sie nun anders über die Liebe denke als früher … «Du bist auch Peitsche für meinen wenig energischen und inspirierten und unsicheren Geist […] kurz Du bist Schutzengeli meiner guten Eigenschaften.» Ihr Hang zum schweizerischen Diminutiv verleiht ihrem ausgezeichneten Deutsch etwas Kindliches, Unernstes.
Es fällt ihr schwer, «westeuropäisch fleissig» zu sein; sie kommt mit dem Studium nicht voran. Auf einer Ansichtskarte des Hotel Waldhaus Dolder notiert sie ihren «status praesens»: «Laune: gut nur um 12 Uhr Mittag – Arbeit: 8 Stunden jedoch wenig produktiv – Pläne: keine – Träume: keine – Geisteszustand: versimpelt – Seelchen: voll von Sorgen.» Sie bekommt gefühlvolle Briefe und ein, zwei Mal wöchentlich Besuch von ihrem «Dich endlos liebenden Fritz». Sie findet die paar Stunden «grässlich kurz». Auf Katzenjammer folgen Liebesschwüre. «Liebster Fritz, Du weisst selber nicht, wie theuer du mir bist und wie glücklich ich wäre, wenn ich Dich nie verlassen dürfte. Da es nicht geht, so muss man faire bonne mine au mauvais jeu, wie der Fuchs in der bekannten Fabel. Ich bin immer noch ein bisschen gehemmt, wenn es darum geht, meine innigsten Gefühle zu zeigen. Deine Dich herzinnigst liebende Lydia.» Dass ihr die spirituelle Liebe wichtiger sei als die körperliche, ist nach Karin Huser eine Haltung, die sie mit vielen Frauen der russischen Freiheitsbewegung teilt.
Im November 1898 besteht Fritz Brupbacher sein Staatsexamen. Verkracht mit dem Vater, quartiert er sich Anfang 1899 bei seiner vermögenden Tante in Paris ein, lebt in Luxus, trifft Russen, diskutiert mit Arbeitern, weilt fast täglich im Louvre, lernt den deutschen Revolutionär Oskar Panizza und den Schriftsteller Frank Wedekind kennen. «Nach zwei Monaten Paris fühlte ich, dass in dem Zweikampf zwischen Wissenschaft und Revolution sich bald alles in mir für die Revolution entscheiden würde.» Ab April gilt es ernst für den Assistenzarzt an der Privatirrenanstalt Mönchhof in Kilchberg. Seine psychologische Neugier ist immens. «Ich liebte meine Patienten, wie man Kinder oder – in der Jugend – Geschwister liebt.» Ab und zu erinnert er sich an die Aussage seines verehrten Lehrers: Er, Forel, sei nicht wirklich nötig, nicht nötiger jedenfalls als der Portier. «Wir Psychiater sind eigentlich nur Irrenhüter.»
Sinnlichkeit und Sexualität bleiben für das Liebespaar heikle Themen. Im Frühjahr 1899 reden sie in ihren Briefen erstmals darüber. Sie lasse das Sinnliche schon seit längerer Zeit zu, da sie glaube, dass es die Liebe nicht zerstöre – wie ursprünglich gedacht –, sondern Quelle für neue Kräfte sei. Jedenfalls unterzeichnen Lidija Petrowna Kotschetkowa und Fritz Brupbacher am 31. Mai 1899 ihren privaten «Ehecontract». Er ändert kaum etwas: Liebeserklärungen, Streitereien, Abschiedsdramen wechseln sich ab. Sie habe nie geahnt, schreibt sie, «dass wir so ideal zueinander passen würden, immer neue und neue Fäden verbinden uns». «Es wäre so schön, wenn wir ungefähr 60 Jahre alte Ruinen noch Hand in Hand spazieren und unserer ersten Liebe immer treu bleiben. Nicht wahr, Fritz. Ich kann mir anders nicht vorstellen. Wir sind beide so exquisit monogam.» Fritz ist nicht so zuversichtlich. Seine Geliebte hält er für «sexuell apathisch». Es sei schwer, Asket zu sein, «solange man noch hofft, den vollen Genuss haben zu können». Er fühlt sich verschmäht. Sie sei in sexuellen Fragen so naiv, «das heisst schroff gegen sogenannt sittliche Vergehen, dass ihr mein blosser toleranter Ton unsympathisch vorkam. Sie glaubt, die russischen Männer seien sittlicher». Es gibt Lichtblicke. Sie seien nun gut aufeinander «abgestimmt», notiert Fritz. Und fast euphorisch: Ihre selbstverständliche Art habe ihn heiter gemacht; sie hätten «einen genussvollen Abend verlebt voller Verehrung, Sinneslust und Innigkeit. Es ist so viel Humor im Sinnesgenuss, wenn man’s Glück hat, mal grad gleich abgestimmt zu sein. Und das war man heute völlig».
Für einmal stimmt sie ein: «Gerade seitdem wir uns auch mit Sinnen lieben, bindet uns die Liebe stärker zusammen. Seit dem haben wir keinen anderen Ausweg als uns lebenslang zu lieben und ewig treu zu bleiben.» Doch Lidijas Widerwille gegen die körperliche Liebe ist stärker. Sie findet es sogar «höchst unsittsam», ein Kind zu haben, lebenslanger Zeuge der elterlichen Unsittlichkeit. Leute mit Kindern habe sie früher nicht achten können. «Man verliebt sich in den ersten Mann, welcher kommt, und heiratet ihn, weil man diesen physiologischen Trieb für individuelle Liebe hält.» Das seien «Bedingungen, welche die Entwicklung einer echten, auf individueller Liebe basierten Leidenschaft fast ausschliessen», die verheiratete Frau müsse «beständige Leidenschaft simulieren und zwar mit noch grösserem Eifer als die Mädchen ihre absolute Sittsamkeit simulieren müssen». Sie reflektiere zu viel, was der Leidenschaft abträglich sei – so begründet sie ihre Schwierigkeit mit dem «hemmungslosen Sinnesrausch», den Fritz sich wünscht. Noch immer habe sie das Gefühl, sie stehe vor den Toren des Paradieses und habe den Schlüssel verloren. Sie bedauert, verspricht Besserung. «Du weißt, wie hoch ich Dich in allen Beziehungen schätze, ich bin stolz, dass Du mich liebst und vor allem so leidenschaftlich liebst und in meiner Liebe zu Dir (natürlich eine vielseitige, nicht platonische) ersehe ich mein grösstes Glück.» Es sei zu hoffen, dass ihre Liebe, «die einzige – vielseitige – echte», triumphieren werde über ihre geistige Schwäche. «Herzli, mis Liebs, Fritz, mis Engeli, welches ich so schüli schüli liebe, es tut mir so endlos weh, dass Du so wenig Freude an mir hast. […] Meine Kaltblütigkeit macht mir absolut keine Freude (im Gegenteil!), und Deine Glut dagegen ist ein Glück für Dich selbst und für mich, also für uns beide. Du bist wieder ein guter Weiser, und ich ein elendes dummes Kamel.»
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