Cannabis und Cannabinoide

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2.7 Der Aufschwung hält an

Dass die meisten europäischen Länder wie auch die USA den indischen Hanf in ihre Landespharmakopöen aufnahmen, verdeutlicht den Stellenwert, der diesem Heilmittel mittlerweile eingeräumt wurde. Aus praktisch allen westlichen Ländern folgten wissenschaftliche Arbeiten über Cannabis. Nach wie vor waren es vor allem Frankreich, England und die USA, die viel dafür taten, diesem Heilmittel in der westlichen Medizin endgültig zum Durchbruch zu verhelfen. Aber auch in Deutschland wurde die Erforschung des indischen Hanfes vorangetrieben. Eine umfangreiche, oft zitierte Arbeit dieser Zeit ist diejenige von Bernhard Fronmüller aus dem Jahr 1869. Dieser hatte sich schon seit längerer Zeit mit den Eigenschaften der Hanfpflanze beschäftigt. Seine Cannabisversuche im Rahmen der „Klinischen Studien über die schlafmachende Wirkung der narkotischen Arzneimittel“ führte er mit exakt tausend Probanden durch, die bedingt durch verschiedenste Ursachen an Schlafstörungen litten. Die erzielten Resultate waren im Großen und Ganzen sehr zufriedenstellend.

2.8 1880 bis 1900: der Höhepunkt

Diese Zeitspanne kann als Höhepunkt sowohl der damaligen Cannabisforschung als auch der Verwendung der Hanfpräparate bezeichnet werden. In Europa war es insbesondere das Verdienst der Firma E. Merck in Darmstadt, dass Cannabispräparate gegen Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt verfügbar waren und verwendet wurden. Aber auch die Firmen Bourroughs, Wellcome & Co.. in England stellten solche Präparate her. In den Vereinigten Staaten waren es Squibb, dann vor allem Parke-Davis & Co. und später auch Eli Lilly & Co., die diese Rolle übernahmen. Dank diesen (und einigen anderen) Unternehmen standen qualitativ hochwertige Rohstoffe und mehrere Fertigpräparate zur Verfügung (vgl. Abb. 4).


Abb. 4 Typische Aufbewahrungsgefäße für Cannabis um 1900 (Foto: M. Fankhauser)

Um die Jahrhundertwende waren Cannabispräparate in der westlichen Schulmedizin bei folgenden Indikationen beliebt: Schmerzzustände (vor allem Migräne- und Menstruationskrämpfe), Keuchhusten, Asthma. Zudem wurden sie als Schlaf- und Beruhigungsmittel eingesetzt. Zusätzlich war Haschisch relativ häufig als Zusatz in Hühneraugenmitteln zu finden. Folgende Beschwerden wurden auch, aber seltener, mit Hanf therapiert: Magenschmerzen und -verstimmungen, Depressionen, Durchfall, Appetitlosigkeit, Juckreiz, Gebärmutterblutungen, Morbus Basedow und Wechselfieber. Es ist bezeichnend, dass sich Ärzte, die sich intensiv und vielfach über Jahre mit dem Arzneimittel Cannabis beschäftigten, dieses meist als wertvolles Medikament einstuften. Andere lehnten es ab, hielten es oft für wertlos oder gar gefährlich.

Einen außerordentlich wichtigen wissenschaftlichen Beitrag zur Cannabisforschung gegen Ende des 19. Jahrhunderts lieferte der sogenannte „Indian Hemp Report“ von 1894. In dieser von England in seiner Kolonie durchgeführten Erhebung ging es hauptsächlich darum, die Gewinnung von Drogen aus Cannabis, den Handel mit demselben und dessen Auswirkungen auf die Gesamtbevölkerung zu untersuchen. Zudem sollte abgeklärt werden, ob sich ein allfälliges Verbot dieser Präparate rechtfertige. Zu diesem Zweck wurde eine Expertenkommission gegründet, deren Bericht den Stellenwert des Rausch- und Heilmittels Cannabis in Indien gegen Ende des 19. Jahrhunderts wiedergibt. Im Wesentlichen kommt die Kommission zu dem Schluss:

„Aufgrund der Auswirkungen der Hanfdrogen scheint es der Kommission nicht erforderlich, den Anbau von Hanf, die Herstellung von Hanfdrogen und deren Vertrieb zu verbieten.“ (Leonhardt 1970)

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen vermehrt chemisch orientierte Arbeiten über Cannabis. Man war bestrebt, das Geheimnis des „aktiven Prinzips“ dieser Pflanze zu lüften. Im Weiteren war das Standardisieren der Cannabispräparate ein großes Thema. Da man die Medikamente nicht genau auf einen bestimmten (noch nicht bekannten) Wirkstoff einstellten konnte, beklagten sich immer wieder Ärzte mit deren unzuverlässigen Wirksamkeit. Ein ebenfalls oft diskutiertes Thema war die Wirksamkeit von einheimischem Hanf. Überhaupt begann man nach dem ersten Weltkrieg Cannabis sativa wieder vermehrt zu berücksichtigen, weil indischer Hanf in Europa praktisch nicht mehr erhältlich war.

2.9 Das Ende naht

Nachdem die Cannabispräparate um die Jahrhundertwende noch rege benutzt wurden, verschwanden sie gegen Mitte des 20. Jahrhunderts vollständig. Dies waren die Gründe:

2.9.1 Medizinisch-pharmazeutischer Fortschritt

Für alle Hauptanwendungsgebiete der Cannabispräparate wurden noch vor Beginn des 20. Jahrhunderts neue spezifische Arzneimittel eingeführt. Zur Behandlung der Infektionskrankheiten (Cholera, Tetanus, etc.) wurden Impfstoffe entwickelt, die nicht nur wie Cannabis die Symptomatik bekämpften, sondern sogar Schutz vor Infektionen boten. Andere bakterielle Erkrankungen wie die Gonorrhoe, die häufig mit Cannabis therapiert wurden, konnten etwas später durch das Aufkommen der Chemotherapeutika (bereits 1910 wurde das von Paul Ehrlich entdeckte Salvarsan in die Therapie eingeführt) therapiert werden. Auch als Schlaf- und Beruhigungsmittel bekam Haschisch Konkurrenz in Form chemischer Substanzen wie Chloralhydrat, Paraldehyd, Sulfonal und insbesondere der populären Barbiturate. Anders als die Vielzahl von Opiatmedikamenten wurden die Cannabispräparate auch als Analgetika bald von chemischen Mitteln verdrängt. Große Bedeutung erlangten schon kurz nach der Einführung das Antipyrin und das Aspirin.

2.9.2 Pharmazeutische Instabilität

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die unterschiedliche Wirksamkeit der Cannabispräparate auffiel. Verschiedenste Faktoren wie Provenienz, Alter, Lagerung und Galenik der Droge waren dafür verantwortlich, dass das Arzneimittel hochwirksam war oder unwirksam blieb. Anders als bei Alkaloid-Drogen wie dem Opium gelang die Isolierung des Tetrahydrocannabinols (THC) in reiner Form erst 1964, damit verbunden gab es zuvor Standardisierungsprobleme.

2.9.3 Wirtschaftliche Aspekte

Durch Einschränkungen in den Produktionsländern (vor allem Indien) und bedingt durch den ersten, dann aber auch noch am Rande durch den zweiten Weltkrieg, wurde es immer schwieriger, hochwertigen indischen Hanf nach Europa zu importieren. Auch für die Droge Cannabis galt das Gesetz von Angebot und Nachfrage, sodass die Preise sowohl der Rohprodukte als auch der Präparate massiv stiegen.

2.9.4 Rechtliche Einschränkungen

Durch die immer restriktiveren länderspezifischen und internationalen Gesetzgebungen wurde die Verwendung der Cannabismedikamente immer stärker eingeschränkt. Früher oder später wurden sämtliche Haschischpräparate der Betäubungsmittelpflicht unterstellt, was deren Anwendung in der Praxis massiv erschwerte, bis schlussendlich ein generelles Verbot die Verwendung verunmöglichte.

2.10 Das Comeback

Nachdem Cannabis allmählich der Betäubungsmittelpflicht unterstellt wurde, kam 1961 das eigentliche Ende der medizinischen Karriere von Cannabis. Im Jahr 1958 war die medizinische Verwendung von Cannabis weltweit noch in 26 Ländern der UNO gestattet. Das sogenannte Einheits-Übereinkommen (Convention on Narcotic Drugs) führte nun de facto zu einem kompletten Verbot von Cannabis. Dies galt auch für die medizinische Anwendung, mit Ausnahme der wissenschaftlichen Forschung. Diese Ausnahmeregelung sollte sich noch als sehr wertvoll erweisen, denn so konnte weiterhin mehr oder weniger intensiv mit Cannabis geforscht werden. Bereits 3 Jahre nach Unterzeichnung des Abkommens gelang es den israelischen Wissenschaftlern Yechiel Gaoni und Raphael Mechoulam die chemische Struktur des Hauptcannabinoids, das THC, aufzuklären. Bereits 1 Jahre vorher war ebenfalls R. Mechoulam bereits dasselbe mit Cannabidiol (CBD) gelungen.

Ein weiterer Meilenstein in der Cannabisforschung folgte zu Beginn der 1990er-Jahre: die Entdeckung des körpereigenen Endocannabinoid-Systems. Das Auffinden der Cannabinoidrezeptoren führte zu einer explosionsartigen Intensivierung der Forschung. Aufgrund dieser neuen Erkenntnisse haben verschiedenste Länder Anstrengungen unternommen, Cannabispräparate oder Cannabinoide (THC bzw. Dronabinol, CBD, Nabilon, Nabiximol) verkehrsfähig zu machen, wenngleich dies je nach Land sehr unterschiedlich gehandhabt wird. In den letzten Jahren war es vor allem das Cannabisextrakt enthaltende Fertigarzneimittel Nabiximols (Sativex®), das sich, nebst den Individualrezepturen (v.a. Dronabinol), etablieren konnte. Weltweit ist eine starke Tendenz zu erkennen, dass der Zugang für die medizinische Verwendung von Cannabis liberalisiert wird, so auch in Deutschland, wo seit 2017 das Verschreiben von THC-haltigen Hanfblüten möglich ist. Grosse Hoffnungen werden zudem in das medizinische Potenzial des nicht psychoaktiven CBD gesetzt, insbesondere zur Behandlung von Epilepsie. Ein neuerlicher Schritt in diese Richtung war die Zulassung des CBD-haltigen Medikamentes Epidiolex® zur Behandlung schwerer Epilepsieformen durch die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA im Juni 2018.

 

Es scheint sich abzuzeichnen, dass die Renaissance der Arzneipflanze Cannabis nicht mehr aufzuhalten ist. Ob Hanf die großen Erwartungen erfüllen kann, wird die Zukunft zeigen. Bereits heute ist Cannabis für viele Patienten ein unverzichtbares Medikament geworden.

Literatur

Behr HG (1982) Von Hanf ist die Rede, Kultur und Politik einer Droge, Sphinx Verlag Basel.

Beron B (1852) Über den Starrkrampf und den indischen Hanf, Med. diss., Würzburg.

Brunner TF (1973) Marijuana in ancient Greece and Rome? The literary evidence, Bull hist med 47, 344–355.

De Courtive E (1848) Haschish, Etude historique, chimique et physiologique, Thèse pharm. Paris.

Dioskurides (1902) Arzneimittellehre in fünf Büchern. Übersetzt von J. Berendes, Nachdruck der Ausgabe von 1902, Enke Verlag, Wiesbaden.

Dreyfus R (1973) Zur Geschichte der Gefährlichkeit des Haschischs, Med diss., Bern.

Gelpke R (1975) Drogen und Seelenerweiterung, Kinder Verlag München.

Gmelin JF (1777) Allgemeine Geschichte der Pflanzengifte, Raspe, Nürnberg.

Haenel TA (1970) Kulturgeschichte und heutige Problematik des Haschisch. Med. Diss., Basel.

Homerus (1938) Odysee. Verdeutscht von T. von Scheffer, neu gestaltete Ausgabe, Dietrich, Leipzig.

Leonhardt RW (1970) Haschisch-Report, Dokumente und Fakten zur Beurteilung eines sogenannten Rauschgiftes, Piper-Verlag, München.

Manniche L (1989) An ancient Egyptian Herbal, Texas Press London.

Mechoulam R (1993) Early medical use of cannabis. Nature 363, 215.

Moller KO (1951) Rauschgifte und Genussmittel, B. Schwabe Verlag Basel.

Nees v. Esenbeck TFL, Ebermaier CH (1830) Handbuch der medicinisch-pharmaceutischen Botanik, Erster Theil, Arnz und Comp, Düsseldorf.

O'Shaugnessy WB (1838–40) On the preparations of the Indian hemp, or Gunjah, Transactions of the Medical and Physical Society of Bengal (1838–40), 421–461. Reprint in: Mikuriya T.H (1973) ed. Marijuana: Medical papers 1838–1972, Medi-Comp Press Oakland.

Reier H (1982) Die altdeutschen Heilpflanzen, ihre Namen und Anwendungen in den literarischen Überlieferungen des 8.-14. Jahrhunderts. 1. Band A-H, Selbstverlag Kiel.

Reiniger W (1941) Zur Geschichte des Haschischgenusses, Ciba-Ztschr 7, 2766–2772.

Stefanis C, Ballas C, Madianou D (1975) Sociocultural and epidemiological aspects of hashish us in Greece. In: Rubin V (Ed.), Cannabis and culture, Mouton Publishers The Hague/Paris.

Tschirch A (1909–1925) Handbuch der Pharmakognosie, 3 Bände, Tauchnitz Verlag Leipzig.

3 Die Geschichte eines Gesetzes: Von der Ausnahme zur regulären Verschreibung von Cannabis

Franjo Grotenhermen

Die juristische Auseinandersetzung, die schließlich zur Durchsetzung von Ausnahmeerlaubnissen für die Verwendung von Cannabisblüten ab dem Jahr 2007 und zu einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts für den Eigenanbau von Cannabis durch Patienten im Jahr 2016 führte, begann mit einer Verfassungsbeschwerde durch acht Patienten am 14. Dezember 1999. Bereits im Jahr 1995 gelangte ein durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums erstelltes Gutachten zu dem Schluss, dass die medizinische Verwendung von Cannabis bzw. Tetrahydrocannabinol (THC) nicht mit dem Argument zurückgewiesen werden könne, es gäbe „auf jedem Gebiet bessere therapeutische Alternativen“ (Goedecke u. Karkos 1996).

3.1 Die Folgen eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts

Im Dezember 1999 hatten acht Patienten mit verschiedenen Erkrankungen eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen das Verbot der medizinischen Verwendung von Cannabis eingereicht. Ihre behandelnden Ärzte hatten ihnen bescheinigt, dass sie von Cannabisprodukten profitieren (Grotenhermen 2018). Das Bundesverfassungsgericht öffnete mit seinem Beschluss die Tür für dynamische juristische und politische Auseinandersetzungen, die schließlich am 19. Januar 2017 zur einstimmigen Verabschiedung eines Gesetzes führten, durch die Cannabisblüten in Deutschland verschreibungsfähig wurden.

3.1.1 2000: Beschluss des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht entschied am 20. Januar 2000, dass Patienten bei der Bundesopiumstelle des BfArM eine Ausnahmeerlaubnis zur Verwendung von Cannabis beantragen können (2 BvR 2382–2389/99). Das Bundesverfassungsgericht wies darauf hin, dass sich Patienten auf den § 3 Abs. 2 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) beziehen können, in dem es heißt:

„(2) Eine Erlaubnis für die in Anlage I bezeichneten Betäubungsmittel kann das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nur ausnahmsweise zu wissenschaftlichen oder anderen im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken erteilen.“

In ihrem Urteil schrieben die Richter, dass auch die medizinische Versorgung der Bevölkerung ein öffentlicher Zweck sei, der im Einzelfall die Erteilung einer Erlaubnis rechtfertigen kann.

„Die medizinische Versorgung der Bevölkerung ist danach auch ein öffentlicher Zweck, der im Einzel fall die Erteilung einer Erlaubnis gemäß §3 Abs. 2 BtMG rechtfertigen kann (…).“


„Zwar steht die Erteilung einer Erlaubnis zum Verkehr mit Betäubungsmitteln im Ermessen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte; jedoch haben Antragsteller einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung.“ (Bundesverfassungsgericht 2000)

3.1.2 2005: Urteil des Bundesverwaltungsgerichts

Von der Möglichkeit eines Antrags an die Bundesopiumstelle gemäß des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts haben mehr als 100 Patienten Gebrauch gemacht. Darunter war auch ein Rechtsanwalt, der an multipler Sklerose (MS) mit schweren Symptomen litt, die sein Leben massiv beeinträchtigten. Alle Anträge wurden durch die Bundesopiumstelle mit dem Verweis auf die Möglichkeit der Verwendung von Dronabinol abgelehnt. Mehrere Patienten klagten gegen diese Ablehnungen vor den Verwaltungsgerichten. Am 19. Mai 2005 verpflichtete das Bundesverwaltungsgericht das BfArM den Antrag des MS-Patienten erneut zu prüfen (Bundesverwaltungsgericht 2005).

„Die medizinische Versorgung der Bevölkerung ist kein globaler Akt, der sich auf eine Masse nicht unterscheidbarer Personen bezieht. Sie realisiert sich vielmehr stets durch die Versorgung einzelner Individuen, die ihrer bedürfen.“

Das Bundesverwaltungsgericht betont in seinem Urteil den hohen Wert des im Grundgesetz verankerten Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

„In das Recht auf körperliche Unversehrtheit kann nicht nur dadurch eingegriffen werden, dass staatliche Organe selbst eine Körperverletzung vornehmen oder durch ihr Handeln Schmerzen zufügen. Der Schutzbereich des Grundrechts ist vielmehr auch berührt, wenn der Staat Maßnahmen ergreift, die verhindern, dass eine Krankheit geheilt oder wenigstens gemildert werden kann und wenn dadurch körperliche Leiden ohne Not fortgesetzt und aufrechterhalten werden.“

Bundesverwaltungsgericht 2005

Die Entscheidung, einem Patienten den Erwerb oder, was insbesondere bei Cannabis in Betracht kommt, etwa den Anbau zu gestatten, bleibt stets eine Einzelfallentscheidung. Sie muss die konkreten Gefahren des Betäubungsmitteleinsatzes, aber auch dessen möglichen Nutzen in Rechnung stellen. Dieser kann gerade bei schweren Erkrankungen, wie sie hier in Rede stehen, auch in einer Verbesserung des subjektiven Befindens liegen. Dabei ist sich der Betroffene bewusst, dass es keinerlei Gewähr für die therapeutische Wirksamkeit des eingesetzten Betäubungsmittels gibt.

3.1.3 2007: erste Ausnahmeerlaubnisse durch die Bundesopiumstelle

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts führte ab 2007 schließlich zur Etablierung eines Verfahrens, bei dem Patienten einen Antrag auf eine Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG bei der Bundesopiumstelle stellen konnten, mit dem Ziel einer sogenannten ärztlich begleiteten Selbsttherapie mit Cannabisblüten oder einem Cannabisextrakt. Dabei musste der behandelnde Arzt darlegen, dass Standardtherapien nicht ausreichend wirksam waren oder ausgeprägte Nebenwirkungen verursachten, sodass ein Therapieversuch mit Cannabisprodukten indiziert war. Häufig hatten die Antragsteller bereits festgestellt, dass eine Therapie mit Cannabis ihre Leiden linderte. Zwischen 2007 und 2016 nahm die Zahl der jährlichen Antragstellungen und Ausnahmeerlaubnisse stetig zu. Nach Angaben der Bundesopiumstelle besaßen im Januar 2017 insgesamt 1.040 Personen eine solche Erlaubnis (Grotenhermen 2018).

3.1.4 2016: das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts

Da sich viele Erlaubnisinhaber die Cannabisblüten aus der Apotheke, die pro Gramm 12–25 EUR kosteten, nicht oder nicht in dem medizinisch erforderlichen Umfang leisten konnten, beantragten einige den für sie finanzierbaren Eigenanbau von Cannabispflanzen für die eigene medizinische Versorgung. Diese Anträge wurden von der Bundesopiumstelle sämtlich abgelehnt. Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. April 2016 sorgte dafür, dass einem MS-Patienten, der seit Jahren gerichtlich für eine Erlaubnis zum Eigenanbau stritt, am 28. September 2016 als erstem Patienten in Deutschland überhaupt eine Genehmigung zum Anbau von Cannabis für die eigene medizinische Behandlung erteilt wurde (Bundesverwaltungsgericht 2016). Das Gericht stellte fest, dass der Eigenanbau von Cannabis erlaubt werden muss, da der Erwerb von Medizinalcannabisblüten aus der Apotheke aus Kostengründen ausschied.

„Nach § 3 Abs. 2 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) kann das BfArM eine Erlaubnis zum Anbau von Cannabis nur ausnahmsweise zu wissenschaftlichen oder anderen im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken erteilen. Die Behandlung des schwer kranken Klägers mit selbst angebautem Cannabis liegt hier ausnahmsweise im öffentlichen Interesse, weil nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts die Einnahme von Cannabis zu einer erheblichen Linderung seiner Beschwerden führt und ihm gegenwärtig kein gleich wirksames und für ihn erschwingliches Medikament zur Verfügung steht. Der (ebenfalls erlaubnispflichtige) Erwerb von sogenanntem Medizinalhanf aus der Apotheke scheidet aus Kostengründen als Therapiealternative aus. Seine Krankenkasse hat eine Kostenübernahme wiederholt abgelehnt.“

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