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Der blinde Fleck in den Bedürfnis- und Motivationstheorien

Nun gibt es zum Thema Bedürfnisse und Motive schon eine schier unübersehbare Anzahl von Forschungen und Theorien.4 Um nur einige wenige zu nennen: Sigmund Freud postulierte den Eros als grundsätzlichen Lebenstrieb – erst sehr spät setzte er noch Thanatos (Todestrieb) dazu. Für Alfred Adler5 standen Macht- und Geltungsbedürfnisse im Zentrum. Viktor Frankl6 führte alles auf das Bedürfnis nach Lebenssinn zurück. Atkinson knüpfte mit seiner Erwartungs-Wert-Theorie an die von Lewin und Tolman vertretene Auffassung an, dass die Stärke einer aktualisierten Handlungstendenz durch kognitive Prozesse bestimmt wird. Für Heider und Rotter sind ebenfalls vor allem die kognitiven Attribuierungen verhaltensbestimmend, wohingegen in Festingers Dissonanztheorie das Bestreben nach kognitiver Harmonie im Mittelpunkt steht.7 Deci und Ryan wiederum postulieren ein lebenslang wirksames Entwicklungsprinzip, das sie in ihrer Selbstbestimmungstheorie mit dem Begriff »organismische Integration« umschreiben, die zwei für das Leben gleichermaßen wichtige Ziele verfolgt: Persönliches Wachstum und Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des sozialen Systems. Für diese beiden Zielstellungen der organismischen Integration sind nach dieser Theorie in erster Linie drei angeborene »basic needs« verantwortlich, nämlich Kompetenzerleben, Autonomie und soziale Eingebundenheit.8

Solche Vorstellungen von einer organismischen Integration bzw. selbstorganisierten Realisierung und der Entfaltung inhärenter Potenziale des Organismus liegen auch schon der Motivationstheorie von Abraham Maslow zugrunde, dem Mitbegründer der Humanistischen Psychologie. Ich gehe auf diese Theorie etwas näher ein, weil sie – zusammen mit der Theorie der Gestalttherapie und der chinesischen Philosophie – mein Denken maßgeblich beeinflusst hat.

Maslow nannte als inhärentes Entwicklungsziel eines Menschen die »Selbstverwirklichung«. Seiner Theorie nach müssen jedoch bestimmte Grundbedürfnisse erst (zumindest rudimentär) befriedigt werden, bevor das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung Gestalt annehmen und wahrgenommen werden kann und das Handeln des Individuums sich in diese Richtung orientieren kann. Sein Bedürfnismodell ist hierarchisch und wurde als Bedürfnispyramide bekannt. (Die Hierarchie ist inzwischen vielfach widerlegt worden.) Als Basis benannte Maslow die körperlichen Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlaf und Sexualität. Diese elementaren Bedürfnisse müssen als erstes befriedigt werden, damit der Organismus überhaupt lebens- und reproduktionsfähig ist. Dann folgen auf der zweiten Ebene die Sicherheitsbedürfnisse. Auf der dritten Ebene finden sich die Zugehörigkeits- und Liebesbedürfnisse. Die vierte Ebene der Maslow’schen Pyramide wird durch die Bedürfnisse nach Selbstachtung gebildet, dazu gehören nach seiner Definition die Bedürfnisse nach Leistung, nach Geltung, nach Anerkennung. Die Bedürfnisse dieser vier Ebenen nannte Maslow »Defizit-Bedürfnisse«, weil ihre Nicht-Befriedigung zu Mangelerscheinungen wie somatischen und/oder psychischen Krankheiten führen. Die Spitze bildeten ursprünglich die Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung: Selbsterfüllung in der Realisierung der eigenen angelegten Möglichkeiten und Fähigkeiten sowie das Bedürfnis nach Verstehen und Einsicht. Der Selbstverwirklichung galt sein ganzes Interesse, und er nannte diese Bedürfnisse »Wachstums-Bedürfnisse«, weil ihre Nicht-Befriedigung zwar nicht krank mache, aber die Persönlichkeitsentwicklung stagnieren lasse. Später setzte er als Spitze die Transzendenzbedürfnisse, d. h. spirituelle Bedürfnisse darüber.9 Damit wurde er auch zum Mitbegründer der Transpersonalen Psychologie, die sich ab Beginn der 1970er-Jahre als so genannte vierte Kraft in der Psychologie etablierte.10

Viele der postulierten Erkenntnisse zum Thema Bedürfnisse und Motive sind wichtig und richtig, und ihr Studium bildet die Basis meines eigenen Denkens. Doch im Laufe meiner psychologischen Tätigkeit wurde mir immer deutlicher, dass diese Forschungen und Theorien jeweils immer nur einzelne Teilaspekte der menschlichen Motivstruktur bzw. der Motivation in den Blick nehmen. Und sie haben alle den gleichen blinden Fleck: die Polarität allen menschlichen Seins. Dieses Prinzip des Gegensatzes fehlt in sämtlichen Theorien.

Das Prinzip der Polarität

Es gibt bisher keine Beschreibung der menschlichen Antriebe und ihrer Dynamik, die das grundlegende Prinzip berücksichtigt, das unser Leben auf diesem Planeten prägt: das Prinzip der Polarität. Es wäre jedoch sehr verwunderlich, wenn unsere Psyche von diesem Prinzip ausgeschlossen wäre, wenn sie nicht auch von der Polarität bestimmt wäre. Der Begriff »im Gleichgewicht sein« aus der Alltagssprache drückt dieses Wissen um die Gegensätze in unserem psychischen Tiefengrund trefflich aus.

In der Psychologie von C. G. Jung wird dem Gegensatzprinzip zwar ein zentraler Stellenwert zugesprochen: »Eine psychologische Theorie, die mehr sein soll als bloß technisches Hilfsmittel, muss sich auf das Gegensatzprinzip gründen; denn ohne dieses könnte sie nur eine neurotisch unbalancierte Psyche rekonstruieren. Es gibt kein Gleichgewicht und kein System mit Selbstregulierung ohne Gegensatz.«11 Jung hat das Gegensatzprinzip jedoch nicht generell auf die menschlichen Bedürfnis- und Motivstrukturen angewendet, sondern es eher als Thema der zweiten Lebenshälfte betrachtet: »Das Gegensatzproblem als ein der menschlichen Natur inhärentes Prinzip bildet eine weitere Etappe unseres fortschreitenden Erkenntnisprozesses. Dieses Problem ist in der Regel ein Problem des reiferen Alters.«12

C. G. Jung gibt dem Gegensatz existenzielle Bedeutung, wenn er sagt, es sei ein der menschlichen Natur inhärentes Prinzip, schwächt es aber dann ab, wenn er es als Problem des reiferen Alters bezeichnet. In hohem Alter allerdings nimmt er diese Abschwächung zurück: »Traurige Wahrheit ist, dass das Leben des Menschen aus einem Komplex unerbittlicher Gegensätze besteht – Tag und Nacht, Geburt und Tod, Glück und Unglück, Gut und Böse. Wir sind nicht einmal sicher, ob eins über das andere die Oberhand gewinnen wird, ob das Gute das Böse oder die Freude den Schmerz besiegen. Das Leben ist und bleibt ein Schlachtfeld; wenn dem nicht so wäre, würde nichts mehr existieren.«13 Jung bewertet damit das ewige Wirken der Gegensätze als bitteren Kampf, aus dem alles entsteht.

Schon im Taoismus, der Jahrtausende alten chinesischen Philosophie, wird das Wirken der Gegensätze durchgängig auf alles Leben bezogen. Das Wirken der gegensätzlichen Urgewalten Yin und Yang ist dasjenige, aus dem alles entsteht. Jedoch wird in der chinesischen Philosophie nicht der Kampf der Gegensätze als Grund aller Dinge postuliert, sondern das Komplementäre, das Zusammenwirken der Gegensätze und ihr Vorhandensein in allem.

Der Vorsokratiker Heraklit betrachtet die Erfahrungswelt des Menschen als ein Ganzes von Gegensätzen, die ineinander umschlagen und sich von einem Pol zum anderen wandeln. Alles befindet sich in einem ständigen, fließenden Prozess des Werdens, in dem vordergründige Gegensätze in einer übergeordneten Einheit zusammengehören. Die Gegensatzpaare sind als Gegensätze schon ineinander verflochten dergestalt, dass sich das eine nur über das andere definieren kann.

Das Prinzip der Polaritäten ist auch in der Gestalttherapie tief verankert. Für Fritz Perls, den Begründer der Gestalttherapie, war die Philosophie von Salomo Friedlaender,14 dass alles in der Welt polar strukturiert ist, eine seiner tiefsten Grundüberzeugungen. So warnte er: »Was immer ist, differenziert sich in Gegensätze. Wenn ihr euch von einer der entgegengesetzten Kräfte einfangen lasst, sitzt ihr in der Falle oder verliert zumindest das Gleichgewicht.«15 Er geriet dann allerdings selbst in diese Falle. Meines Erachtens hat Perls sich von der Kraft einer Polarität einfangen lassen – dem Prozess der Gestaltbildung im Vordergrund des Bewusstseins. Und er hat damit die Gegenpolarität, die Kräfte und Struktur des psychophysischen Hintergrunds ausgeblendet. Ein Jahr vor seinem Tod bedauerte er dies und bemerkte dazu in seiner Autobiographie: »Selbst die Gestaltpsychologen haben sich jedoch, insgesamt gesehen, nicht zur Genüge für die Bedeutung des Grundes interessiert.«16

Die Polarität von Geben und Nehmen

Wenn ich nun die Bedürfnisstruktur der Psyche in ihrer Polarität betrachte, dann bezieht sich das Prinzip der Polarität nicht nur darauf, dass es zu jedem Grundbedürfnis ein gegensätzliches Grundbedürfnis gibt, sondern auch darauf, dass alle psychischen Bedürfnisse sowohl im Haben-Wollen als auch im Geben-Wollen bestehen.

Bedürfnisse werden meist nur in ihrem Nehmen-Modus, d. h. im »Haben-Wollen« gesehen. Die Bedürfnisse unseres Körpers zeigen uns jedoch sehr deutlich, dass wir sowohl nehmende als auch gebende Wesen sind und eine Störung im Ausgleich von Nehmen und Geben schnell zu einer tödlichen Gefahr für den Organismus werden kann. Im Atemrhythmus wird am deutlichsten, dass der Wechsel zwischen Einatmen und Ausatmen, zwischen Nehmen und Geben, nicht zu lange unterbrochen werden darf. Auch dem Nehmen von Flüssigkeit und Nahrung muss bald ein Geben in Form der Stoffwechselprodukte folgen.

Diese Polaritätsdynamik von Nehmen und Geben betrifft auch alle psychischen Bedürfnisse. Bisher wurden die menschlichen Bedürfnisse immer nur in ihrem Modus »Nehmen« beschrieben und dazu einzelne altruistische Motive postuliert, wie z. B. das Motiv der Kooperation, mit dem sich u. a. Michael Tomasello17 besonders beschäftigt. Er zeigt auf, dass uns Menschen Kooperation angeboren ist. Genauso wie das Mitgefühl, dessen hirnphysiologische Basis in den Spiegelneuronen gefunden wurde.18

Wir haben jedoch nicht nur vereinzelte altruistische Bedürfnisse und Motive, sondern sämtliche Grundbedürfnisse betreffen sowohl das »Nehmen«, als auch das »Geben«.

So bezieht sich beispielsweise unser Bedürfnis nach Sicherheit nicht nur darauf, dass wir Sicherheit für uns selbst wollen, sondern wir sind auch mit dem Potenzial ausgestattet, anderen Sicherheit geben zu wollen – das drückt sich z. B. in dem Begriff »Beschützerinstinkt« aus. Unser Gerechtigkeitssinn richtet sich nicht nur darauf, dass wir unser Recht bekommen und fair behandelt werden wollen, sondern uns ist dieses Ausgleichsbedürfnis genauso im Geben-Modus immanent, das sich zum Beispiel in Dankbarkeit, im Verantwortungs- und Pflichtgefühl ausdrückt oder in Schuldgefühlen oder schlechtem Gewissen zeigt, wenn wir unseren Pflichten nicht nachkommen oder uns undankbar oder illoyal verhalten. Das Vergeltungsmotiv im Geben-Modus steuert uns sowohl, wenn wir uns z. B. rächen, als auch wenn wir z. B. dankbar sind oder loyal. Ebenso wollen wir nicht nur geliebt werden, wir wollen nicht nur Geborgenheit und Zughörigkeit erfahren, wir haben auch das tiefe Bedürfnis zu lieben, anderen Geborgenheit und Zugehörigkeit zu geben. Unser Freiheitsbedürfnis drückt sich im GebenModus vor allem durch Toleranz aus, durch Akzeptanz von Fremdem, durch Respekt vor anderen Meinungen usw.; unser Besitzbedürfnis zeigt sich im Geben-Modus durch Großzügigkeit, Schenken, Teilen, Spenden, Weitergeben von eigenem Wissen usw.; und unser Bedürfnis nach Freude und Genuss befriedigen wir im Geben-Modus z. B., wenn wir jemandem eine Freude bereiten, wenn wir Spiel-Angebote machen, wenn wir Humor und Heiterkeit verströmen. Nichts drückt die eigene Bedürfnisbefriedigung im Geben so deutlich aus wie das Sprichwort »geteilte Freude ist doppelte Freude«.

Wenn sich im psychischen Bereich Störungen im Rhythmus zwischen Nehmen und Geben auch nicht tödlich auswirken wie im körperlichen, so sind doch die destruktiven Auswirkungen eines chronischen Ungleichgewichts von Nehmen und Geben auf die Entwicklung und die Reife unserer Persönlichkeit sowie unser Lebensschicksal enorm. Wir befriedigen im Geben eben nicht nur das Bedürfnis eines anderen Menschen, sondern auch ein eigenes. Das Bibel-Wort »Geben ist seliger denn Nehmen« drückt diese Doppelbefriedigung ebenso aus wie der Dalai Lama, wenn er sagt, »Der bodhisattva ist auf kluge Weise egoistisch.«19 (Ein bodhisattva ist eine Person, die für Buddhisten in idealer Weise Altruismus und Mitgefühl verkörpert.)

Allerdings sollte diese Erkenntnis nicht darüber hinwegtäuschen, dass man, um geben zu können, auch nehmen muss. Nur geben ist genauso schädlich wie nur nehmen. Wenn wir nur geben, dann verweigern wir anderen die Möglichkeit, uns etwas zu geben. Wir sagen damit: »Du hast nichts, was ich haben möchte oder brauchen könnte.« Das heißt, wir verweigern dann eine Ebenbürtigkeit.

Im Idealfall verwirklichen wir beides gleichzeitig. Das wird sowohl in kleinen Mikrosituationen deutlich wie auch in großen Makrosituationen. So empfinden wir zum Beispiel ein Gespräch, in dem ein wirklicher Dialog stattfindet, also die Gesprächspartner sowohl zuhören (Hingabe geben) als auch reden (Wirksamkeit nehmen), als befriedigend und anregend. Und in einer Makrosituation, wie z. B. in einer erfüllten Liebesbeziehung, in der wir gleichzeitig lieben und geliebt werden, können wir sehr deutlich spüren, wie energetisierend es sich anfühlt, wenn die beiden Gegensätze Geben und Nehmen zu einer Ganzheit integriert sind.

Insofern sind alle sogenannten altruistischen oder egoistischen Motive organismische Bedürfnisse, für die unser Gehirn eigene Strukturen und Verbindungen ausgebildet hat. Der radikale Freiheitsphilosoph Jiddu Krishnamurti drückt das so aus: »Sie mögen sagen, dass es befriedigender sei, anderen zu helfen, als an sich selbst zu denken. Worin liegt der Unterschied? Auch das ist Ichbezogenheit. Wenn es Ihnen größere Befriedigung gibt, anderen zu helfen, befassen Sie sich eben damit, weil es Sie mehr befriedigt. Warum soll man eine ideologische Vorstellung hineinbringen? Warum dieses zwiespältige Denken? Warum sagen wir nicht: ›Was ich tatsächlich wünsche, ist Befriedigung, entweder im Sexuellen oder indem ich anderen helfe oder indem ich ein großer Heiliger, Wissenschaftlicher oder Politiker werde‹? Es ist der gleiche Prozess, nicht wahr? Befriedigung auf jede nur mögliche Art, versteckt oder offen, ist das, was wir wünschen.«20

Bedürfniskreis und Motivrad

Ein Irrtum, der immer wieder zu beobachten ist, sowohl in der wissenschaftlichen Theoriebildung als auch im alltagspsychologischen Denken, ist die Gleichsetzung von Interessen mit Bedürfnissen. Diesem Irrtum unterlag auch Gestalttherapie-Gründer Fritz Perls. So schrieb er über Interessen (!), und kam dann zu dem Schluss: »Menschen haben Tausende solcher Bedürfnisse auf rein psychologischer Ebene. Und auf der sozialen Ebene gibt es wieder Tausende von Bedürfnissen.«21

Wir haben jedoch nicht Tausende von Bedürfnissen, sondern nur einige wenige Primärbedürfnisse, die sich dann aber in Tausenden von kultur- und historisch-bedingten Interessen ausdrücken. Es sind nur wenige Grundbedürfnisse bzw. Grundmotive, durch die die menschliche Existenz bestimmt wird. Und durch meine Beschäftigung mit den indischen, chinesischen und japanischen Philosophien sowie der Literatur und den Mythen aus aller Welt bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass sich unabhängig von den jeweiligen Seelen- und Geistes-Vorstellungen, den Religionen und Menschenbildern, den verschiedenen Selbst-Vorstellungen und unabhängig davon, ob die irdische Existenz als real oder als Illusion (Schatten, Maya) gesehen wird, die Menschen immer und überall die gleichen Bedürfnisse, Motive und Gefühle offenbaren.

Unsere Primärbedürfnisse lassen sich in ihrer Polarität am besten durch die Form eines Kreises bzw. Rades darstellen. Dieser inneren Landkarte der menschlichen Basisbedürfnisse und -motive die Form eines Kreises bzw. Rades zu geben, scheint mir passend für die zugrunde liegende Dynamik der Bedürfnisse und Motive. Der Kreis steht für eine hierarchielose Struktur, in der sich die Gegensätze in ihrer Grundform jeweils unveränderlich gegenüberliegen. Dagegen ist das Rad ein Symbol des steten Wandels. Es gilt als uraltes Symbol für die Dynamik von zyklischer Entwicklung, von Werden und Vergehen, vom ewigen Kreislauf. Und diese Symbolik sowohl der unveränderlichen Gegensätze als auch des Wandels und der ständigen Wiederkehr entspricht der Dynamik der menschlichen Motive. Auch sie zeichnen sich aus durch einerseits ständiges Werden und Vergehen und andererseits durch die Beständigkeit der ewigen Wiederholung weniger unveränderlicher Grundmotive, die lediglich in ihren Ausdrucksformen (Interessen, Zielen) und in ihrer Stärke dem Wandel der Zeiten und der Entwicklung eines Individuums unterworfen sind.


Abb. 1: Bedürfniskreis und Motivrad

Der äußere Kreis bildet diejenigen körperlichen Bedürfnisse ab, die befriedigt werden müssen, um als Individuum bzw. (was die Sexualität angeht) als Menschheit zu überleben. Im Gegensatz zu Bedürfnissen, die sich der Körper selbst erfüllt wie z. B. Wachstum und Zerfall der Zellen, müssen wir bestimmte Bedürfnisse aktiv befriedigen, wie z. B. ihm Flüssigkeit und Nahrung zuführen. Bestimmte Befriedigungen erzwingt er manchmal sogar gegen unseren Willen, z. B. lässt er uns in Schlaf fallen, auch wenn wir das gerade nicht brauchen können.

Ob auf der Mikroebene der Moleküle und Zellen oder auf der Makroebene der großen Lebensphasen – das gesamte Leben wird beherrscht vom Rhythmus zwischen Wachstum/Entwicklung und Tod/Zerstörung. So beruht z. B. der Aufbau von komplexen Biomolekülen auf dem Zerfall anderer Moleküle durch den Stoffwechsel. Findet auf dieser zellulären Ebene eine Fixierung auf einem Pol statt, dann haben wir auf der einen Seite das Wuchern von Zellen in Form von Tumoren oder auf der anderen Seite den unaufhörlichen Zerfall oder die Zerstörung bis zum Tod.

Die Dynamik dieses gegensätzlichen Bedürfnispaares prägt ebenso die psychischen Bedürfnisse und Motive. Ein Motiv (d. h. ein aktiviertes Bedürfnis) wächst so lange, bis es eine Befriedigung gefunden hat – dann zerfällt es in den psychophysischen Hintergrund und macht neuen Motivgestalten im Vordergrund unseres Bewusstseins Platz, die in ihrer Stärke wachsen bis zur wahrgenommenen Befriedigung. Wenn ein Motiv als uns steuernde Instanz nicht mehr zerfällt, sind wir in einer Fixierung, d. h. es entwickelt sich eine Sucht, eine Gier oder ein Zwang – das Spüren einer Befriedigung ist dann kaum mehr möglich und andere Bedürfnisse werden aus dem Bewusstsein ferngehalten und dürfen nicht mehr zum wahrnehmungs- und handlungssteuernden Motiv werden.

Das bedeutet, unsere gesamte Persönlichkeitsentwicklung hängt von einem guten Rhythmus zwischen Wachstum und Zerfall der Motive ab, so wie unsere körperliche Entwicklung von einem guten Rhythmus zwischen Wachstum und Zerfall der Zellen abhängt.

Da wir als Menschen in, mit und durch unseren Körper leben, sind alle unsere psychischen Bedürfnisse untrennbar mit unseren körperlichen Bedürfnissen verbunden.

Es gibt keine Möglichkeit der Befriedigung unserer psychischen Bedürfnisse, wenn nicht unser körperliches Grundbedürfnis nach Kontakt mit der Welt aktiviert ist. Alle Motive sind untrennbar mit dem Kontakt- oder dem Rückzugsmotiv verbunden. Ohne Kontakt mit der Welt könnten wir kein einziges Begehren stillen – selbst im Schlaf brauchen wir die uns umgebende Luft. Die Art, wie wir mit der Welt in Kontakt treten, ist von unseren psychischen Motiven bestimmt; ebenso ist das, was wir in der Umwelt wahrnehmen je nach Motivlage unterschiedlich. Unser Normalbewusstsein ist nicht in der Lage, die tausendfältige Wirklichkeit wahrzunehmen (wie das eventuell bei mystischen Gipfelerlebnissen ist, sei an dieser Stelle unberücksichtigt). Wir nehmen also immer nur Fragmente wahr, und diese Selektion der Wahrnehmung ist davon bestimmt, von welchen Motiven wir gerade gesteuert sind. Diese Motive bestimmen auch das »Wie«, wenn wir mit der Welt in Verbindung treten. Zur Verdeutlichung ein banales Beispiel:

Drei Personen sind bei einer Veranstaltung mit einem Vortrag und anschließendem Essen. Teilnehmer X ist weder am Vortrag noch an den anwesenden Leuten interessiert – hat aber den ganzen Tag wenig gegessen und ist hungrig. Teilnehmer Y ist an dem Thema des Vortrags interessiert, ist aber nicht sehr kontaktfreudig und macht gerade eine Diät. Person Z ist weder am Essen noch am Vortrag interessiert – sie hofft, bei dieser Gelegenheit Kundenkontakte knüpfen zu können. Worauf wird sich jeweils die Wahrnehmung dieser drei Personen richten? Person X schaut vorwiegend, was das Buffet zu bieten hat; Person Y ist an einem Sitzplatz interessiert, von dem aus sie dem Vortrag gut und ungestört folgen kann und Person Z schaut vor allem, wer da ist und mit wem sie ins Gespräch kommen kann. Die Wahrnehmung der vielfältigen Wirklichkeit wird von den jeweiligen Motiven gesteuert. Aus der vielfältigen Wirklichkeit werden vor allem diejenigen Aspekte wahrgenommen, die für eine Bedürfnisbefriedigung relevant sind. Entsprechend unterschiedlich - je nach Befriedigungsgrad der jeweiligen Bedürfnisse - wird der Abend innerlich bewertet und als Wirklichkeit erlebt.

Unser Bedürfnis nach Kontakt ist nochmals polarisiert in Wahrnehmung (Nehmen) und Ausdruck (Geben). Mit unseren Sinnen nehmen wir die Welt in uns auf und mit Bewegung, Mimik, Gestik, Sprache, Kunst, Musik und Arbeit drücken wir uns in der Welt aus.

Der Gegenpol zum Kontaktbedürfnis ist unser Bedürfnis nach Rückzug von der Welt. Der Schlaf ist die ausgeprägte Form dieses Bedürfnisses. Im Schlaf ziehen wir uns fast vollständig von der Welt zurück (mit Ausnahme des Atmens). Während wir in jenen Phasen, in denen das Kontaktmotiv aktiv ist, frustriert sind, wenn der Kontakt nicht stattfindet, kann kein noch so interessanter Kontakt verhindern, dass wir in Schlaf fallen, wenn der Organismus vehement danach verlangt. Unser Rückzugsbedürfnis befriedigen wir jedoch nicht nur mit Schlaf – auch jede Ruhepause, jedes innere Abschalten in einem Gespräch oder gedankenleeres Vor-sich-Hinschauen sind Formen der Befriedigung.

Eine spezielle Form des Rückzugs ist die Meditation. Hermann Hesse beschreibt ihre Wirkung in seinem Alterswerk Das Glasperlenspiel besonders eindringlich: »je mehr wir von uns verlangen, oder je mehr unsere jeweilige Aufgabe von uns verlangt, desto mehr sind wir auf die Kraftquelle der Meditation angewiesen, auf die immer erneute Versöhnung von Geist und Seele. […] Die wirklich großen Männer der Weltgeschichte haben alle entweder zu meditieren verstanden oder doch unbewusst den Weg dorthin gekannt, wohin Meditation uns führt. Die andern, auch die Begabtesten und Kräftigsten sind alle am Ende gescheitert und unterlegen, weil ihre Aufgabe, oder ihr ehrgeiziger Traum so von ihnen Besitz ergriff, sie so besaß und zu Besessenen machte, dass sie die Fähigkeit verloren, sich immer wieder vom Aktuellen zu lösen und zu distanzieren.«22

Auch mit den beiden Polen Weibliche Sexualität (Femininität) vs. Männliche Sexualität (Maskulinität) ist es so, wie mit allen Polaritäten des körperlichen Kreises: Sie sind immer auch mit den psychischen Bedürfnissen verbunden. Unser Sexualitätsbedürfnis hat viele Gesichter und Ausdrucksformen, so dass es im Gegensatz zum Tierreich im menschlichen Bereich meist nicht um das Bedürfnis nach Fortpflanzung geht, sondern das Sexualmotiv sich mit allen Motivfeldern aus dem psychischen Kreis verbinden kann. Verbunden mit dem Motivfeld Freude/Genuss will es hauptsächlich den Lustgewinn. Verbunden mit dem Motivfeld Bindung/Gemeinschaft gilt Sexualität als die intimste und intensivste Form von Liebe und Verbundenheit. In Kombination mit Motiven wie Rache oder Macht findet sie ihren Ausdruck in Vergewaltigungen. Verbunden mit dem Neuheits-/Veränderungs-Motiv und/oder mit dem Freiheits-Motiv führt sie zur Promiskuität, zur Polygamie, zum Fremdgehen usw. Kombiniert mit dem Besitz-Motiv führt sie zum eifersüchtigen Bewachen des Sexualpartners. In Kombination mit dem Selbstwert-Motiv geht es vor allem um den Beweis der eigenen Potenz bzw. der Bestätigung der sexuellen Attraktivität. Angesichts der Komplexität menschlichen Handelns ist Sexualität jedoch fast immer mit mehreren Motiven gleichzeitig verbunden. So ist z. B. bei einem unverbindlichen Flirt das Sexualmotiv in Form von Erotik verbunden mit den Motiven nach Freude/Genuss, Individualität/Freiheit, Neuheit und Selbstwert/ Anerkennung. Unter Erotik versteht man in engerem Sinn die geistig-seelische Entfaltung der Geschlechtlichkeit und das Spiel mit deren Reizen. Ihre starke Motivkraft wirkt in den Attraktivitäts-Idealen einer Gesellschaft, in der Werbung, der Publizistik, der Kunst, der Mode und natürlich in der mitmenschlichen Kommunikation.

Das Thema Sexualität ist im Allgemeinen so breit kommuniziert, dass ich dazu nur noch zwei Größen der Philosophie zu Worte kommen lassen möchte: Schopenhauer und Platon. Schopenhauer sieht in der Sexualität die stärkste und tätigste Triebfeder (wie später auch Sigmund Freud) und beschreibt sie hier vor allem als Kraft, die imstande ist, alle Vernunft zu überwältigen:

»Denn alle Verliebtheit, wie ätherisch sie sich auch geberden mag, wurzelt allein im Geschlechtstriebe, ja, ist durchaus nur ein näher bestimmter, specialisierter, wohl gar im strengsten Sinn individualisierter Geschlechtstrieb. Wenn man nun, dieses fest haltend, die wichtige Rolle betrachtet, welche die Geschlechtsliebe in allen ihren Abstufungen und Nuancen, nicht bloß in Schauspielen und Romanen, sondern auch in der wirklichen Welt spielt, wo sie, nächst der Liebe zum Leben, sich als die stärkste und thätigste aller Triebfedern erweist, die Hälfte der Kräfte und Gedanken des jüngeren Theiles der Menschheit fortwährend in Anspruch nimmt, das letzte Ziel fast jedes menschlichen Bestrebens ist, auf die wichtigsten Angelegenheiten nachtheiligen Einfluß erlangt, die ernsthaftesten Beschäftigungen zu jeder Stunde unterbricht, bisweilen selbst die größten Köpfe auf eine Weile in Verwirrung setzt, sich nicht scheut, zwischen die Verhandlungen der Staatsmänner und die Forschungen der Gelehrten, störend, mit ihrem Plunder einzutreten, ihre Liebesbriefchen und Haarlöckchen sogar in ministerielle Portefeuilles und philosophischen Manuskripte einzuschieben versteht, nicht minder täglich die verworrensten und schlimmsten Händel anzettelt, die werthvollsten Verhältnisse auflöst, die festesten Bande zerreißt, bisweilen Leben, oder Gesundheit, bisweilen Reichthum, Rang und Glück zu ihrem Opfer nimmt, ja, den sonst Redlichen gewissenlos, den bisher Treuen zum Verräther macht, demnach im Ganzen auftritt als ein feindseliger Dämon, der Alles zu verkehren, zu verwirren und umzuwerfen bemüht ist; – da wird man veranlaßt auszurufen: Wozu der Lerm? Wozu das Drängen, Toben, die Angst und die Noth? Es handelt sich ja bloß darum, daß jeder Hans seine Grete finde.«23

Dass der Sexualtrieb nicht nur Hans zur Grete treibt, sondern auch Hans zu Hans und Grete zu Grete, findet seinen besonders poetischen Ausdruck bei Platon. In Platons Gastmahl24 rühmt Aristophanes die Macht des Liebesgottes Eros und möchte mit seiner Erzählung von dem Kugelmenschen die Ursache für die Entstehung des starken sexuellen Begehrens aufdecken.

Seinen Ausführungen zufolge war die menschliche Natur ursprünglich ganz anders. Die Menschen hatten kugelförmige Rümpfe sowie vier Füße, vier Arme und Hände und einen Kopf mit zwei Gesichtern, die in entgegengesetzte Richtungen schauten und der auf einem kugelförmigen Hals saß. Es gab nicht nur zwei Geschlechter, sondern drei: Manche Kugelmenschen waren rein männlich, andere rein weiblich, wiederum andere (die Androgynen) hatten eine männliche und eine weibliche Hälfte.

Nun waren die Kugelmenschen aufgrund ihrer gewaltigen Kraft übermütig geworden und wollten zum Himmel und die Götter angreifen. Eine Beratung im Götterhimmel, wie man wohl am besten mit dem dreisten Menschengeschlecht umgehen sollte, ergab, dass die Götter es nicht vernichten wollten, weil sie Wert auf seine Ehrenbezeugungen und Opfer legten. Daher entschied sich Göttervater Zeus, die Kugelmenschen zu schwächen, indem er jeden von ihnen halbierte. Diese Hälften sind die heutigen zweibeinigen Menschen. Gott Apollo erhielt den Auftrag, die Gesichter zur Schnittfläche – der heutigen Bauchseite – hin umzudrehen und die Wunden zu schließen, indem er die Haut über die Bäuche zog und am Nabel zusammenband. Die Geschlechtsteile blieben auf der Rückseite. Da die jetzt zweibeinigen Menschen schwer unter der Trennung von ihren jeweiligen Hälften litten, umklammerten sich die Hälften in der Hoffnung, wieder zusammenzuwachsen. Sie begannen zu verhungern, weil sie nichts mehr sonst unternahmen, als sich zu umschlingen. Um ihr Aussterben zu verhindern, versetzte Zeus die Geschlechtsorgane nach vorn, damit sie durch die sexuelle Begegnung ihr Einheits- bzw. Ganzheitsbedürfnis vorübergehend befriedigen und so die Sehnsucht zeitweilig stillen können. Nun waren sie wieder lebenstauglich und fortpflanzungsfähig geworden, aber sie leiden weiterhin unter ihrer Unvollständigkeit. Die Sehnsucht nach der verlorenen Ganzheit zeigt sich in Gestalt des sexuellen Begehrens, das auf Vereinigung abzielt. Auf wen sich das erotische Begehren richtet, hängt davon ab, zu welchem der drei Geschlechter die Hälften einst gehörten: zu den rein männlichen Kugelmenschen, zu den rein weiblichen oder zu denen mit einer männlichen und einer weiblichen Hälfte. Je nach dieser ursprünglichen Beschaffenheit eines Kugelmenschen weisen dessen getrennte Hälften jetzt eine heterosexuelle oder homosexuelle Veranlagung auf. Damit erklärt Platons Aristophanes die Unterschiede in der sexuellen Orientierung: Nur die aus den zweigeschlechtlichen, androgynen Kugelmenschen entstandenen Menschen sind heterosexuell.25

Unabhängig davon, welchem Geschlecht wir angehören und wie wir dieses sowie unsere sexuelle Orientierung empfinden – alles, was wir tun oder erleben, wird von unserer femininen und maskulinen Energie durchdrungen. Wir bewegen uns auch hier ständig zwischen den Polaritäten und sind abwechselnd von femininer und maskuliner Energie bestimmt. In der chinesischen Philosophie wird die feminine Energie als Yin bezeichnet – die maskuline Energie als Yang. Feminine Energie bestimmt danach alles weiche, nachgiebige, zulassende, aufnehmende, einfühlende Verhalten. Maskuline Energie bewirkt tatkräftiges, bestimmendes, führendes, strebendes Verhalten. Allein diese Zuordnungen zeigen schon, dass, unabhängig von der Geschlechterzuordnung, jeder Mensch beide Energien in sich hat und eine ausgewogene Persönlichkeit sowohl ihre feminine als auch ihre maskuline Energie zum Ausdruck kommen lässt. Wie ich später noch ausführen werde, brauchen wir - in jeglicher geschlechtlichen Identität - für die Befriedigung unseres Selbstwirksamkeits-/Macht-Bedürfnisses maskuline Energie und für die Befriedigung unseres Gelassenheits-/Hingabe-Bedürfnisses feminine Energie.

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