1177 v. Chr.

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Der Aufstand von Aššuwa in Anatolien

Es ist eine faszinierende Vorstellung, dass Thutmosis III. mit weit entfernten Gebieten nördlich und westlich von Ägypten in regem Kontakt stand und vielleicht sogar aktiv mit ihnen Waren austauschte. Es kann durchaus sein, dass der Kontakt Ägyptens mit Aššuwa (vorausgesetzt, dass es tatsächlich mit Isy identisch war) von Aššuwa ausging. Um 1430 v. Chr. kam es in Aššuwa zu einem Aufstand gegen die zentralanatolischen Hethiter, und es ist durchaus möglich, dass Aššuwa im Jahrzehnt vor diesem Aufstand aktiv nach diplomatischen Kontakten zu anderen Großmächten suchte.49 Bis 1991 interessierten sich nur wenige Forscher für den Aufstand von Aššuwa; doch dann stieß der Fahrer eines Bulldozers beim Straßenbau in der Nähe der antiken Stätte Hattuša (208 Kilometer östlich von Ankara) auf etwas Metallisches. Er sprang aus dem Fahrerhaus und fand im gelockerten Erdreich einen langen, dünnen und dunkelgrün gefärbten Gegenstand. Das Objekt sah aus wie ein antikes Schwert, und als die Archäologen des örtlichen Museums es reinigten, bestätigte sich ihre Annahme.

Es handelte sich jedoch nicht um eines der typischen Hethiter-Schwerter, sondern um eine Waffe, die man in dieser Region noch nie zuvor gesehen hatte. In die Klinge waren Schriftzeichen eingeritzt, und es schien zunächst erfolgversprechender, die Schrift zu entziffern, als die Herkunft des Schwertes auf andere Weise zu bestimmen. Der Text war in Akkadisch verfasst, der üblichen Diplomatensprache des bronzezeitlichen alten Orients, und zwar in Keilschrift: Er lautete wie folgt: »i-nu-ma mDu-ut-ha-li-ya LUGAL.GAL KUR URUA-as-su-wa u-hal-liq GIR HI.A an-nu-tim a-na DIskur be-li-su u-se-li.« Falls es tatsächlich Leser geben sollte, die kein Akkadisch können, hier die Übersetzung: »Als Duthalija, der Großkönig, das Land Aššuwa zerschlug, weihte er diese Schwerter dem Gott des Sturmes, seinem Herrn.«50

Die Inschrift bezieht sich auf den sogenannten Aufstand von Aššuwa, den der Hethiterkönig Tudhalija I./II. ca. 1430 v. Chr. niederschlug (man bezeichnet ihn stets als »I./II.«, da man nicht genau weiß, ob er der erste oder der zweite König mit diesem Namen war). Forschern, die sich mit den Hethitern beschäftigten, war diese Revolte bereits wohlbekannt: Sie wird in diversen Keilschrifttexten auf Tontafeln erwähnt, die deutsche Archäologen Anfang des 20. Jahrhunderts bei Ausgrabungen in Hattuša entdeckten. Das Schwert jedoch war die erste Waffe und überhaupt das erste Artefakt, das man mit diesem Aufstand in Verbindung bringen konnte. Aus der Inschrift geht hervor, dass es wahrscheinlich noch mehr solche Schwerter gibt, die noch nicht gefunden wurden. Doch bevor wir hier fortfahren, sollten wir einen Moment innehalten und uns mit den Hethitern beschäftigen, Aššuwa verorten und den Aufstand ein wenig eingehender untersuchen. Dabei geht es darum, inwiefern diese Rebellion Zeugnis eines frühen »Internationalismus« ist und – möglicherweise – ein Beweis dafür, dass der Trojanische Krieg 200 Jahre früher stattfand und aus ganz anderen Gründen, als Homer sie anführt.

Exkurs: Entdeckung der Hethiter und Überblick

Was zunächst einmal erstaunlich ist: Obwohl die Hethiter den größten Teil des 2. Jahrtausends v. Chr. von ihrer Heimat in Zentralanatolien aus ein riesiges Reich regierten, gerieten sie (zumindest in geographischer Hinsicht) komplett in Vergessenheit, bis man sie vor gerade einmal 200 Jahren wiederentdeckte.51

Bibelkennern waren die Hethiter immerhin ein Begriff, da sie in der Bibel mehrmals auftauchen, als eines von zahlreichen Völkern, deren Namen auf »-iter« endete (Hethiter, Heviter, Amurriter, Jebusiter usw.) und die gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. in Kanaan lebten, mit den Hebräern/Israeliten interagierten und ihnen am Ende unterlegen waren. Beispielsweise erfahren wir, dass Abraham von einem Hethiter namens Ephron eine Grabstätte für seine Frau Sarah kaufte (1. Mose 23: 3–20), dass König Davids Frau Bathseba in erster Ehe mit dem Hethiter Uria vermählt war (2. Samuel 11: 2–27) und dass König Salomo unter seinen Gattinnen »hethitische Frauen« hatte (1. Könige 11: 1). Dennoch waren die Bemühungen, die Hethiter in der biblischen Landschaft zu verorten, lange Zeit nicht von Erfolg gekrönt, und das, obwohl Moses in der Szene mit dem brennenden Dornbusch ziemlich genau ihren Standort erfährt: »Ich bin herabgestiegen, um sie [die Israeliten] der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter« (2 Mose 3:8).52

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts traten dann Entdecker wie Johann Ludwig Burckhardt auf den Plan, ein Schweizer, der sich seine Nachforschungen vor Ort dadurch erleichterte, dass er sich in orientalische Gewänder kleidete (und sich selbst »Scheich Ibrahim« nannte). Forscher wie er waren es, die im Inneren der Türkei die Überreste einer bisher unbekannten Zivilisation aus der Bronzezeit entdeckten. Und irgendwann zählte man endlich zwei und zwei zusammen: Im Jahr 1879 verkündete der angesehene Assyriologe Archibald H. Sayce auf einer Konferenz in London, die Hethiter hätten gar nicht in Kanaan gelebt, sondern in Anatolien, also in der Türkei und nicht im Raum Israel/Libanon/Syrien/Jordanien. Seine Ausführungen fanden allgemeine Zustimmung und besitzen noch heute Gültigkeit, auch wenn man sich fragen muss, wie die Bibel so falsch liegen konnte.

Des Rätsels Lösung ist so einfach wie logisch: So wie sich das britische Empire auf Gebiete erstreckte, die weit von den britischen Inseln entfernt lagen, gehörten auch zum Hethiterreich Regionen im Westen der Türkei und im Süden, in Syrien. Und genau so wie man in einigen Teilen des längst verschwundenen britischen Weltreiches noch heute Kricket spielt und seinen Nachmittagstee einnimmt, hielten sich auch in Teilen des ehemaligen Hethitischen Reiches im nördlichen Syrien Überreste der hethitischen Kultur, Sprache und Religion – und zwar so deutliche, dass wir jene Kultur, die im frühen 1. Jahrtausend v. Chr. blühte, als Neo-Hethiter bezeichnen. Dem heutigen Forschungsstand nach wurde das Alte Testament irgendwann zwischen dem 9. und 7. Jahrhundert v. Chr. verfasst; zu jener Zeit gab es die ursprünglichen Hethiter schon lange nicht mehr. Doch ihre Nachfolger, die Neo-Hethiter, lebten fest etabliert im Norden Kanaans. Und dort interagierten sie zweifellos mit den Israeliten und anderen Völkern der Levante. Das führte zu ihrer Erwähnung in der Bibel, was wiederum die späteren Entdecker der Suche nach den Original-Hethitern verwirrte.53

Was noch dazukam: Als die Archäologen schließlich begannen, die Stätten der Hethiter auszugraben und die zahlreichen Tontafeln, die sie dort fanden, zu übersetzen, wurde schnell klar, dass sich dieses Volk selbst gar nicht als »Hethiter« bezeichnet hatte. Der Name, den sie sich selbst gaben, war eher so etwas wie »Nēšiter« oder »Nēšier«, nach der Stadt Nēša (die heute als Kültepe Kaniš bekannte Ausgrabungsstätte in Kappadokien in der Türkei). Diese Stadt blühte etwa 200 Jahre lang, als Sitz einer lokalen indoeuropäischen Dynastie, bevor König Hattušili I. (das bedeutet »der Mann aus Hattuša«) irgendwann um 1650 v. Chr. seine Hauptstadt weiter nach Osten verlegte und ihr eben diesen Namen gab: Hattuša. Wir nennen dieses Volk nur heute noch »Hethiter«, weil dieser Name bereits seinen festen Platz in der wissenschaftlichen Literatur hatte, bevor man die Tafeln mit ihrem eigentlichen Namen entdeckte und übersetzte.54

Die Lage der neuen Hauptstadt Hattuša war sorgfältig ausgewählt. Sie war so gut befestigt und so günstig gelegen (der einzige Zugang zur Stadt war ein enges Tal), dass sie während ihrer ganzen 500-jährigen Geschichte nur zwei Mal erobert wurde, offenbar beide Male von einem benachbarten Stamm, den Kaška. Ab 1906 gruben dort deutsche Archäologen wie Hugo Winckler, Kurt Bittel, Peter Neve und Jürgen Seeher, und sie fanden Tausende von Tontafeln. Darunter sind Briefe und Dokumente aus dem offiziellen Staatsarchiv, aber auch Gedichte, Erzählungen, Geschichten, Beschreibungen religiöser Rituale und viele andere Dokumente. Diese Texte geben uns einen Einblick nicht nur in die Geschichte der hethitischen Herrscher und in ihre Interaktionen mit anderen Völkern und Königreichen; sie verraten uns auch viel über die ganz normalen Bürger und ihr tägliches Leben, über die hethitische Gesellschaft, das Glaubenssystem und die Rechtsordnung. In den letzteren Bereich fällt die faszinierende Anweisung: »Wenn jemand einem freien Menschen die Nase abbeißt, so soll er 40 Schekel Silber zahlen«55 (und man fragt sich unweigerlich, wie oft das wohl vorgekommen sein mag).

An einer Stelle heißt es, ein hethitischer König namens Muršili I., der Enkel und Nachfolger des oben erwähnten Hattušili I., sei im Jahr 1595 v. Chr. mit seiner Armee über 1000 Meilen bis nach Mesopotamien marschiert, habe die Stadt Babylon angegriffen, sie niedergebrannt und damit eine 200 Jahre alte Dynastie vernichtet, die einst durch Hammurabi, den »Gesetzgeber«, begründet worden war. Doch anstatt die Stadt zu besetzen, machte er mit seiner hethitischen Armee einfach kehrt und ging nach Hause – dies war das wohl längste drive-by-shooting der Weltgeschichte. Ein wohl eher unbeabsichtigter Nebeneffekt seines Überfalls war, dass es einem bisher unbekannten Stamm, den Kassiten, gelang, die Stadt Babylon zu besetzen und mehrere Jahrhunderte lang zu regieren.

 

Die erste Hälfte der hethitischen Geschichte nennt man das »alte Königreich«, und zu jener Zeit lebten berühmte Könige wie Muršili. Doch für uns ist hier eher die zweite Hälfte interessant: Während dieser Zeit, der späten Bronzezeit zwischen dem Beginn des 15. und den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts v. Chr., blühte das hethitische Reich und stieg zu nie gekannten Höhen auf. Einer der berühmtesten Könige jener Epoche war Šuppiluliuma I., den wir im nächsten Kapitel kennenlernen werden und der den Hethitern eine herausragende Stellung im alten Orient verschaffte, indem er große Gebiete eroberte und sich als ebenbürtiger Antipode der Pharaonen des Neuen Reiches in Ägypten erwies. Eine verwitwete ägyptische Königin bat Šuppiluliuma sogar darum, ihr einen seiner Söhne als Ehemann zu senden, und verkündete, jener würde mit ihr zusammen über Ägypten herrschen. Wir wissen nicht, welche Königin bzw. wessen Witwe das war, doch wie wir später sehen werden, glauben einige Forscher, dass es sich dabei um Anchesenamun handelte und beim toten König um Tutanchamun.

Der Aufstand von Aššuwa und die Achijawa-Frage

Kehren wir noch einmal zum Jahr 1430 v. Chr. zurück, als sich die Hethiter und ihr König Tudhalija I./II. mit einer Koalition abtrünniger Staaten auseinandersetzen mussten. Diese Staaten bezeichnete man kollektiv als »Aššuwa«. Ihr Standort war der Nordwesten der Türkei, gleich bei den Dardanellen, wo im Ersten Weltkrieg die Schlacht von Gallipoli stattfand. Die hethitischen Tontafeln nennen uns die Namen aller 22 verbündeten Staaten, die sich gegen die Hethiter auflehnten. Die meisten dieser Namen sagen uns heute nichts mehr und lassen sich auch nicht verorten, mit Ausnahme der beiden letzten auf der Liste: Wilusiya und Taruisa – diese verweisen wahrscheinlich auf Troja und seine Umgebung.56 Der Aufstand begann offenbar, als Tudhalija I./II. und seine Armee von einem Feldzug in Westanatolien zurückkehrten. Als der hethitische König von der Rebellion erfuhr, kehrte er mit seiner Armee sofort um und marschierte nach Nordwesten, nach Aššuwa, um den Aufstand niederzuschlagen. Wie der hethitische Bericht uns mitteilt, stand Tudhalija persönlich an der Spitze seiner Armee und besiegte die Konföderation von Aššuwa.

Die Aufzeichnungen zeigen, dass man aus Aššuwa 10.000 Soldaten, 600 Pferdegespanne mitsamt Wagenlenkern sowie »die eroberte Bevölkerung, Ochsen, Schafe, [und] den Besitz des Landes« mit nach Hattuša brachte, als Gefangene und Beute.57 Darunter befand sich der König von Aššuwa und sein Sohn Kukkuli, ein paar weitere Mitglieder der Königsfamilie von Aššuwa und deren Angehörige. Schließlich ernannte Tudhalija Kukkuli zum König von Aššuwa und installierte Aššuwa wieder als Vasallenstaat des Hethitischen Reiches. Kukkuli jedoch hatte nichts Besseres zu tun, als seinerseits prompt zu rebellieren, nur um ebenfalls von den Hethitern besiegt zu werden. Kukkuli wurde hingerichtet, die Koalition von Aššuwa wurde zerstört und verschwand komplett von der Bildfläche. Ihr Vermächtnis lebt in erster Linie in der Bezeichnung »Asien« weiter, möglicherweise aber auch im Mythos vom Trojanischen Krieg, denn die Namen Wilusiya und Taruisa weisen nach Meinung mancher Wissenschaftler eine starke Ähnlichkeit auf zu den bronzezeitlichen Namen für die Stadt Troja/Ilion und deren umgebende Landschaft, die Troas.

Hier kommt nun das Schwert ins Spiel, das man in Hattuša fand, mit der Inschrift von Tudhalija I./II., denn – wie oben erwähnt – wurde es nicht vor Ort hergestellt. Schwerter dieser Art kennt man in erster Linie vom griechischen Festland des 15. Jahrhunderts v. Chr. Es handelt sich nämlich um ein mykenisches Schwert (oder zumindest eine sehr gute Imitation eines mykenischen Schwertes). Warum ein solches Schwert beim Aufstand von Aššuwa verwendet wurde, ist eine Frage, auf die wir keine Antwort wissen; wurde es von einem Aššuwa-Soldaten benutzt, von einem mykenischen Söldner oder vielleicht von jemand ganz anderem?

Neben einem ausführlichen Bericht gibt es noch fünf weitere hethitische Tontafeln, die Aššuwa und/oder den Aufstand erwähnen. Eine bestätigt in knappen Worten das Vorgefallene – sie beginnt: »So spricht (…) Tudhalija, der Großkönig: Als ich Aššuwa zerstört hatte und wieder zurück in Hattuša war (…)«58 Die interessanteste Tafel ist das Fragment eines Briefes, dessen Bruchstücke durchaus die Fantasie anregen, aber immerhin zweimal den König von Aššuwa erwähnen und einmal Tudhalija. Auch dieser Text bezieht sich auf einen Feldzug und erwähnt u.a. das Land Achijawa, den König von Achijawa und Inseln, die dem König von Achijawa gehören. Der Brief ist beschädigt und unvollständig, man darf also nicht allzu viel darauf geben, dass hier Aššuwa und Achijawa in ein und demselben Text auftauchen. Aber er scheint immerhin anzudeuten, dass Aššuwa und Achijawa zur damaligen Zeit in irgendeiner Art und Wiese miteinander in Verbindung standen.59

Dieser Brief trägt die Bezeichnung KUB XXVI 91 (nach seiner Erstveröffentlichung in Deutschland), und man nahm lange an, der König der Hethiter habe ihn an den König von Achijawa geschickt; kürzlich jedoch hat jemand vorgeschlagen, es könne genau andersherum gewesen sein, nämlich dass er vom König von Achijawa stammte – damit wäre dies der einzige existierende Brief, der aus dieser Region und von diesem König verschickt wurde.60 Aber um welche Region handelt es sich überhaupt, und wer war der König? Wo lag dieses Achijawa? Diese Frage hat viele Forscher einen Großteil des vergangenen Jahrhunderts lang umgetrieben. Heute sind sich die meisten Wissenschaftler darüber einig, dass Achijawa auf dem griechischen Festland lag: Es war das Reich der Mykener, wahrscheinlich mit der Stadt Mykene als Zentrum. Dies weiß man durch 25 Tontafeln aus dem hethitischen Archiv in Hattuša, die binnen eines Zeitraums von fast 300 Jahren entstanden (ab dem 15. bis Ende des 13. Jahrhunderts v. Chr.) und die in verschiedenen Zusammenhängen Achijawa erwähnen. Die gründliche Untersuchung dieser Tafeln hat ergeben, dass sie sich nur auf das griechische Festland und die Mykener beziehen können.61 Bevor wir mit unserer Geschichte fortfahren, soll an dieser Stelle wieder ein kurzer Exkurs folgen, bei dem wir diesmal die Mykener kennenlernen wollen.

Exkurs: Entdeckung der Mykener und Überblick

Die mykenische Kultur trat erstmalig vor fast 150 Jahren, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in das Licht der Öffentlichkeit, und zwar dank Heinrich Schliemann, dem »Vater der mykenischen Archäologie«. Die meisten modernen Archäologen pflegen eine leidenschaftliche Abneigung gegen Schliemann – das liegt einerseits an seinen recht primitiven Grabungsmethoden und andererseits daran, dass man sich bei ihm nie ganz sicher ist, wie sehr man ihm und seinen Berichten trauen kann. Zu Beginn der 1870er Jahre grub Schliemann Hisarlık im Nordwesten Anatoliens aus, das er als Troja identifizierte. Nun, da er den Standort der trojanischen Seite des Krieges um Troja gefunden hatte (worum es später noch detaillierter gehen soll), beschloss er, es sei der geeignete Zeitpunkt, als Nächstes die mykenische Seite zu entdecken.

Mykene auf dem griechischen Festland zu finden, gestaltete sich indes weit weniger schwierig, als es die Suche nach Troja in Anatolien gewesen war. Denn anders als bei Troja standen noch überirdische Ruinen des antiken Mykene, u.a. das berühmte Löwentor, das man mehrere Jahrzehnte zuvor entdeckt und bereits teilweise rekonstruiert hatte. Als Schliemann Mitte der 1870er Jahre im nahegelegenen Dorf Mykenai eintraf, führten ihn die Einheimischen direkt zur mykenischen Stätte.

Sofort begann er mit seinen Ausgrabungen – dass er keine Grabungsgenehmigung besaß, störte ihn hier so wenig wie bereits bei anderen Gelegenheiten. Schon bald entdeckte er eine Reihe von Schachtgräbern mit Skeletten, Waffen und mehr Gold, als er sich jemals erträumt hatte. Umgehend schickte er dem König von Griechenland ein Telegramm, in dem er erklärt haben soll, er habe »ins Antlitz des Agamemnon geschaut«62. Natürlich hatte Schliemann die Gräber und anderen Funde nicht korrekt datiert – selbst wenn er Recht hatte, lag er stets grundlegend falsch. Wir wissen heute, dass diese Schachtgräber (zwei große Kreise solcher Gräber gibt es in Mykene) auf die erste erfolgreiche Epoche dieser Stadt und ihrer Zivilisation datieren (1650–1500 v. Chr.) und eben nicht auf die Zeit des Agamemnon und Achilles (ca. 1250 v. Chr.). Aber auch wenn er um vier Jahrhunderte danebenlag, so hatte Schliemann doch immerhin in der richtigen Stadt gegraben.

Schliemann war keineswegs der einzige Archäologe, der sich mit der Bronzezeit beschäftigte; zahlreiche andere Gelehrte wie Christos Tsountas und James Manatt waren ebenso emsige Ausgräber und leisteten sogar bessere Arbeit als Schliemann. Doch er war es, der mit seinen Erkenntnissen verstand die Öffentlichkeit zu begeistern, zumal in Hinblick auf seine kürzliche Entdeckung Trojas (mehr dazu später).63 Schliemann grub noch ein paar Jahre lang in Mykene, im nahegelegenen Tiryns und auch an anderen Orten, bevor er nach Troja zurückkehrte, wo er 1878 und in den 1880er Jahren weitere Ausgrabungen durchführte. Er bemühte sich auch, Grabungen in Knossos auf Kreta zu organisieren, aber ohne Erfolg. Es war ein großes Glück für die Archäologie, dass er die weitere Erforschung Mykenes anderen überließ. So waren es schließlich ein Amerikaner und ein Brite, Carl Blegen von der University of Cincinnati und Alan Wace aus Cambridge, die die Basis für eine seriöse Beschäftigung mit der mykenischen Zivilisation und ihrer Entwicklung als Ganzes schufen.

Wace leitete ab den 1920ern mehrere Jahrzehnte lang die britischen Ausgrabungen in Mykene. Blegen grub 1932 bis 1938 in Troja, aber auch im Süden von Griechenland, in Pylos. Gleich am ersten Tag ihrer Ausgrabungen in Pylos im Jahr 1939 fanden Blegen und sein Team die ersten Tontafeln eines riesigen Archivs mit unzähligen in Linear B verfassten Texten.64 Dann kam der Zweite Weltkrieg dazwischen, aber 1952 konnten die Arbeiten wieder aufgenommen werden. Noch im selben Jahr bewies der britische Architekt Michael Ventris endgültig, dass Linear B eine frühe Version der griechischen Schrift darstellte.

Die anschließende Übersetzung der Linear-B-Texte aus Stätten wie Pylos, Mykene, Tiryns, Theben und Knossos ist ein immenses Unterfangen und dauert noch heute an. Sie hat uns ein weiteres Fenster auf die Welt der Mykener geöffnet. Die Textzeugnisse ergänzten die Erkenntnisse der Ausgrabungen und fügten ihnen weitere Details hinzu. So konnten die Archäologen die Welt des bronzezeitlichen Griechenlands rekonstruieren – genau wie ihre Kollegen in Ägypten und im Nahen Osten es in jenen Ländern taten, als die altägyptischen, hethitischen und akkadischen Texte endlich übersetzt werden konnten. In einfacheren Worten: Mithilfe der Kombination aus archäologischen Funden und Texten kann die moderne Forschung die Geschichte des Altertums rekonstruieren.

Wir wissen jetzt, dass die mykenische Kultur im 17. Jahrhundert v. Chr. entstand, in etwa zur selben Zeit, als sich die Minoer auf Kreta von dem dramatischen Erdbeben erholten, das auf der Insel (nach der Terminologie der Archäologen) die erste Palastzeit beendete und die zweite Palastzeit einläutete. Wace und Blegen tauften die verschiedenen Epochen der mykenischen Zivilisation »späthelladisch« – dabei erstreckt sich Späthelladisch I und II auf das 17. bis 15. Jahrhundert v. Chr., und Späthelladisch III unterteilt sich in drei Abschnitte: III A (14. Jahrhundert v. Chr.), III B (13. Jahrhundert v. Chr.) und III C (12. Jahrhundert v. Chr.).65

Warum die mykenische Kultur sich so erfolgreich entwickelte, wird unter Archäologen immer noch diskutiert. Eine frühe Hypothese war, dass sie den Ägyptern dabei halfen, die Hyksos aus dem Land zu vertreiben, aber das glaubt man heute im Allgemeinen nicht mehr. Falls man nach den Objekten gehen kann, die in den Schachtgräbern von Mykene gefunden wurden, dann kamen einige der frühesten Einflüsse in Mykene von der Insel Kreta. Evans war noch der Überzeugung gewesen, die Minoer hätten das griechische Festland überfallen; Wace und Blegen waren der Ansicht, dass es genau andersherum war – heute wird dies in der Forschung allgemein akzeptiert. Wir wissen inzwischen, dass die Mykener Kreta eroberten und sich damit auch die internationalen Handelsrouten nach Ägypten und dem Nahen Osten sicherten. So wurden sie (relativ) plötzlich zu wichtigen Akteuren in der damaligen kosmopolitischen Welt. Diese Rolle versahen sie mehrere Jahrhunderte lang, bis zum Ende der Spätbronzezeit.

 

Die Ägypter bezeichneten die Mykener offenbar als Tanaja, die Hethiter nannten sie Achijawa und die Kanaaniter Hijawa (falls die Texte aus dem syrischen Ugarit hier aussagekräftig sind). Zumindest passen diese Bezeichnungen auf niemand anderen als die Mykener. Sollten damit nicht die Mykener gemeint sein, dann würden sie in den Texten der Ägypter und der anderen Großmächte der Spätbronzezeit im Nahen Osten gar nicht auftauchen. Bedenkt man, wie viele mykenische Vasen und Schiffe aus dem 14. bis 12. Jahrhundert v. Chr. in jenen Regionen gefunden wurden, wäre das doch reichlich seltsam.66

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