DER ELEGANTE MR. EVANS

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»Was wollen Sie?«, grollte es aus der Nachbarzelle.

»Ich bin Johnny Evans, Sir, besser bekannt als Educated Evans, der berühmte Turf-Ratgeber. Was ist morgen mit Ihrem Pferd, ‚Blue Chuck’?«

»Gehen Sie zum Teufel!«, donnerte die Stimme des Mitgefangenen.

»Ich kann da vielleicht etwas Gutes tun«, bohrte Evans weiter. »Ich habe einen...«

»Scheren Sie sich doch zum Teufel, Sie...«

In all seinem Ärger bedachte er Evans mit etlichen Beschimpfungen.

Der meditierte soeben über die seltsamen Wege des Schicksals, das den Sohn eines Millionärs in die Zelle Nr. 8 gebracht hatte, als das Schloss seiner eigenen plötzlich aufsprang.

»Du kannst gehen, Evans«, sagte der Müller leutselig. »Ich habe keine Mühe gescheut, dich hier heraus zu bekommen – wie ich es versprochen hatte. Wie heißt das Pferd im Ein-Uhr-Rennen?«

»’Clarok Lass’«, sagte Evans; und der Müller fluchte leise vor sich hin.

»Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich dich hier verhungern lassen«, sagte er. »Du sagtest, es sei nicht ‚Clarok Lass’- hier, los, der Inspektor hat einen Job für dich.«

Verwundert folgte Evans dem Detective zum Büro des Inspektors und dann wurde ihm in wenigen, aber höflichen Worten erklärt, wie sein kommender Job aussehen sollte.

»Ich gebe Ihnen fünf Shilling aus meiner eigenen Tasche, Evans«, sagte Inspektor Pine, »und fühle gleichzeitig, dass ich Ihnen vielleicht wieder zum Licht verhelfen kann.«

Educated Evans blickte mit geübten Augen über den Tisch. Vor Jahren hatte er 1000 Kunden in seinen Büchern; insofern war ihm die Aufgabe, Briefumschläge zu füllen, nicht unbekannt.

Der Müller war froh, dass er alsbald eine Ausrede fand, sich verabschieden zu können, und der Inspektor gab sich daran, seinen Helfer noch etwas genauer über seine Aufgabe mit dem Stempelapparat zu instruieren.

»Wenn die Matrize aufgebraucht ist, schreiben Sie eine weitere. Dann befestigen Sie sie auf dem Tintenkissen und machen weiter.«

Es war ein seltsames Gerät, wie Evans es noch nie benutzt hatte. Es bestand aus einem länglichen Matrizenwachspapier, in einem steifen Rahmen fixiert, und einem metallenen Tintengefäß. Der Inspektor zeigte ihm, wie die Matrize auf einem steifen Brett mittels eines spitzen Schreibstiftes beschriftet, dann befeuchtet und anschließend abgelöscht wurde; und Evans, wissbegierig wie immer, schaute ganz genau hin.

»Nun haben Sie Gelegenheit darüber nachzudenken, dass jeder dieser lieben Menschen ein Feind dieses bösartigen und schädlichen Pferdesports ist. Einmal in Ihrem Leben, Evans, tun Sie etwas Sinnvolles, diese Hydra-Bestie des Glücksspiels zu zerschmettern.«

»Und wo sind diese fünf Shilling, Sir?« fragte Evans und der Beamte entfernte sich. Er war gerade dabei, Evans seiner Aufgabe zu überlassen, als der wachhabende Sergeant eintrat.

»Hier sind Geld und Papiere dieses Betrunkenen, Sir«, sagte er und legte ein kleines Päckchen auf den Tisch. »Vielleicht legen Sie das besser alles in den Safe. Er hat nach seinem Anwalt geschickt, also wird er wohl bald gegen Kaution frei kommen. Aber er hat einen solchen Aufstand gemacht, dass man ihn angeblich beraubt hat, sodass es wohl besser sein könnte, man behielte das alles hier, bis er in nüchternem Zustand vor einen Richter gestellt wird.«

Mr. Pine nickte und öffnete den großen Safe in einer Ecke des Raumes, während der Sergeant ging. Zunächst legte Pine das Geld, die Uhr mit Kette und das goldene Zigarettenetui in eine Schublade. Dann nahm er ein kleines Notizbuch heraus und blätterte darin mit professioneller Geschicklichkeit.

»Noch ein Spieler«, bemerkte er traurig.

»Wer ist das, Sir?«

»Ein Mann – ein Gentleman, der unglücklicherweise heute Abend hier sein muss«, sagte der Inspektor und hielt für einen Moment inne. »Was bedeutet – ein Probelauf, Evans?«

»Ein Probelauf, Sir?«

»Es hat offensichtlich etwas mit Pferderennen zu tun«, sagte der Inspektor und las, wie für sich selbst: »’Blue Chuck’ 8 zu 7; ‚Golders Green’ 7 zu 7; ‚Milikin’ 7 zu 0. Gewann mit vier Längen in 1 min 39’. Das hat doch mit Pferderennen zu tun, Evans?«

Educated Evans nickte, wagte aber nicht, sich dazu zu äußern.

»Hier haben Sie Ihre fünf Shilling, Evans. Ich lasse Sie nun allein. Geben Sie dem Sergeant diese Briefe; er wird sie aufgeben. Gute Nacht.«

In dieser Nacht spähte der Sergeant hin und wieder durch die offene Tür des Inspektorbüros; augenscheinlich war Evans sehr beschäftigt. Um Mitternacht, gerade als der Anwalt des ehrenwerten George Canfyn eintraf, trug er die Früchte seiner Arbeit zum Schreibtisch des Sergeanten, und nach einer schnellen Überprüfung des Büros, ob irgendetwas fehle, konnte Evans sich entfernen.

Um zehn Uhr des folgenden Morgens, Inspektor Pine war gerade bei der Rasur, als sein Freund und Mitstreiter bei der Sozialarbeit, (Mr. Stott, der ehemalige Lebensmittelhändler), in großer Eile zu ihm kam, verwirrt und tief verärgert zugleich.

»Guten Morgen, Bruder Stott«, sagte der Inspektor. »Ich habe es letzte Nacht geschafft, alle Karten herauszugeben – wenigstens hoffe ich das.«

Mr. Stott atmete schwer.

»Ich habe meine Karte auch bekommen, Bruder Pine«, sagte er, »und ich würde gerne wissen, was sie bedeuten soll.«

Er warf ein Stück Karton in das schaumbedeckte Gesicht des Inspektors. Es gab nichts Außergewöhnliches auf der Karte zu entdecken. Sie enthielt eine Einladung zu einer Versammlung der »Bruderschaft zur Unterdrückung der Spielsucht«.

»Nun?«

»Schauen Sie sich die Rückseite an«, zischte Mr. Stott.

Der Inspektor wendete die Karte und las die schablonierte Inschrift:

Wenn jemand aus der Bruderschaft den Sieger des Newbury Hindernisrennens erfahren will, so schicke er 20 Shilling an den alten, aber absolut verlässlichen Educated Evans, 92 Bingham Mews. Das ist das größte Schnäppchen des Jahres! Niederlage ausgeschlossen! Auf, Brüder! Bedient Euch und überweist das Geld an E. Evans.

»Natürlich wird niemand auf diesen Unsinn eines bösen Mannes reagieren«, sagte der Inspektor, als er dem Müller Anweisungen erteilte. »Jedes Mitglied der Bruderschaft wird dieses Papier mit Verachtung strafen; trotzdem, Sie hätten besser auf Evans achten sollen.«

Als der Müller an Bingham Mews Nr. 92 ankam, (es war der obere Teil eines Stalles), traf er jenen melancholischen Mann an, wie er Telegramme öffnete, zwanzig pro Minute.

»Und da kommen noch mehr«, sagte Educated Evans. »Es gibt keine besseren Wetter als die von der Bruderschaft.«

»Wie heißt das Pferd?«, fragte der Müller atemlos.

»’Blue Chuck’, bedienen Sie sich«, antwortete Educated Evans. »Und vergessen Sie nicht – Sie schulden mir ein Pfund.«

Der Müller beeilte sich, Mr. Isaacheim zu sprechen, den bekannten und ehrbaren Turf-Buchmacher.

Kapitel 2: Mr. Homasters Tochter

Mr. Homasters Tochter war unzweifelhaft die Schönheit von Camden Town; und als sie sich vom öffentlichen Leben zurückzog, hatte in der Folge und ganz zweifellos Mr. Homasters Handel sehr darunter zu leiden.

Aber Mr. Homaster bemerkte schon richtig, dass besonders eine Saloonbar kein geeigneter Ort für eine junge Dame sei. Viele Kunden, die bislang mit einigen Schwierigkeiten die Saloon-Preise ausgehalten hatten, kehrten nun als Reaktion auf ihren Rückzug scharenweise zur öffentlichen Variante des »Rose and Hart« zurück, wo Bier das einzige Handelsobjekt ist. Dennoch trug Mr. Homaster ( bis zum Krieg hieß er eigentlich Hochmeister) seinen Verlust mit Gelassenheit und sein Ruf, sowohl als Vater wie als Gentleman, stand besser da als je zuvor.

Miss Belle Homaster war die schönste Frau, die Educated Evans je gesehen hatte. Sie war groß, mit goldenen Haaren und blauen Augen und einer tollen Figur. Quer über ihre schwarze, eng sitzende und wohlgefüllte Bluse zog sich das aus Diamanten geformte Wort »Baby«, wie ihr Vater und enge Verwandte sie stets zu nennen pflegten.

Evans pflegte jeden Abend in die Saloonbar zu gehen, das Glück ihres Lächelns zu genießen, das sie ihm mit einem Augenaufschlag ihrer sorgfältig gemalten Lider schenkte.

Niemals stellte sie unnötige Fragen. Ein Anheben dieser gebogenen Augenbrauen, ein gnädiges Nicken von Evans, das Leeren einer Flasche, das Sprudeln des Sodawassers, und Evans legte einen Halfcrown auf die Theke und nahm das Wechselgeld mit einem gezierten »Danke« entgegen.

Manchmal sagte sie so etwas wie »Es war heute ein recht schöner Tag für diese Jahreszeit«. Manchmal, wenn es kein so schöner Tag gewesen war, fragte sie mit sanfter Verzweiflung: »Was kann man schon erwarten?«

Es hieß allgemein, dass Evans ihr Lieblingskunde war. Ganz bestimmt genoss er unter allen Kunden ihr alleiniges Vertrauen. Nur Evans gegenüber bekannte sie ihre Schwäche für Spargel und nur er hörte von ihren eigenen Lippen, dass sie einmal als kleines Mädchen in demselben Bus gefahren sei wie Crippen.

Einer seiner Freunde hatte auf seine dringende Bitte hin in den glühendsten Farben von ihm gesprochen, ihr von seiner Bildung erzählt und seiner Fähigkeit, bei den verrücktesten Fragen noch Wetten zu gewinnen, ohne dabei ein Buch oder Lexikon zu befragen. Nach diesen Vorbereitungen seines befreundeten Angebers ergriff Evans die erste günstige Gelegenheit, Beispiele seiner tiefen Gelehrsamkeit und Bildung zu offerieren.

»Es ist seltsam, mein Fräulein, wie Sie und ich hier stehen, während die Welt sich in 24 Stunden um ihre eigene Achse dreht, wobei sie Tag und Nacht entstehen lässt. Nur wenige Menschen können sich, sozusagen, die Geheimnisse der Natur vergegenwärtigen, wie Mond und Sterne, die eine andere Welt sind als die unsere. Man sagt, es gebe Leben auf dem Mars wegen der Kanäle, die man über Teleskope beobachtet hat. Was uns zu der Frage bringt: Ist der Mars bewohnt?«

 

Sie hörte hingerissen zu.

»Die Entwicklung der Menschheit«, fuhr Evans freudig fort, »wurde von Darwin erfunden, was uns zu der Frage nach prähistorischen Zeiten bringt.«

»Was Sie nicht alles wissen!«, sagte die junge Dame. »Hätten Sie gerne etwas mehr Sodawasser? Das Wetter entspricht doch recht gut der Jahreszeit, finden Sie nicht?«

»Die Jahreszeiten werden hervorgerufen oder verursacht durch die Umdrehungen der Welt...« begann Evans.

Aber ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt durch einen ungebildeten Mann, der ein weiteres Getränk bestellte.

Jedermann kannte Mr. Homaster. Sogar der Müller. Wenn diese Leuchte der kriminalistischen Ermittlung ein Interview mit einem seiner zwielichtigen Bekanntschaften zu führen wünschte, konnte er sicher sein, denjenigen bei ihr zu finden, wie er einer Motte gleich um das Licht ihres Charmes und ihrer Schönheit herumschwänzelte.

Ungefähr gegen acht Uhr abends würde dann Sergeant William Arbuthnot Challoner die Schwingtüren der Saloonbar aufdrücken und einen gelangweilten Blick in die Runde werfen. Sodann nickte er einigen alten Freunden zu, die er entdeckte, zog grüßend den Hut vor Miss Homaster und ging wieder.

Ihre Verlobung verkündigte sie zwei Tage, bevor sie die Bar endgültig verließ. Es war ein unglücklicher Evans, dem sie die Nachricht unterbreitete.

»Ich werde einen richtig guten Freund heiraten, einen Gentleman«, sagte sie, worauf Evans sich an der Ecke der Theke festhalten musste. »Ich halte viel von frühem Heiraten und von Treue. Eine Ehefrau sollte ihrem Mann ein Freund sein und ihm immer helfen. Sie sollte sich auch für seine Geschäfte interessieren. Da stimmen Sie doch zu, Mr. Evans?«

»Ja, Miss«, erwiderte Evans mit einiger Anstrengung.

»In guten wie in schlechten Zeiten, in Krankheit und Jammer, Asche zu Asche.«

Der Müller erfuhr von der Verlobung durch Educated Evans.

»Ich glaube an die Kraft der Ehe«, sagte er. »Sie gibt dem Scheidungsrichter Arbeit.«

Ein harter, zynischer Mann, in dem die Quellen allen menschlichen Verständnisses versiegt waren.

Es gibt die Legende, dass vor einiger Zeit der Müller ein Vermögen in der Hand hatte oder in seiner unmittelbaren Reichweite. Der Müller hatte nie über diese Angelegenheit gesprochen, nicht einmal mit seinen engsten Freunden. Selbst Educated Evans, der seine Bekanntschaft zu ihm als etwas enger betrachtete, kam mit selten geübter Zurückhaltung niemals auf diese enorme, verpasste Gelegenheit zu sprechen.

Dennoch hatte es sie gegeben: Das Glück klopfte an seine Tür, mit einer Reihe von Häusern unter dem Arm, und der Müller, mit der Hand schon auf der Klinke, hatte gezögert.

Reihen von Häusern, ein Automobil, jeden Tag seines Lebens zum Pferderennen, wann ihm danach zumute war, und sein Ehrgeiz trieb ihn zu so einem hochfliegenden Ende – und Verlust, weil der Müller sich weigerte, dem Beweis zu vertrauen, den ihm seinen eigenen Ohren lieferten, oder der Maxime der Vorfahren zu glauben: in vino veritas.

Mr. Sandy Leman hatte sicherlich dem vino zugesprochen, als der Müller ihn schnappte: a) wegen Trunkenheit, b) wegen ruhestörenden Lärms, c) wegen Landfriedensbruch, d) beleidigendes Verhalten.

(»Er war«, um es in Educated Evans’ deutlicher Sprache zu formulieren, »so besoffen, dass er versuchte, auf einem fahrbaren Würstchenstand zu spielen in der Annahme, das sei ein Konzertflügel.«

Was die »veritas« betraf, so hatte der Müller berechtigte Annahme zu glauben, dass nur ein einziges Pferd einen ernsthaften Probelauf in der Clumberfield Zuchtstation gestartet hatte und das sollte »Curly Eyes« gewesen sein? Auf dem Weg dorthin tat Mr. Sandy Leman der ganzen Welt diese Tatsache kund und bestand darauf, den Bezirksveterinär aufzusuchen, um auch ihn darüber zu informieren. Dazu unternahm er geradezu mitleiderregende Versuche, die Telefonnummer von Mr. Lloyd George herauszufinden, nur um ausgerechnet dem die gute Nachricht zu übermitteln, über den er aber (in Augenblicken völliger Trunkenheit) bittere Tränen zu vergießen pflegte.

Dem Müller lag sozusagen der Markt zu Füßen und nach vielem Zögern setzte er fünf Shilling auf Platz und Sieg. Und das, nachdem er eine Nacht über die Entscheidung geschlafen hatte, ein Risiko einzugehen, um mit dem Einsatz von 50 gewinnen zu können. »Curly Eyes« gewann und brachte die Quote auf 100 zu 6. Der Müller las die Nachricht in der Zeitung, warf sie zur Erde und trampelte wütend darauf herum. Das ist die ganze Geschichte.

Langsam und gelassen schlenderte Educated Evans auf dem Bahnsteig der Paddington Station umher. Seine Kopfhaltung drückte einen gewissen Stolz aus, seine Lippen hielten eine ausgefranste Zigarre, seine Augen hielt er halb geschlossen, als sei ihm der Anblick so vieler gewöhnlicher Pferdenarren auf der Fahrt nach Newbury zu viel. Groß und schwer hing der Feldstecher über seiner Schulter, aus jeder Tasche seines Mantels lugte eine Rennzeitung hervor.

Educated Evans hielt vor der verschlossenen Tür eines Erste-Klasse Waggons an und betrachtete kühl und nüchtern den näher kommenden Schaffner.

»Mitglied«, sagte er nur.

»Mitglied des Parlaments oder der Rennställe?«, fragte der Schaffner sardonisch grinsend zurück.

»Presse«, sagte Evans mit noch mehr Ernst in der Stimme.

»Ich bin der Herausgeber der TIMES«.

Der Schaffner machte eine bestimmte Geste.

»Wo ist Ihr Ticket?«, fragte er und mit einem Seufzer präsentierte Evans das Dokument.

»Dritter Klasse – und von gestern«, bemerkte der Schaffner böse. »Zum Teufel noch mal, einige von euch Typen geben es wohl nie auf, was?«

»Ich werde mir Ihre Dienstnummer merken, mein Freund«, sagte Evans, zu einer Antwort gezwungen. »Der Railway Act von 1874 spezifiziert ganz genau, dass Tickets, die unter diesen Gesetzesbedingungen ausgegeben wurden, übertragbar und austauschbar...«

Der Schaffner ging einfach weiter. Evans sah, dass eine Tür in dem Durchgangswaggon offen stand und der Schaffner sich soeben abgewendet hatte. Er betrat das Abteil, setzte sich in einen Eckplatz und verhüllte seine Identität mit einer auseinander gefalteten Abendzeitung.

»Ich sage immer, Sir«, sagte er, als der Zug sich in Bewegung setzte und es kein Risiko mehr bedeutete, sich wieder der Allgemeinheit zu zeigen, »ein billiger Start ist ein guter Start. Nicht, dass ich nicht in der Lage wäre, mein Leben als Gentleman und Sportsmann zu bezahlen!«

Sein einziger Abteilgenosse versteckte sich ebenfalls hinter einer ausgebreiteten Zeitung.

»Es ist doch wohl klar«, so fuhr Mr. Evans fort, »dass ein Mann wie ich, der ich mich sozusagen des Vertrauens der meisten Rennställe in Wiltshire und Berkshire erfreue und meine eigenen Korrespondenten in Lambourn, Manton, Stockbridge und so weiter habe, so leuchtet es doch ein, dass ich Besitzer meiner eigenen Pferde – oha!«

Der Müller betrachtete ihn kühl über den Rand seiner Zeitung.

»Lass dich nicht stören, Evans«, sagte er höflich. »Ich höre dir sehr gerne zu, wenn du von deinen Pferden erzählst! ‚Tell-a-Tale’, Sohn von ‚Swan’ und ‚Gullibility’, dem Bruder von ‚Jailbird’ und Rennsieger; ‚Tipster’, Sohn von ‚Ananias’ und ‚Writer’s Cramp’, und so weiter und so weiter.«

»Wir wollen uns doch keine Unannehmlichkeiten bereiten, Mr. Miller«, sagte Evans mit säuselnder Stimme. »Ich bin von Natur aus ein umgänglicher und redseliger Mensch, wie der berühmte Cardinal Rishloo*, der, als er von Napoleon ins Gebet genommen wurde, geantwortet haben soll: ‚Es gibt so manche schöne Weise, die auf einer alten Violine gespielt wurde’.«

»Noch nicht genug«, fuhr der Müller fort, »dass du die Great Western Eisenbahngesellschaft betrügst, indem du erster Klasse reist, dazu mit einem abgelaufenen 3. Klasse-Ticket. Du strengst dich mit deinem schändlichen Charakter auch noch an, durch Vorspiegelung falscher Tatsachen Geld einzuheimsen.«

Der Müller schüttelte den Kopf und der Strohhalm zwischen seinen Zähnen zwirbelte bedrohlich.

»Was werden Sie im 2.30-Uhr-Rennen wetten?«, fragte Evans leichthin. »Ich habe da etwas, das könnte sich zum Schlafen hinlegen, dann aufstehen und so deutlich gewinnen, dass der Zielrichter eine neue Zielmarke malen müsste. Dieses Pferd kann man nicht schlagen, Mr. Miller. Wenn der Jockey herunterfiele, würde dieses Pferd anhalten, ihn auflesen und ihn im Maul als Sieger durchs Ziel tragen. Er ist so intelligent! Ich kriegte den Tipp von dem Jungen, der ihn betreut.«

»Wenn er ihn so betreut, wie du mich gerade wieder geschafft hast«, sagte der Müller, »müsste er vor Gold glänzen! Ich werde nichts anderes tun als auf deinen unschlagbaren Edelstein im Handicap setzen. Isaachheim wollte mir die erforderliche Summe nicht geben, also dachte ich, ich mache es etwas billiger. Nicht, dass das Pferd etwa gewinnt!«

Die Melancholie wich aus Educated Evans’ Gesicht und endete in einem verächtlichen Schnaufen.

»Es wird gewinnen«, sagte er ruhig und selbstbewusst. »Wenn dieses Pferd an einem Pfahl vergessen würde und dann in die falsche Richtung rennt, könnte es immer noch umdrehen und dann gewinnen! Ich weiß, wovon ich rede!

Ich kann Ihnen seine Stärke nicht beschreiben, ohne, wenn ich so sagen darf, ein großes Geheimnis zu verraten. Aber dieses Pferd wird gewinnen! Ich habe es dreitausend Kunden empfoh...«

»Das ist gelogen«, sagte der Müller, an seine eingehende Lektüre der »Sporting Life« erinnernd.

»Nun, dreihundert – aber nicht viel weniger!«

Mr. Evans fühlte das Knistern des Geldes in seiner Tasche und es kam ihm wie Musik vor, neben der Orpheus’ Laute wie eine gedämpfte Kirchenglocke an einem nebligen Morgen geklungen hätte. Er hatte gewiss hervorragende Informationen erhalten. Wenn ‚Blue Chuck’ kein absolut sicherer Tipp für das Newbury Handicap war, dann gab es so etwas wie todsichere Tipps einfach nicht. Hatte er doch persönlich die schriftlichen Eindrücke und Bemerkungen über den Trainingslauf in des Besitzers Notizbuch gelesen!

Den gesamten Vormittag war Evans, der in Camden Town durchaus ein gewisses Ansehen als Tippgeber genoss, damit beschäftigt gewesen, seinen Klienten die herrlichen und profitträchtigen Informationen zu schicken. Eine Stunde lang hatte er die freudige Nachricht zu seiner alterprobten Kundschaft getragen. Einige von ihnen waren so heftig davon angetan, dass sie ihn öffentlich beschimpften. Andere, denen er die Nachricht in hektischer Eile über die verzinkte Theke einer Kneipe zuflüsterte, tranken ihre Pint in Ruhe zu Ende und sagten dann: »Ist das wieder so eine von deinen So-und-so-Phantastereien?«

Educated Evans hatte noch Zeit gehabt, den Zug um 12.38 Uhr zu erreichen. Mr. Evans hätte sich ohne weiteres ein Erste-Klasse-Ticket leisten können. Aber er hielt an dem Glauben fest, dass es drei Stände gab und es die Aufgabe eines jeden Bürgers war, zum Besten zu gehören. Zuerst kam die Regierung; dann, in der gerecht verdienten Reihenfolge, kamen die Eisenbahngesellschaften; drittens und manchmal sogar an erster Stelle, erschien die Klasse der Buchmacher.

Er hatte sein Ticket von einem mittrinkenden Gast im »Rose and Hart« ergattert. Der wollte dafür einen unverschämten Preis haben; Evans handelte ihn auf acht Pence herunter.

»Mit ‚Blue Chuck’ kann man leichter Geld machen als Stempelgeld kriegen, so viel ich weiß«, sagte Evans. »Mr. Miller, Sie wissen doch, wie das läuft. Was würden Sie an meiner Stelle mit 1800 Pfund tun?«

»Äh?«, machte der Müller aufgeregt. »Du hast 1800 Pfund?«

»Nicht im Augenblick«, ruderte Evans bescheiden zurück. »Aber diesen Betrag habe ich in der Tasche, wenn ich zurückkomme. Ist eine Menge Geld, um es mit sich herumzuschleppen. Hauseigentum ist auch nicht mehr das, was es mal war«, fügte er hinzu, »ebenso wenig wie Kriegsanleihen, nach all dem, was dieser Kapital-Levy versucht, mit uns zu machen. Wer ist dieser Kerl namens Levy, Mr. Miller? Er ist Jude, gut; aber ich kann mich nicht an seinen Vornamen erinnern.«

Während der Zug durch Reading fuhr, gab Evans einen Teil seiner Philosophie zum Besten.

»Buchmacher werden fett durch die, wie ich es einmal nennen möchte, Unentschlossenheit der Rennbesucher«, sagte er. »Der Wetter, der seinem Turfratgeber blind und ohne Angst folgt, der wird immer richtig liegen. Aber tut er das denn auch, blind und ohne Furcht, Mr. Miller? Nein, er tut es nicht.«

 

»Und das ist sehr weise von ihm«, sagte der Müller, ohne von seiner Zeitung aufzuschauen, »wenn du nämlich der Ratgeber bist.«

»Das mag so sein oder auch nicht«, antwortete Evans bestimmt. »Ich erzähle Ihnen nur, was ich in vielen Jahren an Erfahrung gesammelt habe – immerhin geht meine Erinnerung zurück bis zu den Tagen des alten Croydon Rennplatzes. Man hört hier etwas, verwirft es wieder, man bekommt dies erzählt und jenes von neugierigen Wichtigtuern erzählt, was übrigens Sir Douglas Stuart – das ist er doch? Nun gut, er muss es sein – in die Lage versetzt, seine restlichen Tage an der Riviera zu verbringen.«

»Das ist das Schlimme mit dir, Evans«, sagte der Müller und faltete seine Zeitung zusammen, als der Zug vor Newbury abzubremsen begann, »du redest zu viel.«

»Das Schlimme mit mir ist«, sagte Educated Evans würdevoll, »dass ich zu viel denke!«

Auf dem Bahnsteig trennte er sich von dem Detektiv und machte sich auf den Weg zum Haupteingang des »Silver Ring« (Logenplatz für Aristokraten, wo mit höheren Summen gewettet wird;d.Ü.) als er plötzlich ruckartig stehen blieb. Eine Dame überquerte die Fahrbahn, strebte zum Kasseneingang und Evans’ Herz hüpfte für Freude. Er kannte diesen Fuchspelz, diesen teuren Velourshut, diese hochgeknöpften Stiefel. Für einen Augenblick kämpften in ihm der Liebhaber und der Sparfuchs – und der Liebhaber gewann. Educated Evans folgte ihr heißen Herzens, zuckte schmerzlich zusammen, als er ein Pfund zwei Shilling und sechs Pence Eintritt bezahlen musste und folgte der Dame zum Sattelplatz.

Als sie ihren Namen rufen hörte, drehte sie sich herum, und es kann von Miss Homaster einfach nur gesagt werden, dass sie sich Evans gegenüber zwar äußerst herzlich, dafür aber extrem herablassend verhielt.

»Na, so was, Mr. Evans, mit Ihnen hatte ich ja gar nicht gerechnet«, sagte sie. »Was haben wir doch für ein außergewöhnliches Wetter für die Jahreszeit!«

»Das ist wohl wahr, Miss Homaster«, erwiderte Evans. »Ist Ihr verehrter Herr Vater auch zugegen?«

»Nein, ich bin allein gekommen«, sagte Miss Homaster und warf keck ihren Kopf in den Nacken, »und ich bin gerade dabei, auf sämtliche Sieger zu setzen.«

Da war also die Chance gekommen, um die Evans insgeheim gebetet hatte, die günstige Gelegenheit, die er sich nie zu erträumen gewagt hatte. Er hatte sich ausgemalt, sie aus einem brennenden Haus zu retten, oder wie er ins schäumende Wasser des Ärmelkanals sprang und sie zurück ans sichere Ufer holte, wo er vielleicht in ihren Armen seinen letzten Atemzug tat; aber er hatte sich niemals vorgestellt, dass die gute Gelegenheit käme, ihr seine »guten Tipps« unterbreiten zu können.

»Miss Homaster«, flüsterte er mit heiserer Stimme, »ich werde Ihnen jetzt etwas Gutes tun. Ich habe den Sieger des Handicaps; es ist ‚Blue Chuck’. Er ist ein absolut sicherer Tipp. Er könnte stürzen, wieder aufstehen und das Rennen noch gewinnen.«

»Wirklich?« Er wirkte sehr überzeugt und so war sie ernsthaft interessiert.

Er verließ sie bald darauf und schlenderte zum Buchmacherring hinüber. Er war schon einmal bei Tattersall’s gewesen, aber das Erlebnis hatte ihn nicht sonderlich berührt. Ein Bekannter sah ihn und kam ausgelassen auf ihn zu.

»Hallo, Educated!«, sagte er.

»Ich habe eine gute Nachricht für dich, altes Haus; ich habe den Sieger des Handicaps in petto. ‚Bing Boy’!«

Er schaute sich vorsichtig um, ob man ihn etwa gehört hatte, und in seinem Eifer sah er die kalte Verachtung nicht, die sich in Evans’ Gesicht auszudrücken begann.

»Dieses Pferd«, sagte sein Bekannter, »ist so gut trainiert worden, dass es das Derby gewinnen kann, auch wenn es über Hürden ginge! Dieses Pferd könnte stürzen...«

»Und ich sage, das wird es auch tun«, sagte Evans so genervt, dass seine Höflichkeit stark zu leiden begann.

»Du wirst mich nicht dazu bringen, Geld zu verplempern und es auf ‚Bing Boy‘ zu wetten. Du wirst mich nicht in Wetten mit Buchmachern treiben, die im Dämmerschlaf dösen und alles vergessen haben, was zwei Minuten vorher passiert ist. ‚Bing Boy‘!«

Nichtsdestoweniger war ‚Bing Boy‘ der Favorit und das Pferd, auf das Evans wetten wollte, war um jeden Preis zu haben. Er ging in den Sattelplatz und sah den finster dreinblickenden Besitzer seines großartigen sicheren Tipps. Er sah nicht besonders glücklich aus. Vielleicht deshalb, weil er den größeren Teil der vergangenen Nacht in einer unbequemen Polizeizelle verbracht hatte.

Evans ging auf die Suche nach dem Mann, der ihm ‚Bing Boy’ als Tipp empfohlen hatte, um ein paar Informationen mehr zu bekommen.

Und man wettete auch noch auf ‚Smocker’. Er galt als starker zweiter Favorit und es war schwierig, 7 zu 2 für ihn zu bekommen. Ein Mann, den Evans kannte, nahm ihn beiseite an einen Ort, wo niemand aus der Menge sie hören konnte, und erzählte ihm alles über ‚Smocker’.

»Dieses Pferd«, sagte er eindringlich und bohrte zur Unterstreichung seiner Ernsthaftigkeit seine Fingerspitze in Evans’ Bauch, »kam um 21 Pfund besser aus dem Training als ‚Glasshouse’. Er gewann das Training sogar mit angezogenem Zügel, und wenn das wahr ist, was ich gehört habe – und mein Informant ist derjenige, der sich um das Pferd kümmert – könnte ‚Smocker’ stürzen...«

»Es wird in der Tat in diesem Rennen ein paar Stürze geben«, sagte Evans gequält.

Die ersten paar Rennen gingen vorüber und das große Wetten setzte erst beim Handicap ein und trotzdem verpasste Educated Evans seinen Auftrag. Er hatte an ungefähr 300 Kunden gekabelt ‚Blue Chuck‘. Bedient euch. Kann nicht verlieren.«

‚Blue Chuck‘ jedoch rutschte im Marktwert ab wie ein Klümpchen Butter auf einem warmen Teller: Zehnerwetten mit 100 zu 8 auf Sieg, 100 zu 7 auf Platz.

»Puh!«, machte Evans.

Die papiernen Abschnitte in seiner Tasche waren feucht vom ständigen Anfassen. Ein weiteres Mal versuchte er verzweifelt, unten am Sattelplatz jemanden zu finden, der ihm wenigstens ein bisschen Mut wegen ‚Blue Chuck’ zusprechen konnte. Wiederum sah er den Besitzer von ‚Blue Chuck‘, mit einem Gesicht so finster wie die Nacht.

Und dann sprach ihn jemand an und er drehte sich schnell um und nahm seinen Hut ab.

»Nun, ich habe überall nach Ihnen gesucht, Mr. Evans«, sagte Miss Homaster. »Ich habe so einen tollen Tipp für Sie. Ihr Pferd – ‚Blue Chuck’, so heißt er doch, nicht wahr? – findet nicht den geringsten Anklang. Der Besitzer erzählte einem meiner Freunde, dass er ihn nicht unter den ersten drei erwartet.«

Educated Evans sank der Mut, aber nicht aus Sorge um seine irregeleiteten Kunden.

»‘Smocker‘ wird gewinnen.« Sie senkte ihre Stimme. »Es ist ein todsicherer Tipp. Ich habe gerade fünf zu eins auf ihn gewettet.«

»Fünf zu eins?«, sagte Educated Evans mit wieder erwachendem Geschäftssinn. »Sie bekommen aber nicht mehr als vier zu eins.«

»Doch«, sagte das Mädchen triumphierend. »ich werde es Ihnen zeigen.«

Voller Stolz, dass man ihn in solch erfreulicher Gesellschaft gesehen hat, folgte Educated Evans ihr nach, durch die bei Pferderennen stets präsente Reportermeute, an den Absperrungen entlang, wo er endlich einen hochgewachsenen jungen Mann mit rotem Gesicht entdeckte – das war kein Geringerer als Barney Gibbet persönlich!

»Mr. Gibbet, das ist ein Freund von mir, der auf ‚Smocker’ setzen möchte. Geben Sie ihm fünf zu eins?«

Gibbet betrachtete Educated Evans mit sorgenvoller Miene.

»Fünf zu eins, Miss Homaster?«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Nein, das liegt über dem Marktpreis.«

»Aber Sie haben es mir versprochen«, meinte sie mit vorwurfsvoller Stimme.

»Nun gut. Wie viel wollen Sie denn setzen, Sir?«

Educated Evans öffnete den Mund für eine Antwort, aber er brachte kein Wort heraus. Aber dann schaffte er es.

»Dreihundert«, sagte er mit gebrochener Stimme.

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