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Nach dem Mittagessen war sie allein in ihrem Büro in der Vermisstenstelle, die sich im zweiten Stock des Dienstgebäudes in der Hansastraße befand. Daniel Braun war in einem seiner Vermisstenfälle unterwegs.
Anja hatte sich auf der Rückfahrt von der Studenten-WG ein Grill-Sandwich und eine kleine Flasche Cola besorgt. Anschließend war sie zu ihrer Wohnung gefahren, um Yin, den sechsjährigen schwarzen Kater, den sie seit einem halben Jahr besaß, zu füttern und ihm für eine Weile Gesellschaft zu leisten.
Nun hatte sie den Laptop des vermissten Studenten vor sich stehen und durchsuchte die Festplatte nach wichtigen Dokumenten.
Sie fand auf Anhieb ein paar Briefe, die der junge Mann an seinem Computer geschrieben hatte, doch die waren zum größten Teil schon älteren Datums und hatten nicht das Geringste mit seinem Verschwinden zu tun. Mangels Passwörtern und PINs konnte sie darüber hinaus weder auf seinen E-Mail-Account noch auf sein Online-Bankkonto zugreifen. Es frustrierte sie, dass sie nichts fand und offenkundig ihre Zeit verschwendete. Doch da sie niemand war, der schnell aufgab, blieb sie hartnäckig und suchte weiter.
Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie hatte momentan nicht die geringsten Anhaltspunkte, was geschehen war. Mithilfe von Stumpfs Bankdaten, die sie sich notiert hatte, würde sie seine letzten Kontobewegungen überprüfen können. Vielleicht hatte er unmittelbar vor oder nach seinem Verschwinden einen größeren Bargeldbetrag abgehoben. Das würde darauf schließen lassen, dass er freiwillig verschwunden war, um sich möglicherweise eine Auszeit zu gönnen, nachdem seine Freundin ihm vor wenigen Tagen so überraschend den Laufpass gegeben hatte. Falls es andererseits keine verdächtigen Geldabhebungen gab und auch nach seinem Verschwinden nicht mehr auf das Konto zugegriffen worden war, konnte das wiederum ein Indiz dafür sein, dass er sich womöglich aus Liebeskummer etwas angetan hatte.
Die einzig andere vielversprechende Spur, der Anja im Moment nachgehen konnte, war die Ex-Freundin Susanne Winkler. Anja wollte wissen, aus welchem Grund sie die Beziehung dermaßen abrupt beendet hatte. Außerdem interessierte es sie, ob die junge Frau unmittelbar vor oder nach Stumpfs Verschwinden Kontakt mit ihm gehabt hatte. Gegebenenfalls kannte sie auch das Passwort für Stumpf E-Mail-Account.
Doch zunächst wollte Anja sicherstellen, dass sie die Festplatte des Laptops gründlich durchsucht und dabei nichts übersehen hatte. Sie würde das Gerät anschließend zwar ohnehin an die IT-Spezialisten der Kripo weiterleiten, damit diese es auf Herz und Nieren überprüften; doch je früher sie etwaige Hinweise fand, desto eher konnte sie ihnen nachgehen. Und in einem Vermisstenfall wie diesem, in dem zu befürchten stand, dass die vermisste Person sich etwas antat, konnten schon ein paar Stunden über Leben und Tod entscheiden.
Die Kriminalbeamtin wollte bereits aufgeben und Susanne Winkler anrufen, um mit ihr ein Treffen zu vereinbaren. Doch da fand sie in einem Verzeichnis mit dem kryptischen Titel CdtG eine Datei, die den unmissverständlichen Namen Abschiedsbrief.docx trug. Sie stammte von dem Tag, an dem der Student verschwunden war.
Sofort war sie wie elektrifiziert. Sie klickte die Datei hastig an, um sich ihren Inhalt anzusehen. Obwohl das Programm und das Dokument zügig geöffnet wurden, kam es ihr wie eine kleine Ewigkeit vor. Doch dann war es endlich soweit.
Anjas Lippen bewegten sich unwillkürlich, als sie die Sätze las, die vermutlich das Letzte waren, was Christian Stumpf auf diesem Computer geschrieben hatte.
An all diejenigen, die das hier lesen und die es überhaupt interessiert.
ICH BIN TOT!
Vielleicht wurde meine Leiche ja schon gefunden. Wenn nicht, dann wird das womöglich bald der Fall sein. Aber das ist ohnehin egal, denn mein lebloser Körper ist nicht mehr wichtig.
NICHTS AUF DIESER WELT IST NOCH WICHTIG!
WARUM?, fragt ihr, die ihr das lest, euch vielleicht.
Nun, ich werde es euch sagen: Susanne, die LIEBE MEINES LEBENS, hat mich verlassen. Und ohne sie kann ich nicht weiterleben. Ich habe es in den letzten Tagen versucht. Doch dabei habe ich feststellen müssen, dass es einfach nicht geht.
DESHALB HABE ICH BESCHLOSSEN, MEINEM LEBEN EIN ENDE SETZEN!
Allein hätte ich diesen Schritt vermutlich nie gewagt. Es ist viel schwerer, als man zunächst denkt. Doch dann stieß ich zufällig auf den CLUB DER TOTEN GESICHTER. Dank der SUICIDE-CHALLENGE des Clubs wurde ich innerhalb von 23 Stunden durch 23 Aufgaben auf die finale Herausforderung vorbereitet, nämlich auf meinen eigenen selbst herbeigeführten Tod.
JETZT BIN ICH ENDLICH BEREIT UND WERDE ES TATSÄCHLICH TUN.
Die 23. und vorletzte Aufgabe bestand darin, diesen Abschiedsbrief zu verfassen. Nachdem ich ihn zum Beweis an NEMESIS, meinen TODESENGEL und dunklen Begleiter, geschickt habe, der mich bis zum Ende und schließlich ins Licht geleitet, wird er mir mitteilen, wo und wie ich mich umbringen soll.
Ich bedanke mich hiermit bei NEMESIS und auch beim Administrator des CLUBS DER TOTEN GESICHTER. Ohne euch hätte ich es nie geschafft!
Lebt wohl und seid nicht traurig über meinen Tod, denn es war meine eigene freiwillige Entscheidung.
Euer CHRISTIAN
Anja ließ sich in ihrem Stuhl zurücksinken und dachte über das soeben Gelesene nach.
Es sah wahrhaftig so aus, als hätte Stumpf vorgehabt, sich aufgrund seines Liebeskummers das Leben zu nehmen. Fragte sich nur, ob er es bereits getan hatte und letzten Endes auch erfolgreich gewesen war. Denn offensichtlich wollte er längst tot sein, wenn dieser Brief gefunden wurde.
Doch was hatte es mit dem Club der toten Gesichter, der ominösen Suicide-Challenge und dem erwähnten Todesengel und dunklen Begleiter namens Nemesis auf sich?
Anja erinnerte sich, vor einigen Monaten einen Artikel über ein sogenanntes Selbstmordspiel aus Russland gelesen zu haben, das sich Blue Whale nannte. Durch dieses vorgebliche Social-Media-Spiel wurden Jugendliche, die an Depressionen litten, zum Suizid verleitet. Allein in Russland sollte das Selbstmordspiel nach offiziellen Angaben mehr als 90 Jugendliche das Leben gekostet haben. Weitere Fälle waren zunächst aus Kirgisien und Kasachstan, später aus Polen und den baltischen Staaten und schließlich auch aus Ungarn, Bulgarien und Frankreich bekannt geworden. Dann war es den Behörden gelungen, den Administrator der Seite zu verhaften.
Das Selbstmordspiel Blue Whale funktionierte folgendermaßen: Sobald die Jugendlichen sich angemeldet hatten, stellte ihnen ein selbsternannter Vormund fünfzig Aufgaben; jeden Tag eine neue. Die Teilnehmer wurden beispielsweise aufgefordert, um 4:20 Uhr aufzustehen und aufs Dach des Hauses zu steigen. Oder sie sollten sich einen Tag lang Horrorfilme ansehen oder etwas in den Arm ritzen. Die Jugendlichen mussten die Erfüllung jeder Aufgabe durch Fotos oder Videos an ihren Vormund nachweisen. Erst dann ging es ins nächste Level des Spiels. Die Herausforderungen wurden mit jeder Stufe härter, um sie auf das Ziel, den Selbstmord nach fünfzig Tagen, vorzubereiten. Gewinner des Spiels war, wer alle Aufgaben absolvierte und sich schließlich das Leben nahm.
Aus dem, was Stumpf in seinem Abschiedsbrief geschrieben hatte, ging Anja davon aus, dass es sich bei dem obskuren Club der toten Gesichter um etwas ganz Ähnliches handeln musste. Doch anstelle eines Vormunds gab es hier einen Todesengel namens Nemesis. Und die Suicide-Challenge dauerte auch nicht fünfzig Tage, sondern nur 24 Stunden. Allerdings schien es auch das Ziel dieses Clubs oder Spiels zu sein, dass der Spieler sich am Ende das Leben nahm.
Da Anja es in ihrem Aufgabenbereich immer wieder mit selbstmordgefährdeten Menschen zu tun hatte – nicht nur junge Leute, sondern auch Erwachsene –, wusste sie, dass die allermeisten suizidalen Jugendlichen nicht wirklich sterben wollten. Allerdings konnten sie durch sogenannte Selbstmordspiele manipuliert werden. Zunächst wurden sie willkommen geheißen und umgarnt. Düstere Texte, traurige Musik und furchtbare Bilder vermittelten ihnen die Botschaft, dass es sich nicht lohnte, am Leben zu bleiben. Und wer das Spiel dennoch vorzeitig beenden wollte, erhielt Drohnachrichten und wurde nach und nach in Angst und Panik versetzt.
Anja öffnete an ihrem Dienstcomputer den Browser und gab Club der toten Gesichter in die Suchmaschine ein. Sie erhielt jedoch keinen direkten Treffer und runzelte daher irritiert die Stirn. Wenn es diesen Selbstmordclub tatsächlich gab, dann musste er auch zu finden sein, denn wie sollte er sonst Mitglieder bekommen. Andererseits wollten die Betreiber oder Hintermänner möglicherweise gar nicht so leicht gefunden werden, weil sie nicht ins Blickfeld der Öffentlichkeit oder ins Visier der Ermittlungsbehörden geraten wollten. In dem Fall wurde die Adresse womöglich nur unter der Hand weitergegeben, sodass nur vertrauenswürdige Personen und potentielle Mitglieder sie in die Finger bekamen.
Die Kriminalbeamtin öffnete daher am Laptop den Browser, den der vermisste Student bevorzugt hatte, und sah in der Chronik nach. Sie hoffte, dass Stumpf sie nicht gelöscht hatte. Und ausnahmsweise hatte sie sogar Glück. In der Chronik war eine Reihe von Webseiten aufgeführt, die Stumpf vor seinem Verschwinden besucht hatte. Die meisten waren uninteressant und brachten Anja nicht weiter. Doch dann entdeckte sie am unteren Ende der Liste einen Eintrag, der genau wie das Verzeichnis, in dem sie den Abschiedsbrief gefunden hatte, CdtG hieß. Wie sie inzwischen wusste, war das die Abkürzung für Club der toten Gesichter. Offenbar legten die Betreiber des Clubs viel Wert auf Diskretion und wollten keine unnötige Aufmerksamkeit bei den falschen Leuten erregen. Kein Wunder, schließlich wollten sie depressive Menschen mit einer Suicide-Challenge zum Selbstmord anspornen und anleiten.
Anja gab die Adresse der Webseite in den Browser ihres Dienstcomputers ein.
Bingo!, dachte sie, als sie im oberen Teil der Seite in bluttriefender Schrift die Worte Club der toten Gesichter las. Der Internetauftritt war düster aufgemacht und hauptsächlich in den Farben Schwarz, Dunkelgrau und Rot gehalten. Auf beiden Seiten der Überschrift flackerten animierte Kerzen. Darunter war ein Sarg abgebildet, den ein Kreuz schmückte.
Subtil sieht anders aus!
Alles – die Farben, die Bilder und die Animationen – war übertrieben, kitschig und geschmacklos. Anja hatte zwar keine Lautsprecher, konnte sich aber vorstellen, dass darüber hinaus im Hintergrund schwermütige Musik gespielt wurde. Oder Lieder, die vom Selbstmord handelten oder diesen glorifizierten. Wenn dieser ominöse Club der toten Gesichter nicht ausgerechnet im Abschiedsbrief eines Mannes Erwähnung gefunden hätte, der seit vorgestern vermisst wurde, und damit bitterernst zu nehmen war, dann hätte Anja darüber lachen können. Doch unter den gegebenen Umständen war ihr nicht danach.
Anja scrollte die Seite nach unten und entdeckte unterhalb des Sarges mit dem Kreuz einen Begrüßungstext:
Willkommen, Suchender, auf der Internetseite des »Clubs der toten Gesichter«.
Bist du des Lebens überdrüssig? Siehst du keinen Sinn mehr in deinem trostlosen irdischen Dasein? Bist du auf der Suche nach Hilfestellung für deinen selbstbestimmten Freitod?
Wenn du auch nur eine einzige dieser Fragen mit Ja beantwortet hast, dann bist du hier bei uns goldrichtig. Mit unserer »Suicide-Challenge« bereiten wir dich Schritt für Schritt geradezu spielerisch auf den Selbstmord vor. In 23 Stufen innerhalb von ebenso vielen Stunden erhältst du von unseren Todesengeln das nötige Rüstzeug, um anschließend erfolgreich dein todtrauriges Leben zu beenden.
Alles, was du dafür tun musst, besteht darin, dich anzumelden. Mehr ist nicht nötig! Zögere also nicht länger, denn je früher du aktiv wirst und an unserer »Suicide-Challenge« teilnimmst, desto eher wirst du diese erbärmliche Existenz aus Schmerzen und Leid hinter dir lassen können und ins Licht aufsteigen.
Umgehend nach deiner Anmeldung wird sich einer unserer erfahrenen Todesengel mit dir in Verbindung setzen, um dich unter seine Fittiche zu nehmen. Er wird dir dann auch die Spielregeln der »Suicide-Challenge« erläutern.
Bist du dir noch nicht sicher, ob du wirklich unserem Selbstmordclub beitreten willst?
Dann sieh doch einfach mal in unserer »Suicidal Hall of Fame« nach. Dort findest du die Bilder sämtlicher Mitglieder, die die Challenge bislang erfolgreich absolviert haben.
Melde dich sofort an – schon nach 24 Stunden kannst auch du Teil unserer »Suicidal Hall of Fame« sein und damit gewissermaßen unsterblich werden.
Anja schüttelte den Kopf über diesen Blödsinn. Aber anscheinend gab es tatsächlich Leute, die darauf hereinfielen. Unter Umständen würde sie anders darüber denken, wenn sie depressiv wäre oder im Moment in einem Stimmungstief stecken würde.
Sie suchte nach einem Impressum, fand jedoch keins. Damit hatte sie auch nicht unbedingt gerechnet, und alles andere hätte sie auch verwundert.
Außer der Hauptseite gab es nur noch zwei weitere Seiten. Eine beinhaltete ein Formular für die Anmeldung, die andere war die erwähnte Ruhmeshalle. Anja entschied sich zunächst für die zweite Alternative.
Die »Suicidal Hall of Fame« bestand aus einem guten Dutzend Fotos. Die eine Hälfte der Aufnahmen war schwarzweiß und stammte aus Zeitungen; die übrigen waren Farbfotos. Unter keinem der Bilder, die keine bestimmte Reihenfolge oder Ordnung aufwiesen, sondern kreuz und quer auf der Seite verteilt waren, stand ein Name.
Anja entdeckte rechts oben sofort ein Bild von Christian Stumpf. Es zeigte ihn von der Seite; er schien in ein Gespräch mit einer anderen Person verwickelt zu sein, die man aber nicht sehen konnte.
Sie seufzte tief. Wenn man der Webseite und Stumpfs Abschiedsbrief glauben konnte, die sich auf makabre Weise ergänzten, hatte der Student die Suicide-Challenge mittlerweile erfolgreich absolviert. Das bedeutete, dass er längst tot war. Anjas Bemühungen, ihn lebend zu finden, waren daher aller Voraussicht nach von vornherein zum Scheitern verurteilt. Doch solange seine Leiche nicht gefunden worden war, wollte Anja nicht einfach aufgeben und die Hände in den Schoß legen. Stattdessen würde sie ihren Job erledigen und nach ihm suchen.
Die Kriminalbeamtin sah sich die anderen Fotos der Reihe nach an. Beim vorletzten stutzte sie, denn die Person, die auf dem Zeitungsfoto zu sehen war, war ebenfalls eine ihrer Vermissten.
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Martina Schreiber war vor fünfzehn Tagen zum letzten Mal gesehen worden. Die 54-Jährige hatte nie geheiratet und war kinderlos geblieben. Sie war Schauspielerin und bewohnte eine kleine Wohnung in München-Schwabing. Ihr Bruder Reinhard meldete sie als vermisst, nachdem sie nicht zu einem vereinbarten Termin gekommen und auch telefonisch nicht zu erreichen gewesen war.
Reinhard Schreiber besaß zwar für derartige Notfälle einen Schlüssel zur Wohnung seiner Schwester, traute sich aber nicht, allein dorthin zu gehen. Er hatte panische Angst, er könnte ihre Leiche finden. Denn Martina Schreiber litt seit vielen Jahren unter Depressionen. Sie hatte in der Vergangenheit mehrmals geäußert, sie würde sich eines Tages das Leben nehmen. Vor anderthalb Jahren hatte sie es sogar versucht, indem sie eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt hatte. Da sie ihrem Bruder unmittelbar davor eine E-Mail geschickt hatte, in dem sie ihren Suizid angekündigt hatte, konnte sie gerettet werden. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus verbrachte sie auf eigenen Wunsch sechs Wochen in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Anschließend besuchte sie bis zu ihrem Verschwinden regelmäßig einen ambulanten Therapeuten.
Sowohl der Bruder als auch der Therapeut hatten bis vor fünfzehn Tagen gedacht, Martina Schreiber wäre nicht mehr akut selbstmordgefährdet. Ihr spurloses Verschwinden hatte sie dann eines Besseren belehrt. Allerdings hatte die Frau dieses Mal keine E-Mail mit der Ankündigung ihres Suizids an ihren Bruder geschickt. Und es war auch kein Abschiedsbrief gefunden worden.
Anja hatte sämtliche ihr zur Verfügung stehenden Fahndungsmaßnahmen eingeleitet, war bei ihren Ermittlungen jedoch auf der Stelle getreten. Martina Schreiber gehörte zu den Vermissten, die im wahrsten Sinne des Wortes spurlos verschwanden. Da es weder Spuren noch Hinweise gab, denen die Kriminalbeamtin aktiv nachgehen konnte, hatte sie die Akte nach kurzer Zeit auf den Stapel mit den unerledigten Fällen legen müssen. Seitdem wartete sie darauf, dass sich in dem Fall etwas Neues ergab. Insgeheim war sie allerdings stets davon ausgegangen, dass sie erst dann wieder von der Frau hören würde, wenn man ihren Leichnam fand.
Doch nun war es doch anders gekommen. Statt ihrer Leiche tauchte ihr Bild in der sogenannten Ruhmeshalle eines Selbstmordclubs auf, über den Anja in einem anderen Vermisstenfall gestolpert war.
Nachdem Anja den ersten Schock halbwegs verdaut hatte, sah sie sich die übrigen Fotos noch einmal genauer an. Sie entdeckte jedoch kein weiteres Gesicht, das ihr vertraut vorkam.
Anschließend kehrte sie zur Eingangsseite zurück und überlegte, was sie jetzt tun sollte.
Ich sollte mich selbst in diesem Club anmelden. Mal sehen, was dann passiert.
Sie klickte den ersten Menüpunkt an und gelangte zum Anmeldeformular. Darin wurde neben ihrem vollständigen Namen und dem Geburtsdatum eine Reihe weiterer Angaben verlangt. Anja hatte allerdings nicht vor, ihre wahre Identität preiszugeben. Sie wollte sich stattdessen als fünfzehnjähriges Mädchen ausgeben. Also dachte sie sich kurzerhand einen falschen Namen aus und trug ihn in die dafür vorgesehenen Felder ein. Als Adresse gab sie ein Hochhaus in Moosach an, in dem eine ehemalige Schulfreundin gewohnt hatte. In dem Haus gab es so viele Parteien und ständige Mieterwechsel, dass die Initiatoren des Clubs der toten Gesichter schon persönlich hingehen und alle Briefkästen überprüfen mussten, um den Schwindel zu durchschauen. Bevor sie ihre E-Mail-Adresse eingab, richtete sie bei einem kostenlosen Anbieter einen neuen Account ein. Die Angabe der Telefonnummer war freiwillig. Darüber war Anja froh, denn sonst hätte sie ihre echte Handynummer verwenden müssen, was sie nicht wollte. Am Ende überprüfte sie alles noch einmal gründlich und schickte die Anmeldung dann ab.
Die Wartezeit verkürzte sie sich, indem sie ihre anwesenden Kollegen anrief und bat, sich die Bilder in der Suicidal Hall of Fame anzusehen. Dazu diktierte sie ihnen die Adresse der Seite. Während diese damit beschäftigt waren, sah sie die Aktenstapel auf dem Schreibtisch ihres Bürokollegen durch. Denn da Braun nicht da war, konnte sie ihn nicht fragen, ob ihm eines der Fotos bekannt vorkam. Sie fand jedoch in seinen offenen Fällen keine vermisste Person, die Ähnlichkeit mit einem der Fotos auf der Internetseite hatte.
Dann rief einer ihrer Kollegen zurück.
»Ich habe einen Treffer erzielt«, sagte Josef Fuchsner.
Anja rief erneut die Seite mit der vermeintlichen Ruhmeshalle auf. »Welches Foto ist es denn?«
»Das Zeitungsfoto unten in der Mitte.«
Anja sah es sich an. Es zeigte einen leicht übergewichtigen Mann mit Halbglatze. Anhand des körnigen Zeitungsfotos konnte sie nur schwer einschätzen, wie alt er war; sein Alter konnte durchaus zwischen vierzig und sechzig Jahren liegen.
»Wie heißt er«, fragte Anja, während sie ihr Notizbuch öffnete und den Kugelschreiber in die Hand nahm.
»Sein Name ist Stefan Greinwald. Fünfundfünfzig Jahre alt. Fernfahrer. Geschieden. Eine erwachsene Tochter, zu der er in den letzten Jahren allerdings kaum noch Kontakt hatte.«
Anja notierte sich alles. »Wann ist er verschwunden?«
»Vor zweieinhalb Wochen. Sein Arbeitgeber meldete ihn als vermisst, nachdem er nicht zur Arbeit gekommen war und man zwei Tage lang vergeblich versucht hatte, ihn zu erreichen.«
»Und?«, fragte Anja erwartungsvoll. »Was glaubst du, was mit ihm geschehen ist?«
»Ich ging von Anfang an davon aus, dass er sich möglicherweise etwas angetan hat. Und sein Foto in dieser sogenannten Suicidal Hall of Fame bestätigt mich nur in meiner Vermutung.«
»Gibt es weitere Anhaltspunkte für eine Suizidversion?« Anja dachte dabei vor allem an einen Abschiedsbrief. Manchmal legten Personen, die sich umbringen wollten, aber auch ihre Testamente oder andere wichtige Unterlagen bereit, damit die Angehörigen nicht danach suchen mussten.
»Der Mann war schwerkrank. Nachdem er vier Jahrzehnte lang jeden Tag ein bis zwei Schachteln Zigaretten geraucht hatte, bekam er vor einem halben Jahr bei einem Arztbesuch die Quittung, als bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert wurde.«
Anja dachte nach. Bislang waren drei der Personen in der Suicidal Hall of Fame des Clubs der toten Gesichter identifiziert worden. Alle wurden vermisst. Und bei allen stand aus unterschiedlichen Gründen der begründete Verdacht im Raum, sie könnten sich etwas angetan haben.
Fuchsner versprach, ihr demnächst die Akte vorbeizubringen, damit sie sich selbst ein Bild des Vermisstenfalls machen konnte. Dann verabschiedeten sie sich voneinander.
Kaum hatte Anja den Hörer aus der Hand gelegt, bekam sie den nächsten Anruf. Dieses Mal von einer Kollegin namens Sarah Neuner, die nur drei Jahre älter als sie war.
»Du glaubst es nicht, aber ich habe einen der Vermissten wiedererkannt«, sagte sie, als könnte sie es selbst noch nicht fassen. »Es handelt sich um das Zeitungsfoto ein Stück links vom Zentrum der Seite.«
Anja sah sich das Bild an. Es zeigte einen etwa vierzigjährigen Mann mit lockigen dunklen Haaren und einem Vollbart. »Name?«
»Erhard Bader, neununddreißig Jahre alt. Er ist Musiker, hat aber seit Jahren keine feste Anstellung und hält sich deshalb mit Gelegenheitsjobs und Straßenmusik über Wasser. Seine Mutter meldete ihn vor zehn Tagen als vermisst. Sie hatte ihn zum Essen zu sich nach Hause eingeladen, was sie regelmäßig tut. Als er nicht kam, rief sie bei ihm an, doch er ging nicht an den Apparat. Sie fuhr anschließend zu seiner Wohnung, für die sie einen Schlüssel hat. Doch er war nicht da. Als er auch am nächsten Tag noch immer unauffindbar blieb, wandte sie sich an die Polizei.«
»Hattest du schon eine Vermutung, was ihm widerfahren sein könnte?«, fragte Anja, hatte aber bereits eine Ahnung, was sie zu hören bekommen würde.
»Ehrlich gesagt, tippte ich von Beginn an auf Suizid. Deshalb hat es mich auch nicht wirklich überrascht, sein Foto auf der Seite dieses komischen Selbstmordvereins zu finden. Nach Angaben seiner Mutter war er schon seit Jahren seines Lebens überdrüssig, wie sie es ausdrückte. Die große Musikerkarriere war ihm verwehrt geblieben. Außerdem gelang es ihm immer seltener, als Musiker genug Geld für seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er war auf ihre Unterstützung angewiesen, verachtete sich aber gleichzeitig dafür. Andererseits war er aber auch zu stolz, öffentliche Mittel in Anspruch zu nehmen. Im Grunde rechnete die Mutter ständig damit, dass er sich irgendwann einmal umbringt, weshalb sie sein Verschwinden auch nicht überrascht hat. Wenn man jahrelang fest mit einem Ereignis rechnet, dann ist es vermutlich sogar eine Erleichterung, wenn es schließlich eintritt, auch wenn es im Grunde furchtbar ist.«
Während Anja noch mit Sarah Neuner sprach, klopfte es an der Tür. Lukas Brandstetter, ein zehn Jahre älterer Kollege, der im Nebenzimmer arbeitete, kam herein. Er hatte eine Vermisstenakte bei sich, sodass Anja sofort wusste, aus welchem Grund er gekommen war.
»Ich muss Schluss machen«, sagte Anja. Sie bedeutete Brandstetter, Platz zu nehmen. »Ich komme nachher vorbei und hol mir die Akte, Sarah. Danke für den Anruf.«
Sie legte auf und sah Brandstetter, einen etwas korpulenten Mann mit kurzen vorzeitig ergrauten Haaren und einem Schnauzbart, erwartungsvoll an. »Lass mich raten. Du hast eine der Personen in der Ruhmeshalle des Selbstmordclubs erkannt.«
Er nickte lächelnd. »Da bin ich wohl offenbar nicht der Einzige.« Mit hochgezogenen Augenbrauen deutete er auf das Telefon.
»Ja.« Anja erzählte ihm von den anderen Fällen und zeigte ihm auf dem Monitor die entsprechenden Zeitungsfotos. »Und was hast du für mich?«
Er legte die Akte vor ihr auf den Schreibtisch, sodass sie den Namen darauf lesen konnte, und sagte: »Markus Lehner, 57 Jahre alt, war bis zu seiner Frühpensionierung Finanzbeamter. Vor drei Jahren ist er an Knochenkrebs erkrankt. Keine Aussicht auf Heilung. Seine Lebenserwartung beträgt nach Aussage seines Arztes voraussichtlich nur noch wenige Monate. Die Wohnungsnachbarin erzählte mir, dass er in letzter Zeit oft von Selbstmord gesprochen habe. Im Nachhinein meinte sie, dass es in letzter Zeit durchaus so klang, als habe er sogar schon konkrete Pläne gehabt. Sie hat aber nicht ernsthaft damit gerechnet, dass er auch den Mumm hätte, es zu tun. Nachdem sie ihn ein paar Tage lang nicht gesehen hatte, begann sie sich Sorgen um ihn zu machen und rief die Polizei. In der Wohnung fand man jedoch keine Spur von ihm. Da er als suizidgefährdet gilt, wurde Vermisstenanzeige erstattet, und der Fall landete bei uns.«
Während Brandstetter sie über die wichtigsten Details in Kenntnis gesetzt hatte, hatte Anja die Akte aufgeschlagen und sich die Fotos des vermissten Mannes angesehen. Dann hatte sie in der Ruhmeshalle des Selbstmordclubs nach seinem Konterfei gesucht und es auch rasch gefunden. Es handelte sich ebenfalls um das körnige Schwarzweißfoto aus einer Tageszeitung, das vermutlich zu einer öffentlichen Fahndung nach dem Vermissten gehört hatte.
»Seit wann ist er verschwunden?«
»Er wurde vor acht Tagen zum letzten Mal gesehen.«
»Angehörige?«
»Einen Bruder, der in Norddeutschland lebt. Die beiden hatten in den letzten Jahren aber keinen Kontakt mehr. Seine Frau ist vor fünf Jahren gestorben, und der einzige Sohn kam vor fast dreißig Jahren bei einem Badeunfall ums Leben.«
»Tragisch!«
Brandstetter nickte. »Wie bist du überhaupt auf diesen ominösen Selbstmordclub gestoßen?«
Sie erzählte es ihm.
»Du solltest zum Chef gehen«, sagte Brandstetter anschließend. Der Chef war Polizeirat Alexander Zumbruch, der Leiter der Vermisstenstelle und damit ihr unmittelbarer Dienstvorgesetzter. »Da die Fotos der Vermissten auf dieser Seite auftauchen und diese Leute eindeutig alle suizidgefährdet waren, besteht meiner Meinung nach ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Fällen. Da ist es vermutlich vorteilhafter, wenn die Bearbeitung all dieser Fälle in einer Hand liegt.«
»Und wenn du von einer Hand redest, meinst du vermutlich meine Hand.« Anja winkte ab. »Ich habe mit meinen eigenen Fällen schon mehr als genug zu tun.«
»Wer hat das nicht?« Brandstetter grinste. »Und ehrlich gesagt hätte ich nichts dagegen, einen offenen Vermisstenfall auf diese Weise elegant loszuwerden. Aber darum geht es mir gar nicht.«
Anja nickte. »Du hast ja recht. Ich werde gleich zum Chef gehen und ihn bitten, die drei anderen Fälle an mich zu übertragen. Sobald ich das erledigt habe, hole ich mir die übrigen Akten von den Kollegen.«
»Dann viel Glück bei den Ermittlungen.« Brandstetter stand auf. »Ich hoffe, du bekommst den Kerl zu fassen, der hinter dieser Seite steckt. Sag Bescheid, wenn du dabei Hilfe benötigst.«
Sobald der Kollege ihr Büro verlassen hatte, machte sich Anja auf den Weg zu Polizeirat Zumbruch. Sie schilderte ihm mit knappen Worten die Vermisstenfälle. Anschließend zeigte sie ihm die Webseite des Clubs der toten Gesichter. Er stimmte mit ihr darin überein, dass es aufgrund der Fotos in der vermeintlichen Ruhmeshalle einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Fällen gab. Aus diesem Grund übertrug er ihr die Verantwortung für die Ermittlungen. Sollte sie Hilfe benötigen, versprach er ihr Unterstützung durch einen der Kollegen.
Auf dem Weg zurück in ihr Büro holte sie die beiden restlichen Vermisstenakten bei Sarah Neuner und Josef Fuchsner ab.
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