Spieltraditionen, Personalstile und Signature-Licks der Rock and Roll-Gitarre

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Die Songauswahl bzw. das Songwriting soll hier als letztes wesentliches stilbildendes Element betrachtet werden. Eine Besonderheit des Rock and Roll ist, dass im Gegensatz zur damals gängigen Praxis der populären Unterhaltungsmusik die Protagonisten ihr Songmaterial aus ungewöhnlichen Quellen bezogen oder komplett selbst verfassten. Während Bill Haley, Elvis Presley oder Jerry Lee Lewis vorzugsweise bereits existierende Rhythm and Blues oder Country and Western-Songs übernahmen und diese in ihrer Interpretation in ein neues Genre überführten, so verfassten Künstler wie Chuck Berry, Carl Perkins, Johnny Cash, Roy Orbison sowohl Text als auch Musik komplett in Eigenregie. Musiker wie Little Richard, Buddy Holly, Gene Vincent oder Eddie Cochran haben immerhin Teile ihres kommerziell erfolgreichen Repertoires selbst verfasst. Die Songauswahl bzw. das Songwriting des Rock and Roll zeichnet sich im Allgemeinen nicht durch besonders innovative Akkordverbindungen oder neuartige melodische Ideen aus. Diese sind deutlich den bereits existierenden Stilistiken Rhythm and Blues, Country and Western und Gospel entlehnt. Was neben der extrovertierten Präsentation aber erfrischend neu wirkt, sind die unprätentiösen, oft lustigen und dabei einfach gehaltenen Texte; ein Umstand, der der unverbildeten, naiven und zum Teil, im positiven Sinne, amateurhaften Herangehensweise der Schreiber geschuldet sein dürfte. Die Texte, die von meist jungen Schreibern direkt an eine jugendliche Zuhörerschaft gerichtet sind, befassen sich mit einigen typischen Themen der amerikanischen Jugend der 1950er Jahre und haben immer wieder Nonsens-artige Anteile, die gerade wegen ihrer offensichtlichen Sinnfreiheit auffallen. Dabei etablieren sie Floskeln bzw. fiktive Charaktere, die im weiteren Verlauf in den popkulturellen Mainstream übernommen und auch in Songtexten nachfolgender Genres aufgegriffen werden. Beispiele populärer Nonsens-Textteile sind z.B. „Awopbobaloobopalopbamboom“ (in „Tutti Frutti“), „Ready Teddy, go, man, go“ (in „Ready Teddy“), „One for the money, two for the show, three to get ready, now go, man, go“ (in „Blue Suede Shoes“), „Roll over Beethoven“ (in „Roll over Beethoven“) oder „Bebopalula“ (in „Bebopalula“). Populäre fiktive Charaktere aus Rock and Roll-Songs sind z.B. Long Tall Sally, Miss Molly, Peggy Sue, Mary Lou, Lollipop, Skinny Jim, Sweet Little Sixteen, Charlie Brown, Spider Murphy oder Skinny Minnie.

Signature-Lick

Der englische Begriff „Lick“ bezeichnet eine kurze, melodische Phrase innerhalb eines instrumentalen Abschnitts eines Musikstückes.

„In popular music genres such as rock music, a lick is ‚a stock pattern or phrase’ (Middleton 1990) consisting of a short phrase, or series of notes that is used in solos and melodic lines. The term is most often used by rock musicians who play the guitar. […]

A lick is different from the related concept of a riff in that riffs can also include repeated chord progressions. Licks are usually associated with single-note melodic lines rather than chord progressions. However, like riffs, licks can be used as the basis of an entire song. […]“ (Wikipedia 2010, Artikel: lick (music))

Trotz seiner relativen Kürze kann ein gut eingesetzter Lick die Eingängigkeit und den Charakter eines auf etwa 3 Minuten angelegten Popsongs entscheidend prägen. Wenn ein Lick so typisch ist, dass er von erfahrenen Hörern einem bestimmten Instrumentalisten zugeordnet werden kann, wird er zum sogenannten Signature-Lick, der ähnlich wie bei einer Unterschrift (engl.: signature) eine unverkennbare Zeichnung oder Prägung aufweist. Für improvisierende Instrumentalisten der Stilrichtungen Jazz, Blues, Rock und Pop und im besonderen Maße für Gitarristen ist das systematische Erlernen solcher Licks und Signature-Licks ein Teilbereich der täglichen Überoutine, weil damit kleinste sinnvolle musikalische Bausteine gesammelt werden können (Berliner 1994). Nicht ohne Grund erscheint bei dem amerikanischen Verlag Hal Leonard seit vielen Jahren mit großem Erfolg die Serie „Guitar Signature Licks“ mit dem Untertitel „A Step-by-step Breakdown of the Guitar Styles and Techniques of […]“ (z.B. Rubin 2001). Jeder erfahrene Gitarrist verfügt über eine eigene, sogenannte „Bag of Licks“. Das ist ein Fundus aus selbst entwickelten, direkt von anderen Spielern übernommenen oder weiterentwickelten Varianten angeeigneter Licks. Bei freien, solistischen Passagen ist auch der Einsatz allgemein bekannter, klassischer Licks als bewusstes musikalisches Zitat verbreitet. Einerseits als Referenz gegenüber den eigenen Vorbildern, anderseits aber auch mit dem Hintergedanken den souveränen Umgang mit verschiedenen stil-spezifischen Traditionen in der musikalischen Praxis spielerisch unter Beweis zu stellen. Zur Veranschaulichung werden im folgenden drei Beispiele klassischer Rock and Roll-Licks dargestellt. Das folgende Notenbeispiel zeigt den eintaktigen Begleitlick von Presleys letzter Sun-Single „ Mystery Train“, eingespielt von Scotty Moore in seinem typischen, reduzierten Fingerpicking-Stil.

Nbsp. 1: Elvis Presley: „Mystery Train“ (1955)

Das zweite Notenbeispiel zeigt das zweitaktige Intro zu „That’ll be the day“ von Buddy Holly, ein simpler, aber effektiver Bluesabgang, der in den Akkord B7-Dur (V. Stufe) mündet und am Ende des Gitarrensolos ein zweites Mal eingesetzt wird.

Nbsp 2: Buddy Holly: „That’ll be the day“ (1957)

Das letzte Notenbeispiel zeigt die auch über die Stilistik Rock and Roll hinaus klassisch zu nennende Introduktion zu „Johnny B. Goode“. Der weitere Verlauf des Intros, die Chorus-Fills, das zweimal 12-taktige Gitarrensolo und selbst die einfache Gitarrenbegleitung des Songs machen jedes Detail dieser Aufnahme zu einer denkwürdigen Lehrstunde zum Thema Rock and Roll-Gitarre. Dies belegen zahlreiche Coverversionen prominenter Musikerpersönlichkeiten (u.a. Elvis Presley, Jerry Lee Lewis, Jimi Hendrix, Johnny Winter und Peter Tosh) und andere Verweise innerhalb der Popkultur (Soundtrack von American Graffiti, 1973; Schlüsselszene des Films „Back to the Future“, 1985).

Nbsp. 3: Chuck Berry: „Johnny B. Goode“ (1958)

Neben den Begriffen Lick und Signature-Lick ist beim Umgang mit kurzen, musikalischen Motiven im Pop-, Rock-, oder Jazz-Kontext auch der Begriff Riff gebräuchlich. Beim Riff handelt es sich um eine „in Jazz und Rock verbreitete Technik, gekennzeichnet durch ständige (ostinate) Wiederholung einer zwei- oder viertaktigen Melodiefigur. Der Riff bleibt auch bei Harmoniewechsel weitgehend unverändert [und] wird häufig als Background für einen […] Solisten verwendet […]“ (Wicke 1997, S. 433). Der Riff unterscheidet sich vom Lick bzw. Signature-Lick durch seinen repititiven und begleitenden Charakter und seine relative Kürze, die ein Riff einerseits einprägsam, für eine Interpretation charakteristisch und den dynamischen Verlauf entscheidend machen können. Auf der anderen Seite hat ein Riff durch sein Auftreten als Unisono- bzw. Ensemble-Stimme nur selten solistische Funktion und ist durch seine kompakte und aus musikalischer Sicht meist universelle, aber einfache Struktur nur selten besonders individuell oder charakteristisch für einen Personalstil (Beispiel für eine Ausnahme wäre z.B. das zweite Solo von „Rock around the clock“ von Bill Haley and His Comets). In der Praxis ist die Trennlinie zwischen den Begriffen Riff und Lick bzw. Signature-Lick manchmal unscharf und stehen sich nicht etwa unvereinbar gegenüber. Ein Beispiel aus der Ära des Rock and Roll, auf das beide Begriffe zutreffend angewendet werden könnten, ist das Begleitriff und gleichzeitig unverkennbare Signature-Lick von „Susie Q“ in der Version von Dale Hawkins mit James Burton an der Gitarre.

Nbsp. 4: Intro - „Susie Q“ (Dale Hawkins, 1957)

Sowohl einfache Licks als auch die mit einer bestimmten Person assoziierten speziellen Signature-Licks entstammen meist einer oder mehrerer bereits bestehender Spieltraditionen und erhalten durch eine zusätzliche Besonderheit des Spielers einen individuellen und damit unverwechselbaren Charakter. Die musik-etymologische Herkunft und originäre Besonderheit solcher Licks zu bestimmen, wird Inhalt des dritten Teils dieser Arbeit sein. Vorausgeschickt werden darf an dieser Stelle, dass die Zeichnung einer Signatur sich auf verschiedensten Ebenen manifestiert und eine nähere Bestimmung daher über die gängigen musikanalytischen Parameter wie Melodieführung, zugrundeliegende Harmonik und Rhythmik hinausgehen wird.

Eine grundsätzliche Prämisse dieser Arbeit ist, dass musikalische Stilrichtungen, Personalstile oder andere charakteristische Merkmale eines Genres wie instrumentale Licks oder Signature-Licks nicht aus dem Nichts entstehen. Vielmehr sind diese, zu einem bestimmten Zeitpunkt von Zeitgenossen als neuartig empfundenen, klanglichen Manifestationen grundsätzlich Ergebnisse langwieriger, komplexer und zum Teil unbewusst ablaufender Entwicklungsprozesse. Dieser Umstand lässt sich damit begründen, dass kein Mensch ohne sozio-kulturellen Kontext aufwächst, sondern spätestens ab der eigenen Geburt mit den determinierenden Bedingungen seiner Zeit, seines Wohnorts, der Gesellschaft, seiner Familie, Freunde usw. konfrontiert ist. Egal ob dem Einzelnen die musikalischen Gepflogenheiten, Hörgewohnheiten oder spielerischen Traditionen später gefallen oder nicht so sind sie doch für die ersten Jahre eines Menschenlebens fundamentale und somit in höchstem Maße konstituierende Bedingungen. Auch eine später eventuelle radikale Abkehr von solchen eigenen kulturellen Wurzeln ist trotzdem dem intuitiven Wissen um sie geschuldet (Gembris 1998). Ausgehend von dieser Überlegung erscheint es interessant, die Herkunft eines eng gefassten musikalischen Genres und die Bezüge innerhalb dieses Genres zu erforschen. Diese Aufgabe kann aus verschiedenen investigativen Richtungen angegangen werden. Ist das Forschungsobjekt an eine bestimmte Person gebunden, wird dabei die regionale Herkunft des Urhebers, die Umstände seiner kulturellen Sozialisation, sein Zugang zu Lehrern, Mentoren oder musikalischen Vorbildern eine Rolle spielen.

 

Für eine solche Betrachtung ist es erforderlich, ein Grundwissen von den populären amerikanischen Gitarrenspielweisen aus der Zeit vor den ersten kommerziellen Erfolgen des Genres Rock and Roll zu haben. Die aus gitarristischer Sicht fundamentalen und allgemein bekannten Spielweisen der Jahre von etwa 1930 bis etwa 1950 werden im Folgenden anhand von repräsentativen Beispielen mit Erläuterungen dargestellt (Sokolow 1998, Rubin 2005).

1.1.5 Nordamerikanische Spieltraditionen der Gitarre (ca. 1930-1950)

„I can’t think of single western [movie] in which a song sung to a piano means a damn thing.“ (Brookes 2005, S. 144)

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind auf dem Territorium der USA einige essentielle gitarristische Spieltraditionen entstanden, die im Folgenden kurz beschrieben werden sollen. Die große Popularität der Gitarre in der nord-amerikanischen Musik ab den 1920er Jahren hängt aus musikhistorischer Sicht eng zusammen mit einigen Innovationen im Gitarrenbau und dem Wechsel der Bespannung von Darmsaiten zu den lauteren, verstimmungsfreieren und brillianter klingenden Stahlsaiten (bei Martin Guitars ab ca. 1921). Hiermit beginnt die Abkehr vom viersaitigen Tenorbanjo als dem Standard-Akkordinstrument in den populären Stilen Dixieland, Swing und Folk hin zur sechssaitigen, akustischen Gitarre als dem neuen Standard (Schwab 1998). In den 1930er Jahren entstehen in Folge dieses Wandels einige einflussreiche und fundamentale Spielweisen, die das nordamerikanische Gitarrenspiel über Jahrzehnte prägen werden. Im Allgemeinen wird jede dieser Spielweisen mit jeweils einem prominenten Vertreter in Verbindung gebracht und einige sind in Folge dessen nach eben diesen Repräsentanten benannt.

American Folk: Carter Style (Carter Scratch)

Die Sängerin und Gitarristin Maybelle Carter (1909-1978) spielt bei den ersten Aufnahmen der Carter Family im Mai 1928 bzw. Februar 1929 erstmals im später sogenannten Carter Style oder Carter Scratch. Die Spielweise kann in begleitendes und solitisches Spiel unterteilt werden. Während der Gesangsbegleitung werden einzelne Basssaiten mit einem aufgesteckten Daumenpick gespielt (meist Grundton auf Zählzeit 1, Quinte auf Zählzeit 3) und auf den Diskantsaiten mit Zeige- und/oder Mittelfinger der rechten Hand im Strummingstil (auf Zählzeiten 2 u. 4) begleitet.

Nbsp. 5: Einfache Begleitung im Carter-Stil

Mitunter wurde diese einfache Begleitung mit einem zusätzlichen Aufwärtsanschlag in der rechten Hand zu einer durchlaufenden Achtelfigur verdichtet:

Nbsp. 6: Einfache Begleitung (Variation) im Carter-Stil

Das solistische Spiel wird in dieser Spielweise bei Intros, Zwischenspielen, Soli und Endings eingesetzt. Dabei werden einstimmige Bassläufe oder Melodieteile auf den tiefen Saiten der Gitarre gespielt und - wie bei der Begleitung - auf den oberen Diskantsaiten komplementär mit Akkordfragmenten begleitet. Durch die Vorgabe der Melodie (oft die Strophen- oder Chorusmelodie des Songs) werden die strengen Formeln der Begleitung aufgebrochen. Als Beispiel im Folgenden das Intro zu dem Carter Signature-Song „Keep on the sunny side“ von 1928, der über Jahre ihre charakteristische Erkennungsmelodie bei Konzerten und Radioshows war (Sokolow 1999).

Nbsp. 7: Intro - „Keep on the Sunny side“ (Carter Family, 1928)

Über Maybelle Carters Beitrag zur Entwicklung stilcharakteristischer Spielweisen der Gitarre in Nordamerika schreibt Sokolow:

„Maybelle Carter is a giant influence in country guitar. […] The Carter Scratch is still a fundamental country guitar style, although most guitarists use a flatpick to approximate Maybelle’s sound, and they play in the other first positions keys (E, A, D and G) as well as in Maybelle’s favourite, C. […] For a down-to-earth country sound, you can’t beat the Carter Scratch.“ (Sokolow 1999, S. 14)

Die Online-Enzyklopädie Wikipedia ergänzt:

„As important to country music as the family‘s repertoire of songs was Maybelle‘s guitar playing. […] While Maybelle did use a flatpick on occasion, her major method of guitar playing was the use of her thumb (with a thumbpick) along with one or two fingers. What her guitar style accomplished was to allow her to play melody lines (on the low strings of the guitar) while still maintaining rhythm using her fingers, brushing across the higher strings. Before the Carter family‘s recordings, the guitar was rarely used as a lead or solo instrument among white musicians. Maybelle‘s interweaving of a melodic line on the bass strings with intermittent strums is now a staple of steel string guitar technique. Flatpickers such as Doc Watson, Clarence White and Norman Blake took flatpicking to a higher technical level, but all acknowledge Maybelle‘s playing as their inspiration.“ (Wikipedia 2010, Artikel: Carter Family)

Country Blues: Robert Johnson

Für die gitarristische Spielweise im akustischen Country Blues wird im Folgenden der Sänger und Gitarrist Robert Johnson (1911-1938) näher betrachtet. Obwohl ihm zu Lebzeiten kein bedeutender kommerzieller Erfolg beschieden war, gilt sein Gitarrenspiel heute als außerordentlich repräsentativ für den Stil des amerikanischen Country Blues gegen Ende der 1930er Jahre (Wald 2004). Zudem ist sein Werk aufgrund der ingesamt lediglich 29 Einspielungen übersichtlich und - wegen der großen Bedeutung, die Johnson auf die Vertreter des British Blues Rock (Rolling Stones, Eric Clapton, Peter Green) hatte - außerordentlich gut dokumentiert und aufgearbeitet (z.B. Hal Leonard 1992, 1999). Johnsons Gitarrenspiel umfasste Besonderheiten wie verschiedene offene Stimmungen, Einsatz des Kapodasters, Slide/Bottleneckspiel, Flagolettes und Fingerstylespiel. Im Folgenden ist eine vergleichweise einfache Begleitung des Bluesstandards „Sweet Home Chicago“ (1937) in Standardstimmung in Noten und Tabulatur dargestellt. Johnson spielt und singt in der im Gitarrenblues weit verbreiteten Tonart E-Dur bei einem Tempo von ca. 94 bpm.

Nbsp. 8: Sweet Home Chicago (Robert Johnson, 1937)

Im Gegensatz zu einigen seiner anderen Einspielungen hält Johnson hier die Harmonie- und Taktfolge des einfachen 12-taktigen Bluesschemas mit einem sog. Quickchange auf die IV. Stufe (Takt 2) präzise ein. Die Begleitung ist triolisch rhythmisiert und lässt sich in zwei Ebenen unterteilen. Auf den drei tiefsten Saiten der Gitarre läuft eine formalhafte Begleitung mit dem Grundton in Achtel-Notenwerten und einem Wechsel von Quinte auf große Sexte darüber (B-C#-B-C#). Auf der IV. Stufe (A-Dur) wird der Wechsel um die kleine Septime erweitert (E-F#-G-F#). Die herausragende Besonderheit dieser Passage, die auch in anderen Johnson-Einspielungen auftaucht (z.B.: „I believe I’ll dust my broom“, 1937) erklärt Wald folgendermaßen:

„It is hard for us now to tell what was so revolutionary about this song at the time it was recorded. The song‘s boogie bassline has now completely passed into the standard guitar repertoire, but at the time it would have been nearly brand new, a guitarist‘s version of something people would only ever have heard on a piano.“ (Wald 2004, S. 136)

Zusätzlich zu dieser rhythmisierten Begleitformel setzt Johnson auf Zählzeit 1 die sukzessiv gespielte Sexte (G-E) ein und bringt damit auf einer zweiten Ebene ein ganztaktig ausklingendes Klangostinato ins Spiel. In der letzten Zeile (Takt 9-12) gibt Johnson diese Spielweise auf und wechselt nach der V. Stufe (B-Dur) in eine dreitaktige in jeder Strophe wiederkehrende Turnaround-Formel, die über einen chromatischen Abgang über den Septimakkord (E7) in die V. Stufe führt. Besonders diese überlegt gesetzten letzten drei Takte des Beispiels sind neben der vermutlich von Boogie-Piano-Einspielungen übernommenen Begleitformel ein charakteristisches Merkmal von Robert Johnsons Spielstil.

Fingerstyle: Travis-Picking & Chet Atkins-Picking

Das Travis-Picking ist eine Weiterentwicklung eines traditionellen, regionalen Gitarrenstils aus dem westlichen Teil des US-Bundesstaates Kentucky. Die Aufgaben der rechten Hand werden dabei zweigeteilt. Während der Daumen auf die vollen Zählzeiten ein geerdetes Fundament mit einem formelhaften Wechsel zwischen Bass und Akkordfragmenten auf den unteren Saiten liefert, spielt der Zeigefinger darüber die einstimmigen und oft synkopierten Melodien. Merle Travis (1917-1983), der zum Namenspatron dieses besonderen Fingerpicking-Stils avancierte, erlernte diese Spielweise in Grundzügen von Mose Rager und Ike Everly (dem Vater der später berühmten Everly Brüder) und erregte ab 1937/38 als Gitarrist von verschiedenen Radioshows unter Gitarristen einiges Aufsehen.

„His trademark mature style incorporated elements from ragtime, blues, boogie, jazz and Western swing, and was marked by rich chord progressions, harmonics, slides and bends, occasional blows on the soundboard, and rapid changes of keys. He could shift quickly from finger-picking to flatpicking in the midst of a number by gripping his thumb pick like a flat pick. In his hands, the guitar resembled a full band.“ (Wikipedia 2010, Artikel: Merle Travis)

Als Beispiel im Folgenden eine standardisierte Darstellung der ersten beiden Formteile aus dem Travis-Signature-Song „Cannonball Rag“. Das Stück war jahrelang eine charakteristische Erkennungsmelodie bei Konzerten und Radioshows, liegt in verschiedenen Einspielungen vor (z.B. 1952, 1968, 1978) und wurde in Varianten auch unter Titeln wie z.B. „Cannon Ball Rag“, „Cannonball Stomp“, „Cannonball“ oder „Cannon“ veröffentlicht (Bresh 2004). Einige für Travis besonders charakteristische Spielweisen werden in sämtlichen Einspielungen idealtypisch eingesetzt, so z.B. die Kombination aus Wechselbassspiel im Daumen der rechten Hand und Melodie im Zeigefinger, mit dem Handballen abgedämpfte Basstöne, perkussive Effekte, Einsatz erweiterter vier- und fünfstimmiger Akkorde, Lagenspiel über das gesamte Griffbrett, Einsatz von Chromatik und Dominantketten.

Nbsp. 9: Cannonball Rag (Merle Travis, 1952)

Als direkter Nachfolger und einflussreicher Weiterentwickler des Travis Picking gilt der erfolgreiche Country-Gitarrist und Produzent Chet Atkins (1924-2001), der diesen Stil zu neuen virtuosen Höhen führte. Bezüglich der Unterschiede zwischen den Spielstilen von Travis und Atkins sagt der Gitarrist und Travis-Sohn Thom Bresh:

„The Merle Travis-Style is very, very different than Chet Atkins even though Chet took the Travis-Style another step. […] Chet articulates very clean, hitting one string and mute it. Travis didn’t do that. He would take that thumb […] and he would hit both of these strings and strumm it but mute it. […] He just grabbed something and played it just for the rhythm. So you got that real sort of a tight rhythm.“ (DVD: Bresh 2004)

Um die charakteristischen Unterschiede der beiden verwandten Spielstile und die obige Aussage von Bresh zu veranschaulichen, werden im Folgenden jeweils ein einfaches Begleitpicking im Stil von Travis und Atkins ohne melodische Anteile einander gegenübergestellt.

Nbsp. 10: Begleitung im Travis-Stil

Travis spielt in der Akkordfolge konsequent das Saitenpaar 5 und 6 auf die Zählzeiten 1 und 3 und das Saitenpaar 3 und 4 auf die Zählzeiten 2 und 4. Durch die mechanische Gleichförmigkeit im Daumen der rechten Hand wird sein Anschlag dadurch sehr kraftvoll und perkussiv. Falls sich im Akkordvoicing auf der tiefsten Saite nicht der Grundton befindet, spielt er stattdessen wie im vorliegenden Fall die Quinte des Akkordes. Daher ergeben sich in der Akkordnotierung oftmals sogenannte Slashakkorde mit einem vom Grundton abweichenden, tiefsten Ton. Bei Travis entsteht durch die Verwendung von zwei Registern zwar eine Zweiteilung in der Begleitung, aber kein deutlich hörbarer, konsequenter Wechselbass wie z.B. beim Carter Scratch oder eben dem Spiel von Chet Atkins, das mit dem folgenden Beispiel illustriert werden soll.

 

Nbsp. 11: Begleitung im Atkins-Stil

Bei Atkins entstehen durch die saubere Trennung der Stimmen ein konsequenter Wechselbass und komplimentäre Akkordklänge auf die Zählzeiten 2 und 4. Das erinnert an den rhythmischen Aufbau der virtuosen Stride Piano-Technik der 1920er Jahre. Sein Spiel wirkt im Gegensatz zu Travis vielschichtig und gleichzeitig klanglich aufgeräumt. Dieses filigrane satz- und spieltechnische Prinzip hält er auch bei größer angelegten musikalischen Arrangements weitgehend durch. Beispielhaft für sein umfangreiches musikalisches Werk wird hier seine Einspielung des Popsongs „Mister Sandman“ vorgestellt. Atkins hat den Song, der im Original von einem weiblichen Gesangsquartett (The Chordettes, 1954) stammt, selbst für Gitarre gesetzt und stellte damit bereits am Anfang seiner musikalischen Karriere sein gitarristisches und satztechnisches Können (mehrere Modulationen im kompletten Stück, Spiel bis in höchste Gitarrenlagen, eigens entwickelte Spieltechniken mit vier Fingern der rechten Hand) und die bis dahin noch wenig erforschten klanglichen Möglichkeiten der Gitarre (mehrstimmiges, solistisches Spiel, Vibrato-Hebel) einer breiten Öffentlichkeit vor (DeCurtis 1992, Sokolow 2000, Bresh 2004).


Nbsp. 12: Intro & Thema - „Mister Sandman“ (Chet Atkins, 1954)

Swing: Charlie Christian-Style

Charlie Christian (1916-1942) war als Mitglied des Benny Goodman Ensembles von 1939-1941 einer der ersten und einflussreichsten E-Gitarristen Nordamerikas. Durch die elektrische Verstärkung (‚horn-like’) und Christians kreatives Single-Note-Spiel in mittleren und hohen Lagen wird die E-Gitarre bei ihm zum gleichberechtigten Soloinstrument neben Klarinette, Saxophon und Trompete (Schütze 2003). Außerdem gehören Christians Improvisationen in Minton’s Playhouse aus dem Jahr 1941 zu den raren Tondokumenten aus der Übergangsphase vom Swing zum Bebop. Obwohl sein Spielstil stark vom Blues und dem Denken in sogenannten Shapes (dt.: ‚Griffbildmuster’) geprägt ist, sind seine für den damaligen Zeitpunkt zum Teil vergleichsweise lang angelegten Improvisationen immer sehr flüssig und gelten durch den Einsatz von Chromatik und Alterationen als melodisch sehr innovativ. Während der Übergangsphase des Jazz von Unterhaltungsmusik zur Kunstmusik begründet Christian mit seinem Spiel die Gitarre als Soloinstrument und beeinflusst damit viele nachfolgende Gitarristen auch weit über die Stilistik des Jazz hinaus (Schwab 1998). Als Beispiel für den Spielstil Charlie Christians folgt eine Transkription des Gitarrensolos der populären Einspielung „Flying Home“ (1939) des Benny Goodman Ensembles. Die Einspielung beinhaltet mit Christians 32-taktigen Solo seine erste dokumentierte Aufnahme und machte ihn in unmittelbarer Folge als E-Gitarristen national bekannt. Sein oben beschriebener, originärer solistischer Stil ist hier bereits voll entwickelt und schlägt sich in variantenreichen Bluesriffs (Takt 1-16 und 25-32) und flüssigen Singlenote-Linien mit arpeggierten, chromatischen und alterierten Anteilen (Takt 17-24) nieder.

Nbsp. 13: Gitarrensolo - „Flying Home“ (Charlie Christian, 1939)

Electric Blues: T-Bone Walker Style

Eine ähnliche pionierhafte Rolle wie Charlie Christian im Bereich Swing und frühem Bebop gebührt dem Gitarristen Aaron ‚T-Bone’ Walker (1910-1975) für seine Leistungen im Bereich des Jump Blues bzw. Rhythm and Blues. Ab Mitte der 1940er Jahre setzte er mit seinen Aufnahmen bei Capitol und Black and White Records neue Standards für die Begleitung und den solistischen Einsatz der elektrischen Bluesgitarre („Call it stormy Monday“ 1948, „T-Bone Shuffle“ 1949).

„It took Walker to exploit electricity. By using his amplifier‘s volume control to sustain pitches, and combining this technique with the single string-bending and finger vibrato practiced by traditional bluesmen, Walker in effect invented a new instrument. He was able to reproduce both the linear urgency of jazz saxophonists and the convoluted cry of blues and gospel songers. In addition, he developed a chordal style on fast numbers, a pumping guitar shuffle that led eventually to the archetypal rock & roll guitar style of Chuck Berry.“ (Palmer in DeCurtis 1992, S. 9)

Der eigentlich als Tänzer und Sänger ins Showgeschäft gekommene Walker erregt über die rein musikalische Leistung hinaus Aufsehen durch seine für die damalige Zeit spektakulären Showeinlagen. Während seiner Auftritte spielt er seine Gitarre im Spagat, im Liegen, auf dem Rücken oder mit den Zähnen. Elemente dieser vaudeville-artigen und stark auf visuellen Effekt ausgelegten, so genannten „stage antics“ finden sich wieder im Repertoire einiger nachfolgender Rock and Roller (z.B.: ‚Duck Walk’ von Chuck Berry, provokative Spielhaltungen am Klavier bei Little Richard oder Jerry Lee Lewis), später auch bei den Showeinlagen von Jimi Hendrix, den zerstörerischen Eruptionen von Pete Towneshend oder den choreographierten Auftritten von Steve Vai (DeCurtis 1992, Robillard 2003). Als Beispiel für den Spielstil T-Bone Walkers folgt eine Transkription des Gitarrensolos der selbstreferentiell betitelten Einspielung „T-Bone Shuffle“ (1949). Sein oben beschriebener, solistischer Stil ist in dem 24-taktigen Gitarrensolo bereits voll entwickelt und schlägt sich nieder in variantenreichen Bluesriffs inklusive der für Walker charakteristischen Merkmale: Spiel in einer Lage (III), Bending auf den Saiten 2 u. 3 („one-note guitar lick“) und Repeating-Licks (Takt 13-15). Der Aufbau der Melodik und der Phrasierung im Gitarrensolo setzt sich aus improvisatorisch kombinierten, bereits bestehenden Motiven, Phrasen und Licks zusammen, die in auffällig ähnlicher Form auch in anderen Walker-Einspielungen wie „It’s a low down dirty deal“ (1949) oder „Alimony Blues“ (1951) zu finden sind.

Nbsp. 14: Gitarrensolo - „T-Bone Shuffle“ (T-Bone Walker, 1949)

1.2 Problemstellung

Für den weiteren Verlauf der Arbeit bestehen drei Aufgabenkomplexe, deren jeweilige Problematik vor dem nächsten Arbeitschritt im Folgenden kurz dargestellt werden soll.

1.2.1 Erstellung einer Auswahl stilprägender Einspielungen

Der Musikstil Rock and Roll wurde unter 1.1.1 und 1.1.2 begrifflich, zeitlich und territorial eingegrenzt. Bei der Suche nach den stilprägendsten und einflussreichsten Instrumentalsparts dieser Ära stößt man auf fundamentale Fragen: Welches sind die stilprägenden und einflussreichen Werke der Ära? Was ist unter Stilprägung und Einfluss zu verstehen? Können diese Faktoren nachvollziehbar ermittelt und dargestellt werden? Was genau ist in diesem Zusammenhang ein Werk? Wie kann eine für die Ära repräsentative Auswahl von Werken erstellt werden?

Dies führt zu der Frage wie Musik als Teil der menschlichen Kultur von der Nachwelt erinnert wird und wie sich diese Erinnerung in verschiedenen Phasen des Vergessens manifestiert. Vor diesem Hintergrund soll eine Methode entwickelt werden, anhand der in einem nachvollziehbarem Prozess eine möglichst breit angelegte Auswahl von Einzelwerken generiert wird, die von der Nachwelt bzgl. der Gitarre als besonders typisch für die Ära des Rock and Roll erinnert wird. Falls graduelle Unterschiede bzgl. der Bedeutung einzelner Werke existieren, könnten diese in einem hierarchischen Ordnungssystem dargestellt werden. Eine theoretische Grundlage für die Entwicklung einer solchen Methode stellen hierbei die Überlegungen des deutschen Ägyptologen Assmanns (1997) dar. Inwieweit an sein Modell zum kulturellen und kommunikativen Gedächtnis angeknüpft, welche Methode davon ausgehend entwickelt werden kann und welche Auswahl gitarren-relevanten Interpreten und typischen Einzelwerken der Ära sich daraus ergibt wird in Kap. 2 dargestellt.

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