Читать книгу: «Und dann kam das Wasser», страница 5
„Hast du das gehört?“, erklärte Franziska feierlich, nachdem sie wieder im Auto saßen. „Ich stand auf einem Punkt mit besonderer positiver Energie, als ich umgerissen wurde.“
„Was beweisen würde?“, erkundigte sich Hannes skeptisch.
„Dass ich außerordentliches Glück hatte, nicht auf einem Punkt mit negativer Energie gelandet zu sein“, feixte Franziska mit einem schiefen Lächeln und griff nach ihrem Handy.
Irgendwann am gestrigen Abend, nachdem Hannes gegangen war und der Rotwein sie endlich an etwas anderes als ihr Beinahe-Ertrinken denken ließ, hatte sie Walter eine SMS geschickt, in der sie ihm, wohl etwas umständlich, von ihrem schlimmen Erlebnis erzählt hatte. Keine zwei Minuten später hatte das Handy geklingelt. Besorgt hatte Walter gefragt, wie so etwas denn passieren könne und ob es ihr auch wirklich gut gehe. Am liebsten wäre sie in ihr Handy hineingekrochen, so gut tat ihr seine Stimme und seine Besorgnis, die nur noch von der Ankündigung „Ich komme sofort zu dir“ hätte getoppt werden können. Was natürlich nicht ging, wie er ihr versicherte, und auch, dass er voller Sehnsucht darauf warte, dass sie den Fall abschloss, um endlich zu ihm nach Palermo zu kommen. „Ich vermisse dich sooo!“, hatte er ihr gestanden.
Selbst jetzt, allein bei der Erinnerung daran, wurde ihr ganz warm ums Herz, und ihr Körper begann vor Sehnsucht zu kribbeln. So einen Satz hatte sie von Walter noch nie gehört. Wehmütig schloss Franziska die Augen, doch kaum begann sie vor sich hin zu träumen, da holte Hannes sie auch schon wieder ins unfreundliche Passauer Regenwetter zurück.
„Ich frage mich, wie oft die drei Brüder überhaupt in dem Haus waren, und ob sie wussten, in welchem Zustand es war.“ Hannes sah sie so eindringlich an, als könnte er ihre Gedanken lesen, blieb aber bei der Sache. „Ich hab mich übrigens bei der Feuerwehr erkundigt, wer die Hochwasservorkehrungen bei der Beinhuber-Immobilie getroffen hat“, erklärte er. „Die Sandsäcke hat auf jeden Fall die Feuerwehr vor die Tür geschichtet. Das machen die, sobald die Warnung des Wasserwirtschaftsamts kommt. In der Regel helfen die Anwohner natürlich mit, ist ja in ihrem Interesse, dass ihre Häuser möglichst gut geschützt werden. Von den Beinhubers war allerdings keine Rede.“
Franziska nickte nachdenklich, warf einen letzten Blick auf ihr Handy und schob es in ihre Tasche zurück.
„Also, wenn ich dieser Christian wäre und dafür gekämpft hätte, dass ich das Haus bekomme, dann hätte ich auch dafür gesorgt, dass es gut geschützt wird“, überlegte Hannes weiter.
„Kann doch sein, dass das einfach so ein Spinner ist und seiner Mutter mit seinen Plänen nur was vorgemacht hat“, stieg Franziska in die Überlegung ein. „Hast du eigentlich eine Ahnung, wie es bei einem Geistheiler zugeht?“
„Du meinst wohl, ich probier alles aus, was?“, lachte Hannes.
Franziska grinste frech. „Würde ich dir zutrauen.“
„Nein, leider, aber wenn du wissen willst, wie das so ist: Ich habe einen Freund, der schon mal bei einem Geistheiler war.“ Hannes warf einen Blick auf die Uhr. „Wir könnten vorbeifahren und ihn fragen.“
Franziska sah ihn an. „Hat er dir denn nichts von dem Erlebnis erzählt?“
„Nur, dass es auf einmal ganz hell wurde, als der Typ ihm die Hände aufgelegt hat, und dass es ein unbeschreibliches Gefühl gewesen ist.“
„Weißt du was? Die Märchenstunde heben wir uns noch ein bisschen auf.“ Franziska wollte lieber wieder mit Walter telefonieren. „Ich glaube, ich bin doch noch nicht so ganz auf dem Damm und würde jetzt lieber langsam Feierabend machen. Und Hunger hab ich auch.“
Die Kommissarin startete den Motor, parkte aus und reihte sich in den Feierabendverkehr ein.
„Ich glaube, ich hab nicht mal mehr eine Scheibe Brot zu Hause“, sagte Hannes mit starrem Blick durch die Heckscheibe, während der Regen auf Dach und Scheiben trommelte.
Franziska schluckte und sagte nichts. Ihr war bewusst, dass Hannes sie indirekt fragte, ob sie sich gemeinsam etwas kochen wollten. Womöglich in Franziskas Küche. Womöglich bei einigen Gläsern Rotwein. Aber das konnte und wollte sie nicht. Gestern das war eine Ausnahme gewesen, da war es gut, dass Hannes da gewesen war und sie ablenkte, Heute würde sie sich auf die Felle legen, die Augen schließen und Walters Stimme lauschen und sich dabei vorstellen, er wäre bei ihr oder käme zumindest gleich herein.
Sie mochte Hannes, und gerade aus diesem Grund wollte sie nicht, dass ihr Verhältnis jemals ein anderes als ein kollegiales war. Da war es besser, einen großen Bogen um Rotwein und Kaminfeuer zu machen. Deswegen schlug sie vor: „Was ist denn mit der Kollegin Hoffmann, willst du nicht mit der den Kochlöffel schwingen?“
Kopfschüttelnd betrachtete Hannes die Kollegin. „Ach Franzi, manchmal bist du wirklich unmöglich!“

Zwei Stunden später lag Franziska, von duftendem Schaum umgeben, wieder einmal in ihrer Wanne und dachte über das Leben und seine seltsamen Fügungen nach. Einem Mann wird genau zu der Zeit, wo die Passauer Altstadt vom Hochwasser überschwemmt wird, in einem leer stehenden Haus an der Ortsspitze der Hals aufgeschnitten. War die Flut nur ein Zufall, oder gehörte sie zum Plan des Täters? Hatte er tatsächlich die Prognosen des Wasserwirtschaftsamtes richtig gedeutet und sich zu eigen gemacht? Und welchen Nutzen hatte das Wasser für ihn überhaupt? Bedeutete es einen Zeitgewinn? Aber wofür brauchte er dann eine Gewebeprobe vom Toten? Vor allem, warum nur Haut- und Fleischstücke, warum nicht gleich einen Finger? Franziska schloss die Augen, weil ihr schon wieder schwindlig wurde. Trotzdem kamen ihre Gedanken nicht zur Ruhe.
Wie passte diese ganze Konstellation zu den vier Beinhuber-Brüdern, von denen einer unbedingt Haus und Laden erben wollte, während die anderen das Ganze nur als schöne Möglichkeit sahen, an Geld zu kommen? Hatte die alte Tante den Wunsch des jüngsten Neffen wirklich ignoriert und stattdessen versucht, mit ihrem Letzten Willen die Brüder zusammenzuschweißen? Glaubte sie, dass das gelingen konnte? Oder war das Ergebnis der verunglückten Familienzusammenführung eben jener unbekannte Tote? Hatte Christian Beinhuber, der angeblich bei einem Seminar war und dort nicht erreicht werden konnte, etwas damit zu tun? Oder war das alles doch nur ein Zufall, und es nutzte ein Fremder die Gelegenheit, das verlassene Haus als Tatort und später als praktische Entsorgungsstätte für den Toten zu verwenden? Aber wie waren Täter und Opfer überhaupt zusammengekommen? Hatte der Täter sein Opfer in den Laden bestellt? Oder war der, der das Treffen vorgeschlagen hatte, am Ende das Opfer, das nicht mit einem Übergriff des Täters gerechnet hatte? Und war das planmäßig passiert oder eine Affekthandlung? Etwa, weil das Opfer den Täter provoziert hatte?
Nachdem sie Hannes unterwegs abgesetzt hatte, war sie nach Hause gefahren und hatte sich an den Laptop gesetzt, um mehr über die Gabe eines Geistheilers zu recherchieren. Tatsächlich gab es Geistheilerseminare in nahezu allen Großstädten, und jeder schwor darauf, dass man die Fähigkeit des Handauflegens jederzeit erlernen könne. Als letztes Insignie der Geistheiler macht öffnete der Seminarleiter, so wurde es beschrieben, bei der ersten Geistheiler-Klient- Berührung die mentale Schleuse und machte somit jede Heilung möglich.
Kichernd richtete sich Franziska im Wasser auf und nahm das Rotweinglas von dem Hocker daneben. Als ihr der Wein fruchtigherb durch die Kehle rann, breitete sich ein wehmütiges Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Wenn nicht all diese Fragen im Raum stehen würden, wäre sie vielleicht schon auf dem Weg nach Sizilien und würde schon morgen in Walters Armen erwachen. Bestimmt würde es ihr auf dieser von der Sonne verwöhnten Insel schnell besser gehen.
Nachdenklich streckte sie ein Bein in die Höhe und wackelte mit den pink lackierten Zehen. Dabei fühlte sie sich wie ein verliebtes Schulmädchen. Vor allem, wenn sie da weitermachen würden, wo sie vor seiner Abreise aufgehört hatten.
Seufzend ließ sie das Bein ins Wasser zurückgleiten und reckte das andere in die Höhe. In Palermo musste es jetzt schön sein, und bestimmt konnte man ganz in der Nähe im Meer baden und dann …
Bevor sie sich von wilden Sexfantasien davontragen ließ, nahm sie das Glas am Stiel und schwenkte den Wein vorsichtig im Kreis. Es war ein sattes volles Rot, und mit jedem Schluck, den sie davon trank, wurden ihre Kopfschmerzen besänftigt und ihre Gedanken mutiger - fordernder.
Walter war von Anfang an anders gewesen als die Männer, die sie vor ihm gekannt hatte. Allerdings hatte sie sich ihm auch noch nie so nahe gefühlt wie nach der Nacht, in der sie in ihrem um dekorierten Wohnzimmer Was-auch-immer aus einem Kelch getrunken hatten. Vor allem, weil auch Walter seither wie verändert war.
Gut, dass er heute nicht erreichbar gewesen war, hatte sie schon geärgert. Aber gerade, als sie anfing, sich wirklich darüber aufzuregen, hatte sie eine supersüße SMS von ihm bekommen, die all ihre Wut schlagartig verpuffen ließ. Schon immer hatte er sie mit den wunderbarsten Nachrichten beglückt, aber noch nie hatte er sich so verliebt angehört wie heute:
Hallo Frau Kommissarin,
komm, so schnell du kannst.
Ich vermisse dich wie
verrückt und würde zu
gerne noch ein bisschen
von dir und vom Kelch
der liebe trinken.
Heiße Küsse und zärtliche
Umarmungen dein Walter
Ein Kribbeln, das ihren ganzen Körper aufwühlte und sich dann als pulsierende Wärme in ihrem Schoß niederließ, war die Antwort auf seine Zeilen. Ach, es ist so schade, dass er ausgerechnet jetzt weggefahren ist, dachte sie und zog einen Schmollmund.
Und während sie darüber nachdachte, was sie in dieser Wanne alles mit Walter anstellen könnte, wenn er jetzt hier bei ihr wäre, sie sich nackt an seinen Körper schmiegen, seine Lust erkunden und ihre eigene damit steigern würde, wurde sie auf einmal richtig sauer. Denn sie könnte ja bei ihm sein und ihr Glück auskosten, wenn nicht ausgerechnet jetzt dieser dämliche Mord dazwischen gekommen wäre.
Beim nächsten Schluck Rotwein war ihr alles klar. Der Täter betrog sie um Stunden voller Lust und Liebe. Um zarte Berührungen und Küsse, die in ihren Schoß kribbelten und sie dazu animierten, alles zu tun, was Walter ihr vorschlug. Einfach so, weil es in diesem Moment das Schönste war, was sie sich vorstellen konnte. Aber das würde er büßen müssen. Selbst wenn der Gedanke vielleicht etwas weit hergeholt war, nahm es Franziska dem Täter durchaus übel, dass er sie wegen einer im braunen Wasser treibenden Leiche in einem verlassenen Haus um diesen wundervollen Liebesurlaub mit Walter gebracht hatte. Als kleiner Nebeneffekt war ihre Wut sehr gut dazu geeignet, um sie zu Höchstleistungen anzuspornen. Noch hatten sie dem Täter keinen Fehler in seinem Vorgehen nachweisen können, einen hatte er aber auf jeden Fall bereits gemacht: Er hatte sich mir ihr ganz persönlich angelegt. Und das war sein größter Fehler, wie sie nach dem nächsten Schluck Rotwein grimmig befand.

Fröstelnd legte sich Natalia ein warmes Tuch um die Schultern, nahm den Schlüssel vom Haken und verließ leise die Wohnung. Im Treppenhaus blieb sie einen Moment stehen und lauschte, doch alles war ganz ruhig.
Trotzdem setzte sie die Schritte mit Bedacht, als sie die Holztreppe hinunterging, zwei Stockwerke, bis sie die Tür zum Keller erreicht hatte. Es war eine schlichte Tür, und von außen konnte niemand ahnen, was sich seit Jahrhunderten dahinter verbarg. Als sie die Tür durchschritten und wieder hinter sich geschlossen hatte, stand sie in einem schmalen Gang, der im Dunkeln lag. Damit war die schwierigste Etappe ihres Weges geschafft.
Wie gewöhnlich fanden ihre Finger den Kippschalter. Nach wenigen Momenten wurde der Raum in ein dämmriges Licht getaucht und ihr Blick auf die wunderschöne zweiflügelige Eichenholztür gelenkt. Ehrfürchtig ging Natalia auf sie zu, öffnete einen Flügel und schlüpfte hinein.
Als sie diesen Raum zum ersten Mal betreten hatte, war er für sie, wie für alle anderen im Haus, nur ein Keller gewesen. Sie hatte ihren Koffer in die eine Ecke gestellt, und mit ihm all das, was sie nicht für jeden sichtbar in ihrem Zimmer aufbewahren wollte.
Nach und nach war sie immer öfter heruntergekommen, denn sie hatte gespürt, dass dieser Raum förmlich nach ihr rief. Im Laufe der Wochen hatte sie damit begonnen, ihn aufzuräumen und sauber zu machen, wobei sie irgendwann endlich auf sein Geheimnis gestoßen war. Sie befand sich nicht nur in einem Keller, sondern in einer verlassenen Kirche, und als sie dann auch noch ein Bildnis der Jungfrau Maria gefunden hatte, war sie sich sicher, dass es ein Gotteshaus zu ihren Ehren sein musste. Eine Kirche der Heiligen Jungfrau Maria. Unter der Erde.
Auch jetzt holte Natalia das kleine Bild hervor, lehnte es in einen Mauervorsprung, zündete die beiden links und rechts davon stehenden dicken Kerzen an und sank auf die Knie. „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnaden“, flüsterte sie dem Bild zu und wartete darauf, dass die Jungfrau sie anlächeln würde.
Die Gottesmutter ließ sich Zeit, erst nach der fünften Ansprache erhellte ihr sanftes Lächeln den ganzen Raum. Sofort beruhigte sich Natalia. Dann faltete sie die Hände und begann zu beten: „Der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.“
Schon als Kind hatte Natalia viel gebetet, mit der Großmutter, der Mutter und den Schwestern, und immer war es die Jungfrau Maria, die sie um Schutz und Hilfe anflehten. In der Heimat waren sie als Christen eine Minderheit, toleriert, aber nie wirklich dazugehörig. Jetzt war sie hier und zählte doch schon wieder zu denen, die nicht dazugehörten. Zu denen, die keine Rechte hatten.
„Du kannst mir ja helfen, o Mächtigste. Du willst mir ja helfen, o Gütigste. Du musst mir nun helfen, o Treueste. Du wirst mir auch helfen, Barmherzigste.“
Immer sehnsüchtiger wurde Natalia in ihrem Flehen, immer inniger wurden ihr Wunsch, ihre Hoffnung, ihre Sehnsucht nach Erlösung.
„Mutter, auf dich hoff und baue ich, Mutter, zu dir ruf und seufze ich, Mutter, du Gütigste, steh mir bei, Mutter, du Mächtigste, Schutz mir leih!“
Kaum jemand wusste, wie es in ihrem Innersten aussah, ahnte, wie verzweifelt der Schmerz in ihr brannte, und niemand konnte ihr helfen. Nur die Heilige Maria, denn sie wusste: „Maria hilft immer in jeglicher Not!“
Tief versunken in das Gebet zur Gottesmutter flog die Zeit dahin. Mahnte nicht und zählte nicht. Ließ die beiden sich berühren und entfernen und gönnte es ihnen, sich dabei immer näher zu kommen. Bis die Jungfrau selbst aus dem Bildnis trat und Natalia die Hand auf den Kopf legte, um sie zu trösten und zu segnen. Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir, und wo ich bin, da ist kein Platz für Furcht, versprach sie mit fester Stimme und zog Natalia in eine innige Umarmung.
Natalia begann zu weinen, doch unter Tränen flehte sie weiter: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes!“
Siehe, ich bin die Magd des Herrn. Mir geschah nach seinem Wort, und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, sprach Maria, und Natalia antwortete: „Allmächtiger Gott, gieße deine Gnade in unsere Herzen ein. Durch die Botschaft des Engels haben wir die Menschwerdung Christi, deines Sohnes erkannt. Lass uns durch sein Leiden und Kreuz zur Herrlichkeit der Auferstehung gelangen, darum bitten wir dich, durch Christus, unseren Herrn. Amen.“
Nur ganz langsam, aber mit sanfter Beharrlichkeit, nahm die Angst, die Natalia schon so lange zum ständigen Begleiter geworden war und in den vergangenen Tagen noch zugenommen hatte, wieder ab. An ihre Stelle legte sich ein Vertrauen in das Wort der mächtigsten Frau, der größten Fürbitterin, der Zierde des Himmels.
Erst als draußen der Regen innehielt, um dem seltenen Besuch der Junisonne einen Auftritt am Himmel zu gönnen, verließ Natalia, ruhig und gefasst, die kleine versteckte Kirche unter der Erde. Das Bild der Heiligen Jungfrau Maria ließ sie stehen, der Rahmen war ohnehin leer und verlassen. Denn die Gottesmutter stieg neben ihr die Stufen hinauf, um sie zu begleiten. Es war kein leichter Weg, aber Natalia musste tun, was ihr vorbestimmt war.

Inzwischen stand das ganze Örtl unter Wasser. Der Inn traf die Donau jetzt auf dem Platzl, im Hirschwirtsgaßl und im Klosterwinkel. Selbst bei den Nonnen in Niedernburg war Land unter, und als Dank dafür, dass er dabei geholfen hatte, die Heizung auszubauen und in Sicherheit zu bringen, hatten sie ihn zum Essen eingeladen und ein Nachtlager für ihn errichtet. Das Essen bei den Nonnen war wirklich gut. Nur Zigaretten hatten sie eben keine. Dafür meinten sie, er solle ein Bad nehmen und mal seine Sachen wechseln. So ein Quatsch. Er war doch eh gleich wieder draußen. Aber dann hatte die Oberin sich vor ihn gestellt, die Arme in die Hüften gestemmt und gesagt: „Jetzt wird gebadet!“ Fehlte nur noch ein ‚Basta!‘. Doch darauf hatte er nicht gewartet. Bevor sie seiner habhaft werden konnte, war er entschlüpft und zu seiner Zille gelaufen.
Was dachten sich diese frommen Weiber eigentlich? Glaubten sie, er habe nichts Besseres zu tun, als ein heißes Bad zu nehmen? Ein richtiger Mann war bei einer solchen Katastrophe im Einsatz. Feuerwehr, THW, Wasserwacht und die Krankenhilfsdienste brauchten jeden Mann, jedes Boot, jede zupackende Hand. Alte und Kranke mussten versorgt, Einkäufe ausgeliefert, Menschen zur Arbeit und abends wieder nach Hause gebracht werden. Hochwasser war keine Idylle. Hochwasser war ein einziger Kampf gegen die Naturgewalten.
Das Wasser habe schon fast elf Meter erreicht, hatte es heute Morgen geheißen und es stieg unaufhaltsam weiter. Wer, außer ihm, sollte da auf den Toten aufpassen?
Als er das Platzl vor dem Waisenhaus erreichte, stattete er der Statue des heiligen Johannes von Nepomuk einen Besuch ab, um zu sehen, ob der Brückenheilige vielleicht schon zu trinken begann. Das war auch so eine Geschichte, die ihm seine Mutter oft erzählt hatte. Als er dann aber vor dem Heiligen Haltmachte, war er froh darüber, dass das Wasser noch nicht einmal bis zu dessen Bauch reichte. Nicht auszudenken, wie es im Örtl aussehen würde, wenn das Wasser noch höher stieg.
Derart beruhigt lenkte er seine Zille um die inzwischen vom Wasser verschlungenen Holzstege herum und ruderte dann bis zu dem zugenagelten Fenster von der Beinhuber Emmi ihrem Lager. Das Wasser stand jetzt knapp unter dem Fensterbrett. Jetzt wäre es ein Leichtes, es aufzudrücken und hineinzuschlüpfen. Nur, mit der Zille konnte er nicht hinein, dafür war das Fenster zu schmal und drinnen war alles zu eng, und schwimmen wollte er nun wirklich nicht. Das Wasser hatte gerade mal sechs Grad. Zumindest hatten das die Gaffer und Hochwassertouristen erzählt, die nur noch aus sicherer Entfernung auf die ihnen entgegenkommenden Bäche, die in die Gassen der Altstadt drangen, glotzten.
Vorsichtig blickte er sich nach allen Seiten um. Doch so wie es aussah, war er gerade ganz allein mit seiner Zille. Dabei hieß es doch immer, der Täter komme an den Ort des Verbrechens zurück. Nur, was sollte er hier machen? Rausholen konnte der den ja genauso wenig wie die von der Polizei. Interessant wäre ja nur zu wissen, warum der Täter den erst eingepackt und dann doch nicht mitgenommen hatte.
Er drückte sich von der Wand ab und ruderte langsam bis zum Hauseck, von wo aus er in Richtung Ortsspitze blickte. Es sah aus, als ständen die Häuser direkt im Fluss. Nur der Landungssteg schwamm noch im Wasser, wie von Geisterhand an seinem Platz festgehalten. Die Ladentür und die Schaufenster mit dem eingedrückten Glas lagen jetzt ebenfalls unter der Wasserlinie, und irgendwo dahinter schwamm der Tote in seiner Mülltüte herum. Bei diesem Gedanken begann er sich dann doch zu gruseln. Für nichts und niemand würde er da noch einmal reingehen. Nicht mal für eine ganze Stange Zigaretten.

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