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Mündliche, kollegiale Reflexion von videografiertem Unterricht
Corinne Wyss
1Einleitung
Videoaufnahmen von Unterricht werden in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen verbreitet eingesetzt. Die heutigen technischen Möglichkeiten erlauben ein unkompliziertes Produzieren, Speichern, Teilen und Bearbeiten von Unterrichtsaufnahmen. Dadurch können Aufnahmen des eigenen Unterrichts, aber auch diejenigen von Studien- oder Lehrerkolleginnen und -kollegen oder von unbekannten Drittpersonen betrachtet und bearbeitet werden.
Die videobasierte Reflexion hat den Vorteil, dass alle beteiligten Personen das Unterrichtsgeschehen aus der gleichen Perspektive ansehen können. Persönliche Beobachtungen, Analysen und Erklärungen können situiert und für andere sichtbar gemacht werden. Dies ist sowohl für die individuelle, schriftliche als auch für die gemeinsame, mündliche Reflexion hilfreich.
Die schriftliche Reflexion wird in Ausbildungskontexten gerne eingesetzt, um die Studierenden ihre Praxiserfahrungen verarbeiten zu lassen (siehe dazu den Beitrag von Katharina Rosenberger in diesem Band). Wenn Unterrichtsvideos vorhanden sind, können Studierende in solchen schriftlichen Reflexionen explizit auf ihre Unterrichtsbeobachtungen und -erfahrungen Bezug nehmen. Dies kann auf einfache Weise mit Verweisen auf die entsprechenden Videoausschnitte oder technisch elaborierter mit dem Einbinden von Unterrichtsclips in webbasierte Lösungen (z.B. in einem E-Portfolio) gelöst werden. Für die Betreuungspersonen der Studierenden wird dadurch eine adäquatere Einschätzung der Reflexionen möglich, die eine wertvolle Rückmeldung und eine angemessene Beurteilung erlauben.
Die mündliche Reflexion wird insbesondere im Rahmen der berufspraktischen Ausbildung umgesetzt. Praxislehrkräfte oder Praxisbegleiterinnen und -begleiter der Ausbildungsinstitution reflektieren den Unterricht mit den Studierenden. Solche Reflexionsgespräche sind für die Studierenden sehr wertvoll, da Unterrichtsgeschehnisse zeitnah verarbeitet werden können. Die mündliche Reflexion von Praxiserfahrungen kann in unterschiedlichen Settings auch im Rahmen der theoretischen Ausbildung stattfinden (siehe hierzu auch den Beitrag von Eveline Christof in diesem Band). Mit Unterrichtsvideos kann ein praxisnaher Reflexionsimpuls geschaffen werden, der Anlass zu verschiedenen Bearbeitungsformen gibt.
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der mündlichen, videobasierten Reflexion von Unterricht. Es werden dabei die Möglichkeiten, Ziele und Herausforderungen der videobasierten Unterrichtsreflexion thematisiert und mit empirischen Belegen fundiert. Der Fokus liegt insbesondere bei kollegialen Reflexionsgesprächen. Im nachfolgenden Kapitel wird zunächst das Konzept der Reflexion im Lehrberuf und das Verständnis einer Definition von Reflexion thematisiert, das diesem Beitrag zugrunde liegt.
2Reflexion in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung
Das Thema Reflexion ist international in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung kaum mehr wegzudenken. Nachdem sich vorerst primär die angelsächsische Pädagogik dafür interessiert hat, wird der Reflexion seit Jahren auch in deutschfranzösischen Sprachgebieten große Bedeutung zugesprochen. Wenn Reflexion absichtsvoll und gezielt eingesetzt wird, kann sie die berufliche Entwicklung einer Lehrkraft positiv beeinflussen. Durch die Reflexion können Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen bewusster wahrgenommen und bearbeitet werden. Dadurch können Lernprozesse angeregt, Eigenverantwortung und Autonomie gestärkt sowie die Berufszufriedenheit gesteigert werden (vgl. Wyss 2013; van Beverana u.a. 2018). Dem Konzept wird demgemäß viel Potenzial zugeschrieben, obwohl einige Aspekte noch immer ungewiss und ungeklärt sind.
2.1Reflexion als Schlüsselkompetenz professionellen Lehrerinnen- und Lehrerhandelns
Seit rund 20 Jahren werden im Bildungswesen vermehrt Standards für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung diskutiert und implementiert (vgl. Gröschner, Lütgert 2007). Als Ausgangsbasis für die Standardentwicklung im europäischen Raum wurden vielfach die INTASC-Standards (Interstate New Teacher Assessment Support Consortium Standards) verwendet, die 1987 von den Bildungsministerien einiger US-Bundesstaaten ausgearbeitet wurden und zehn Kernstandards umfassen, welche die Kompetenzen von angehenden Lehrpersonen beschreiben (vgl. Frey, Jung 2011). Mit dem neunten INTASC-Standard «Professional Learning and Ethical Practice» wird explizit auf die Reflexion der Lehrperson referiert.2 Folgende Leistungen werden von den Lehrpersonen hier unter anderen erwartet (Council of Chief State School Officers 2011, S.18):
Performances:
9(d) The teacher actively seeks professional, community, and technological resources, within and outside the school, as supports for analysis, reflection, and problem-solving.
9(e) The teacher reflects on his/her personal biases and accesses resources to deepen his/her own understanding of cultural, ethnic, gender, and learning differences to build stronger relationships and create more relevant learning experiences.
Essential Knowledge:
9(g) The teacher understands and knows how to use a variety of self-assessment and problem-solving strategies to analyze and reflect on his/her practice and to plan for adaptations/adjustments.
Critical Dispositions:
9(l) The teacher takes responsibility for student learning and uses ongoing analysis and reflection to improve planning and practice.
9(n) The teacher sees him/herself as a learner, continuously seeking opportunities to draw upon current education policy and research as sources of analysis and reflection to improve practice.
In Europa wurde die Diskussion um die Standardformulierung für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung insbesondere durch die Arbeiten von Fritz Oser (1997; 2002) gegen Ende der 1990er-Jahre geprägt. Die Bildungspolitik vieler Länder hat in der Folge den Standardbegriff aufgegriffen. Für Deutschland beispielsweise hat die Kultusministerkonferenz (KMK) Mitte Dezember 2004 die Standards für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung verabschiedet.3 Das Grundlagenpapier der KMK definiert die Kernaufgabe von Lehrpersonen als «die gezielte und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete Planung, Organisation und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen sowie ihre individuelle Bewertung und systemische Evaluation. Die berufliche Qualität von Lehrkräften entscheidet sich an der Qualität ihres Unterrichts» (KMK 2004, S.3). Wie in den USA wurde die Reflexion auch in Europa in solchen Regelungsdokumenten für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung aufgenommen. Demzufolge haben viele Bildungsinstitutionen verbindliche Ausbildungsstandards für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung festgelegt und das Thema Reflexion dabei explizit implementiert.
Die Reflexion hat in den nachfolgenden Jahren im Lehrberuf an Interesse gewonnen und viele Bildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sprechen ihr besondere Bedeutung zu. In neueren Publikationen wird die Reflexivität als Schlüsselkompetenz von Professionalität bzw. als Schlüsselkompetenz professionellen Lehrerhandelns bezeichnet (vgl. Combe, Kolbe 2008; Etscheidt, Curran, Sawyer 2012; Leonhard, Rihm 2011; Göhlich 2011). Arno Combe und Fritz-Ulrich Kolbe (2008, S.859) halten fest: «Biographische Reflexionen und überhaupt Reflexivität als Bewusstheit über das eigene Tun wird hier oft als Schlüsselkompetenz von Professionalität aufgefasst, sollen die Lehrpersonen nicht einer unwägbaren Praxis nur ausgeliefert sein.»
Die Ausführungen zeigen, dass die Reflexion im Lehrberuf in den letzten Jahrzehnten einen wichtigen Stellenwert eingenommen hat (vgl. auch Williams, Grudnoff 2011; Clarà 2015) und verbindliche Vorgaben dazu definiert wurden. Erstaunlich ist dabei, dass das Konzept der Reflexion bis heute erst unzureichend geklärt ist und unterschiedliche Auslegungen existieren.
2.2Zum Konzept der Reflexion
Die Reflexion zählt heute zu den professionellen Kompetenzen einer Lehrperson. Seit einigen Jahren wurden jedoch kritische Stimmen bezüglich der mit Reflexion einhergehenden begrifflichen Diffusion laut. Moniert wird einerseits, dass das Wort Reflexion sehr häufig verwendet wird, ohne dass man sich der Bedeutung genau bewusst ist. «Reflection is today on everybody’s lips, and this has created the paradoxical situation that ‹reflection› is often used in an unreflected manner» (Bengtsson 2003, S.295). Dies führt dazu, dass der Begriff für alle Arten und Formen von schriftlicher oder mündlicher Kommunikation verwendet wird, die mit Reflexion allenfalls kaum etwas zu tun haben. Eine Begründung für diese Problematik liegt darin, dass es in der Literatur bislang keinen Konsens darüber gibt, was genau unter Reflexion zu verstehen ist bzw. wie sie zu definieren sei. Sowohl theoretisch wie empirisch wird das Konzept sehr unterschiedlich gebraucht und praktisch umgesetzt (vgl. Black, Plowright 2010; Dimova, Loughran 2009; Williams, Grudnoff 2011). Marc Clarà (2015, S.261) formuliert es folgendermaßen: «Although there is broad agreement that reflection is crucial for teacher education and teaching improvement and change, there is also, at the same time, similarly broad agreement that there is no clarity on what reflection is.» Der Hintergrund dafür dürfte sein, dass Reflexion in verschiedenen Disziplinen bereits seit längerer Zeit Tradition hat. Bereits bei Aristoteles, Platon und Sokrates finden sich zahlreiche Schriften, die sich mit dem Thema Reflexion beschäftigen. In der Neuzeit sind es Philosophen wie Descartes, Kant oder Wittgenstein sowie die Pragmatisten Pierce, Popper oder Dewey, die sich mit dem Begriff auseinandersetzten (vgl. Bengtsson 2003; Fat’hi, Behzadpour 2011). Die Theorien von John Dewey wurden einige Jahrzehnte später vom US-amerikanischen Philosophen Donald A. Schön wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Seine Publikationen in den 1980er-Jahren («The Reflective Practitioner» und «Educating the Reflective Practitioner») wurden von verschiedenen Disziplinen wie den Erziehungs- oder Pflegewissenschaften aufgenommen und fachbezogen diskutiert. Der Begriff hat demgemäß eine bewegte Geschichte, aus der unterschiedliche Auslegungen und Bestimmungen entstanden sind, die das Festlegen einer allgemeingültigen Definition von Reflexion erschweren.
Vergleicht man unterschiedliche Konzepte und Definitionen, wie sie in der erziehungswissenschaftlichen Literatur zu finden sind, so können jedoch durchaus Überschneidungen festgestellt werden. In Anlehnung an Schön (1983), Zeichner und Liston (1996), Jay und Johnson (2002) u.a. kann Reflexion folgendermaßen definiert werden (vgl. auch Wyss 2013, S.55): Reflexion ist ein gezieltes, aufmerksames Nachdenken über bestimmte Handlungen, Gedanken oder Geschehnisse. Individuell oder im Austausch mit anderen Personen werden diese systematisch und kriteriengeleitet erkundet und geklärt. Dies geschieht unter Einbezug (1) eines erweiterten Blickwinkels, (2) von eigenen Werten, Erfahrungen und Überzeugungen sowie (3) eines größeren Kontexts (theoretische, ethisch-moralische, gesellschaftliche Aspekte). Aus dem Prozess werden begründete Konsequenzen für das weitere Handeln abgeleitet und in der Praxis umgesetzt.
Aus der Definition geht hervor, dass für eine professionelle Reflexion, wie sie hier skizziert wird, eine Reihe von Fähigkeiten und Fertigkeiten vorausgesetzt wird. Eine zentrale Grundlage für die professionelle Reflexion bildet das Professionswissen (vgl. dazu z.B. Baumert, Kunter 2006), das fachliches, fachdidaktisches und pädagogisches Wissen umfasst. Auf der Grundlage dieser Wissensbasis können Handlungen, Gedanken oder Geschehnisse theoriebasiert analysiert und erklärt werden. Selbstverständlich können persönliche Erfahrungen, Praxiserlebnisse und das Alltagswissen für die Reflexion hinzugezogen werden und eine wertvolle Bereicherung im Reflexionsprozess darstellen. Für die Weiterentwicklung der eigenen Praxis ist theoretisches Wissen jedoch erforderlich, denn es ermöglicht einen erweiterten Blickwinkel, neue Bezugspunkte und Kriterien, die die Reflexion unterstützen und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse bereichern und beleben. Jürg Schüpbach (2005, S.51) beschreibt es so:
Wenn sich Lehrer bei der Reflexion ihres beruflichen Handelns nicht ‹im Kreis drehen wollen› ohne weiterzukommen, wenn die Reflexion nicht ad infinitum zirkulär und repetitiv bleiben soll, dann braucht es abgestützte und verlässliche ‹Anstöße von außen›; sonst wird Reflexion zum ‹Sesam öffne dich› für verworrene Köpfe, oder wie Schön (1991, 10) es formuliert, ‹a never-ending land where anything goes›. Das Theoriewissen ist deshalb für den Praktiker, der sein Lehrerwissen entwickeln und professionalisieren will, unverzichtbar.
Neben dem Professionswissen werden Reflexionsprozesse von weiteren Aspekten beeinflusst, wie der Volition und Motivation, überfachlichen Kompetenzen, metakognitiven Fähigkeiten sowie Sozial- und Selbstkompetenzen (Sellars 2012; Dewey 1933; Hense, Mandel 2009). Eine wichtige Rolle spielt außerdem der Kontext, in dem die Reflexion stattfindet. So macht es einen Unterschied, ob die Reflexion aus eigenem Antrieb stattfindet, ob es eine (lästige) Pflichtaufgabe im Rahmen eines Aus- oder Weiterbildungsmoduls ist, ob es sich um einen Schreib- oder Gesprächsanlass handelt, die zur Verfügung stehenden Hilfestellungen anregend oder hemmend sind, und anderes mehr. Für Institutionen und Dozierende ist es wichtig, sich dieser Komplexität bewusst zu sein. Reflexionsanlässe sollten deshalb fundiert geplant werden, Inhalte und Ziele müssen klar dargelegt sein und Reflexionsprozesse gut angeleitet und begleitet werden. Da die Reflexion unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen erfordert, wird sie nicht einfach auf Anhieb gelingen. Im Rahmen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung sollten deshalb immer wieder Reflexionsanlässe angeboten und Reflexionsprozesse gezielt geübt werden (vgl. Wyss, Ammann 2015). Unterrichtsvideos bieten hierzu eine wertvolle Basis.
3(Videografierten) Unterricht beobachten und reflektieren
Unterrichtsvideos in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung zu verwenden ist keine neue Idee. Gemäß Miriam Gamoran Sherin (2007) wurden in den USA bereits in den 1960er-Jahren Videos in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung eingesetzt. Viele Bildungswissenschaftlerinnen und Bildungswissenschaftler sprachen der neuen Technologie schon damals großes Potenzial für die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen zu. Heute werden Unterrichtsvideos verbreitet eingesetzt, und es haben sich verschiedene Formen der Arbeit mit Videos etabliert. Die Arbeit mit Unterrichtsvideos hat zum Ziel, professionelles Wissen und insbesondere situierte Kompetenzen sowie die Reflexionsfähigkeit zu fördern. Theoretisch erlernte Theorien und Konzepte können an konkreten und authentischen Situationen veranschaulicht werden, wodurch eine Verknüpfung von Theorie und Praxis angestrebt wird (vgl. Gold, Hellermann, Holodynski 2017). Die unterschiedlichen Anwendungsbereiche von Unterrichtsvideos in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung können nach Kurt Reusser (2005) in drei Typen gegliedert werden:
Videobasiertes Lernen am Modell: Videos ermöglichen es, Aspekte des Unterrichts anschaulich zu zeigen, zu illustrieren und zu konkretisieren. Die Aufmerksamkeit kann gezielt auf bestimmte Bereiche des Unterrichts gelenkt werden, wichtige Anhaltspunkte können betont und hervorgehoben werden. Verwendet werden hierzu Aufnahmen von beispielhaftem, innovativem und gelingendem Unterricht. Die Arbeit mit den Videos soll dazu anregen, Unterrichtshandlungen nachzuahmen und das eigene Unterrichtsrepertoire sowie die eigenen Unterrichtskompetenzen zu erweitern.
Problemorientierte und fallbasierte Analyse von Unterrichtsvideos: Die Auseinandersetzung mit problemorientiert ausgewählten Videosequenzen hat zum Ziel, explorierend-forschend und theoriebasiert über Grundprobleme des Unterrichtens nachzudenken. Gearbeitet wird dabei mit komplexem, nicht perfektem alltäglichem Unterricht unter variablen Perspektiven und Bearbeitungsgesichtspunkten.
Videogestützte Unterrichtsreflexion und Feedback: Vorzugsweise werden bei der videogestützten Unterrichtsreflexion eigene videografierte Unterrichtssequenzen verwendet. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Unterricht zielt auf die bewusste Wahrnehmung (Selbstkonfrontation) und Vergegenwärtigung des eigenen Unterrichtshandelns aus einer Außenperspektive. Die reflexive Videoarbeit kann von der Lehrkraft selbstständig, in Unterrichtsnachbesprechungen am Praxisort oder in der Diskussion von Videodokumenten eigener Praxiseinsätze mit Dozierenden stattfinden. Darüber hinaus kann sie für Peer-Feedback in Lerntandems und kollegialen Praxiszirkeln genutzt werden.
Die ersten beiden Anwendungsbereiche zielen hauptsächlich auf die Förderung des Professionswissens und von situierten Kompetenzen, der letztgenannte Anwendungstyp zielt explizit auf die reflexive Auseinandersetzung mit dem (eigenen) Unterricht. Die Ausführungen in diesem Beitrag sind demgemäß insbesondere dem letzten Anwendungstyp «Videogestützte Unterrichtsreflexion und Feedback» zuzuordnen.
3.1Potenzial von Unterrichtsvideos
Im Rahmen von Unterrichtshospitationen wird die Beobachtung von Unterricht im Schulzimmer seit Jahren erfolgreich umgesetzt. Die Beschäftigung mit videografiertem Unterricht kann ergänzend dazu stattfinden und sowohl in der berufspraktischen als auch in theoretischen Ausbildungselementen genutzt werden. Im Vergleich zur direkten Beobachtung hat die medial unterstützte Beobachtung einige Vorteile.
Eine Lehrperson befindet sich beim Unterrichten in einem komplexen Umfeld und ist stetig unter Handlungsdruck. Es ist dadurch nicht möglich, alle Aktivitäten des Unterrichts bewusst wahrzunehmen und zu beobachten. Bei Unterrichtshospitationen ist die Perspektive der unterrichtenden Person und diejenige der den Unterricht beobachtenden Personen unterschiedlich und die Beobachtungen sind auch für die hospitierende Person flüchtig. Die Beobachtungen können durch die je differente Perspektive gefärbt sein und Aussagen können nur indirekt situiert werden. Eine auf diese Beobachtung folgende Unterrichtsreflexion kann dadurch erschwert sein.
Unterrichtsaufnahmen bieten deshalb aus verschiedenen Gründen Vorzüge (siehe Abbildung 1). Sie ermöglichen die wiederholte Beobachtung und Analyse von unterschiedlichen Aspekten der Unterrichtsgestaltung. Alle Personen beobachten den Unterricht aus der gleichen Perspektive und sind dadurch «gleichgestellte» Gesprächspartner. Flüchtige Praxissituationen können unmittelbar aber auch zeitlich oder örtlich versetzt betrachtet werden, Pausen oder Kommentare können die Bearbeitung strukturieren. Der Unterricht ist aus verschiedenen fachlich-fachdidaktischen Perspektiven sowie mithilfe von unterschiedlichen Fragestellungen beobachtbar. Es ist möglich, Unterrichtsprozesse isoliert zu betrachten und die Komplexität von Unterricht damit fassbar und bearbeitbar zu machen. Verbales und nonverbales Verhalten wird im jeweiligen Kontext sichtbar (Reusser 2005).

Abbildung 1 Vor- und Nachteile der direkten und medial unterstützten Unterrichtsbeobachtung (in Anlehnung an Dalehefte, Kobarg 2013, S. 8)
Unterrichtsaufnahmen konnten früher nur mit großem Aufwand erstellt werden. Aufnahmegeräte waren teuer, dadurch schwer zugänglich, und die technische Verarbeitung des Datenmaterials aufwendig und teilweise nur mit gutem technischem Know-how und leistungsfähigen Geräten überhaupt möglich. Dank des technischen Fortschritts sind Unterrichtsvideos heute vergleichsweise einfach herzustellen und können auch mit alltäglichen Geräten wie dem eigenen Handy, Tablet oder einer Actioncam aufgenommen werden. Je nach Ausstattung des Aufnahmegerätes, Platzierung der Kamera im Raum bzw. Auswahl des Blickwinkels kann die Qualität des Videos eingeschränkt sein. Es ist empfehlenswert, sich vor der ersten Aufnahme gut mit den technischen Voraussetzungen des Geräts vertraut zu machen und das Aufnahmegerät je nach Anwendungsziel auszuwählen. Für eine kurze Aufnahme einer Unterrichtssequenz kann durchaus ein Handy oder Tablet verwendet werden, für längere Videoaufnahmen, die einer differenzierteren Beobachtung und Reflexion dienen sollen, ist eine Videokamera sicherlich zu bevorzugen. Zu beachten ist, dass für alle Aufnahmen das Einverständnis der Schülerinnen und Schüler, deren Erziehungsberechtigten sowie allenfalls von Verantwortlichen der Schule oder Schulbehörde eingeholt werden muss. Für Aufnahmen, die ausschließlich zur eigenen Verwendung und im Rahmen von Aus- oder Weiterbildungssettings genutzt werden, werden solche Anfragen zumeist mit Nachsicht behandelt.
Aus den Ausführungen wird ersichtlich, dass Unterrichtsvideos für das Beobachten und Reflektieren von Unterricht sehr wertvoll sein können. Die Bildungswissenschaften haben sich deshalb verstärkt damit beschäftigt, welche spezifischen Anforderungen und Kompetenzen die Arbeit mit Unterrichtsvideos erfordert und inwiefern sie am besten unterstützt werden kann.
3.2Bewusst mit der Subjektivität der eigenen Wahrnehmung umgehen
Unterricht wird durch das Handeln und Kommunizieren von am Unterricht beteiligten Personen bestimmt. Die Lehrperson, die Schülerinnen und Schüler sowie die Interaktion zwischen diesen Personen sind hauptverantwortlich für das Unterrichtsgeschehen. Die Beobachtung von (videografiertem) Unterricht ist deshalb durch die Wahrnehmung dieser Personen geprägt und je nachdem, in welcher Rolle Unterricht betrachtet wird, handelt es sich um eine Fremd- oder Selbstwahrnehmung. Dabei besteht die Gefahr, dass die Beobachtung durch die subjektive Wahrnehmung beeinflusst wird. Es sind dadurch Verfälschungen möglich, die sich ungünstig auf die Bearbeitung und Beurteilung auswirken.
Verzerrungen in der Fremdwahrnehmung entstehen, weil man sich nur sehr schwer von der zu beurteilenden Person bzw. dem zu beurteilenden Sachverhalt isolieren kann (vgl. Stracke 2015). In der Sozialpsychologie wurden solche Phänomene genauer untersucht und beschrieben (vgl. Stracke 2015; Krammer, Reusser 2005):
Primacy-Recency-Effekt: Für die Beurteilung wird nicht nur der Inhalt einer Information bestimmend, sondern auch die Reihenfolge, in der sie wahrgenommen wird. Der Primacy-Effekt bedeutet, dass der erste Eindruck am höchsten bewertet wird und die weiteren Beobachtungen prägt. Beim Recency-Effekt bleibt der zuletzt erhaltene Eindruck am längsten und stärksten haften.
Halo-Effekt: Halo (griech.) bezeichnet den sichtbaren Hof (Lichtring) um Sonne oder Mond. Beim Halo-Effekt bekommt eine einzelne Beobachtung ein so starkes Gewicht, dass sie alle anderen Beobachtungen – positiv oder negativ – beeinflusst.
Stereotypen-Effekt: Bei der Stereotypisierung werden Vorurteile gegenüber gewissen Menschengruppen (Schicht, Geschlecht, Ethnie usw.) auf die beobachtete Person übertragen.
Projektion: Einer zu beobachtenden Person werden eigene Mängel oder Bedürfnisse zugeschrieben – sie werden auf die andere Person projiziert.
Bei der Beobachtung des eigenen videografierten Unterrichts und damit der Wahrnehmung der eigenen Person sind ähnliche Prozesse aktiv. In der sozialpsychologischen Forschung geht man davon aus, dass die Selbstwahrnehmung einen Spezialfall der Personenwahrnehmung darstellt. Die Einschätzung der eigenen Persönlichkeit und der persönlichen Fähigkeiten hängt von der Situation ab, in der die Einschätzung der Person verlangt wird, und wird durch das selbstbezogene Wissen bestimmt. Zur Konstruktion des Selbst ziehen Menschen Informationen aus unterschiedlichen Quellen heran und die Verarbeitung dieser Informationen wird durch motivationale Prozesse und Informationsverarbeitungsprozesse beeinflusst (vgl. Lamy 2015). Die meisten Personen neigen dazu, sich entweder zu über- oder zu unterschätzen, wobei verschiedene Studien von einer generellen Tendenz zur Überschätzung der eigenen Fähigkeiten berichten (vgl. Braun 2003). Die Auseinandersetzung mit eigenen Unterrichtsvideos bietet eine gute Möglichkeit, sich mit dem professionellen Selbst zu beschäftigen und eigenständig oder im Austausch mit anderen die Selbstwahrnehmung zu entwickeln.
Ein wichtiges Element einer Reflexion ist, Handlungen und Aktivitäten adäquat beurteilen zu können (siehe Abschnitt 2.2). Sowohl für die Fremd- als auch für die Selbstwahrnehmung ist es deshalb wichtig, sich der Subjektivität der eigenen Wahrnehmung bewusst zu sein und sich damit in Aus- und Weiterbildungssettings konkret auseinanderzusetzen.
3.3Unterricht kompetent beobachten und bearbeiten
Seit einigen Jahren werden die Prozesse, die beim Beobachten und Bearbeiten von videografiertem Unterricht ablaufen, sowie die dafür notwendigen Kompetenzen genauer untersucht. In der neueren Literatur wurde hierfür der Begriff «Professional Vision» (professionelle Wahrnehmung) eingeführt. Das Konzept «Professional Vision» geht auf Charles Goodwin (1994) zurück und bezeichnet die Fähigkeit von Lehrpersonen, die zentralen Aspekte des Unterrichts wahrzunehmen, zu analysieren und zu interpretieren. Die professionelle Wahrnehmung besteht hauptsächlich aus zwei Teilprozessen:
(1) Wahrnehmen («noticing»): Während des Unterrichts laufen viele Ereignisse parallel ab. Einer Lehrperson ist es deshalb nicht möglich, jeden Aspekt mit gleich hoher Aufmerksamkeit zu fokussieren. Um wichtige von unwichtigen Merkmalen zu unterscheiden ist eine selektive Wahrnehmung notwendig. Die Wahrnehmung von Unterricht bezeichnet die Fähigkeit, Situationen und Ereignisse im Unterricht zu identifizieren, die aus professioneller Sicht entscheidend für den Erfolg des Unterrichts sind (vgl. Barth 2017). Die professionellen Wissensstrukturen einer Lehrperson unterstützen diesen Prozess (vgl. Seidel, Thiel 2017).
(2) Erörtern («knowledge-based reasoning»): Die Bearbeitung von Unterrichtsbeobachtungen beinhaltet unterschiedliche Bereiche. Diese umfassen das Beschreiben, Erklären und Beurteilen der Unterrichtssequenzen sowie das Vorhersagen der Auswirkungen des beobachteten Unterrichts auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler oder des weiteren Verlaufs des Unterrichts. Das Beschreiben erfordert die Fähigkeit, zentrale Unterrichtsereignisse zu erkennen und diese adäquat darstellen zu können. Für das Erklären und Beurteilen muss eine Unterrichtsbeobachtung auf der Grundlage professionellen Wissens richtig eingeordnet und theoretisches Wissen in Bezug auf Qualitätskriterien effektiven Unterrichts auf die Praxissituation angewendet werden. Für das Vorhersagen von Lernprozessen der Schülerinnen und Schüler oder von Unterrichtsverläufen ist ein breites allgemein pädagogisches Wissen notwendig, das wiederum auf die beobachtete Unterrichtssequenz angewendet werden muss (vgl. Michalsky 2014).
Die beiden Teilprozesse Wahrnehmen und Erörtern sind nicht losgelöst voneinander, sondern interagieren dynamisch miteinander. Je nachdem, welche Unterrichtsaktivitäten wahrgenommen werden, wird die Bearbeitung der Beobachtungen entsprechend anders ausfallen. Auch das professionelle Wissen (Fachwissen, fachdidaktisches und allgemein pädagogisches Wissen), die Erfahrung und Erwartungen einer Lehrperson haben Einfluss auf die Prozesse (vgl. Sherin, van Es 2009).

Abbildung 2 Professionelle Wahrnehmung von Unterricht
Die Ausführungen machen deutlich, dass die professionelle Wahrnehmung nicht einfach als vorhanden angenommen werden kann, sondern eine Fähigkeit ist, die gelernt und entwickelt werden muss (vgl. Stürmer u.a. 2013). Bisherige Studien konnten beispielsweise zeigen, dass angehende Lehrpersonen Mühe bekunden, zentrale Aspekte des Unterrichts zu erkennen. Beschreibungen von Unterrichtsgeschehnissen waren sprachlich beschränkt und naiv und die Lehrpersonen taten sich schwer damit, Erklärungen und Vorhersagen für deren Auswirkungen zu formulieren. Ähnliche Erkenntnisse zeigten sich in einer Studie mit Lehrpersonen, die sich in einem Fortbildungssetting mit Unterrichtsvideos beschäftigten. Sie äußerten sich vorerst sehr allgemein zum Verhalten der ganzen Klasse und machten lediglich vage und generelle Beurteilungen und Erklärungen der Unterrichtsgeschehnisse. Durch die angeleitete und regelmäßige Arbeit mit den Unterrichtsaufnahmen über eine längere Zeit wurden die Beobachtungen allerdings immer spezifischer. Die Aussagen bezogen sich vermehrt auf einzelne Schülerinnen und Schüler und wurden auf der persönlichen Wissensgrundlage interpretiert und begründet (vgl. van Es, Sherin 2010).
Viele Bildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gehen heute davon aus, dass die professionelle Wahrnehmung eine Kernkomponente professionellen Lehrerinnen- und Lehrerhandelns darstellt. Die Fähigkeit, zentrale Aspekte des Unterrichts zu erkennen, sie adäquat zu interpretieren und zu klären, ist bedeutsam für die Gestaltung qualitativ guten Unterrichts. Es wird deshalb als wichtig erachtet, dass sich (angehende) Lehrpersonen diese Fähigkeit in der Aus- und Weiterbildung aneignen und sie fortlaufend entwickeln können (vgl. van Es, Sherin 2006).
3.4Reflexion von Unterrichtsvideos unterstützen
Wie aus den vorangehenden Ausführungen erkennbar wird, birgt die Beobachtung, Analyse bzw. Reflexion von videografiertem Unterricht einige Herausforderungen. Unterrichtsvideos sind vielschichtig und bieten eine hohe Informationsdichte. Es eröffnen sich dadurch vertiefte Analysemöglichkeiten. Gleichzeitig besteht jedoch auch die Gefahr, sich in der Komplexität zu verlieren oder auf der Oberfläche des Unterrichts verhaften zu bleiben. Für die (eigenständige) Bearbeitung der Aufnahmen braucht es deshalb Richtlinien und Hilfestellungen, die zeigen, wie und unter welchen Kriterien die Videos betrachtet werden können (vgl. So 2012; Brouwer, Fokelien 2013; Santagata 2009). In bisherigen Arbeiten hat sich hierzu ein vierschrittiges Verfahren bewährt (siehe Abbildung 3).
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