Читать книгу: «Wie zerplatzte Seifenblasen ...», страница 2
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Cagney
Mai
„Ich hätte gerne eine Pizza Peperoni.“ Durch das Fenster des Straßenverkaufsstandes starrte mich ein pubertierendes Mädchen an, dessen Gesicht ausschließlich aus Pickeln in verschiedenen Reifestadien zu bestehen schien. Ich starrte zurück und war beeindruckt von einem besonders großen, gelben Pickel, der sich direkt auf ihrer Nase befand. Es dauerte eine Weile, bis sie mir einen zerknitterten Fünfer entgegenstreckte und wiederholte: „Pizza Peperoni.“
Ich nahm den Geldschein entgegen und wollte ihn schon in das passende Fach der Kasse einsortieren, als mir auffiel, dass wir keine Pizza Peperoni verkauften. „Eh.“ Ich wollte ihr den Schein zurückgeben. „Peperoni gibt’s nicht.“
Allerdings machte das Mädchen keine Anstalten, das blöde Geld zurückzunehmen, ganz im Gegenteil: Trotzig hob sie ihr verpickeltes Kinn. „Warum nicht?“
„Keine Ahnung, vielleicht, weil Peperoni eklig ist?“, antwortete ich genervt. Eigentlich wollte ich sie nicht mehr anschauen, aber ihre Pickel hypnotisierten mich irgendwie.
Mit dem Zeigefinger tippte sie an die Außenfassade. „Da steht aber, dass Pizza Peperoni neu im Sortiment ist.“
Da fiel es mir wieder ein. Sie hatte recht – und das, obwohl sie eklig und hässlich war. Was sollte ich dazu sagen? Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn, schätzte ich. „Sorry, du hast recht.“
„Ich weiß, dass ich recht habe. Und weißt du was? Deinen Service fand ich ziemlich scheiße.“
„Wenn dir hier der Service nicht passt, warum bewegst du deinen Arsch dann nicht in ein schickes Restaurant und lässt dir dein Pickelgesicht da bedienen?“, giftete ich sie an.
Nach meiner letzten Aussage klappte ihr empört der Mund auf, es dauerte einen Moment, bis sie wieder fähig war, ihn zu schließen. Das freute mich. Ich mochte keine verwöhnten, reichen Mädchen, die grundsätzlich alles in den Arsch geschoben bekamen, ohne zu arbeiten.
„Weißt du nicht, wer ich bin?“ Sie machte einen weiteren Schritt auf mich zu und mittlerweile sah sie so wütend aus, dass ich froh war, dass ich für den Straßenverkauf arbeitete und mir niemand zu nah auf die Pelle rücken konnte, weil es ein Fenster zwischen mir und den Kunden gab.
„Klar weiß ich, wer du bist. Grace Kelly. Hab’ dich sofort erkannt.“
Sie stützte von außen die Ellenbogen auf die Verkaufsfläche und senkte ihre Stimme zu einem bedrohlichen Flüstern. Neben dem Geruch nach erkaltetem Fett roch ich nun den angenehmeren Geruch ihres Parfüms. „Weißt du überhaupt, für wen du arbeitest?“ Je näher sie mir kam, desto flächendeckender sahen die Pickel in ihrem Gesicht aus.
„Jetzt komm ich nicht mehr ganz mit, Quasimodo.“
„Mein Onkel schmeißt den Laden und bezahlt Vollidioten wie dich. Aber ich glaube nicht, dass du noch Geld von ihm kassieren kannst, wenn er erfährt, wie du deine Kunden behandelst.“ Mit diesen Worten und einem letzten empörten Schnauben kehrte sie mir den Rücken und rauschte davon.
Vor lauter Aufregung vergaß das Pickelgesicht sogar, dass sie die Pizza Peperoni schon bezahlt hatte.
*
Ben
Mai
Ich hatte so viel Zeit allein verbracht, dass es komisch war, Lina plötzlich bei mir zu haben. Lange, einsame Nächte mit keiner anderen Gesellschaft als meiner verbeulten Gitarre, frühe Morgenstunden mit kalten Füßen – wir Menschen sind stärker, als wir denken, wir können uns an alles gewöhnen, wenn wir den Zustand nur lang genug ertragen müssen. Wenn wir erkannt haben, dass es ohnehin kein Entkommen gibt. Auf dem schmalen Fußweg plapperte Lina vor sich hin, ich war mir sicher, dass es nur belangloses Zeug war, aber ich hätte ohnehin keine Kraft gehabt, ihr zuzuhören.
Es dauerte nicht lange, bis auch Lina das erkannte. „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“, fragte sie und stemmte die Hände in die Hüften. Sie war schmal gebaut, wenn sie allerdings die Hände so in die Hüften stemmte, war der Fußweg zu schmal für uns beide. Und natürlich hatte ich ihr nicht zugehört.
„Oh“, sagte ich gleichgültig. Lina runzelte ihre Stirn, konnte sich dann jedoch dazu durchringen, normal weiterzulaufen. „Ich bin ein ziemlicher Morgenmuffel, weißt du?“, log ich und bemühte mich, ihren schmalen Ellenbogen beim Laufen nicht mit meinem zu berühren. Ich hasste Körperkontakt.
„Das würde ich verstehen, wenn du geschlafen hättest. Aber wir waren die ganze Nacht wach, deshalb macht es absolut keinen Sinn, was du da sagst“, meinte sie.
Schon da war der Punkt erreicht, an dem sie mir auf die Nerven ging. Und das, obwohl ich sie zuvor konstant ignoriert hatte. Ich knurrte, bevor ich ihr antwortete: „Sag’ mir bitte nicht, was Sinn macht und was nicht. Deine Einstellung über Möwen hat mir nämlich schon gezeigt, dass du absolut keine Ahnung hast. Nicht über das Leben, aber noch weniger über die Sinnhaftigkeit unseres Lebens. Also: Sei bitte einfach ruhig.“ Ich suchte ihren Blick, aber sie starrte wütend auf die Pflastersteine. Als sie nichts erwiderte, seufzte ich zufrieden. „Danke.“
Es dauerte nur wenige Sekunden, und eigentlich war es mir klar gewesen, dass Lina das letzte Wort haben musste. Frauen. „Ben, du bist ein richtiger Kotzbrocken.“
Nachdem wir uns ein billiges Hostel genommen hatten, in dem wir die heruntergekommenen Zimmer nebeneinander bezogen, hatte ich keinen sehnlicheren Wunsch, als zu schlafen. Die Einrichtung war minimalistisch, auf unserer Etage gab es nur Gemeinschaftswaschräume, die Teppiche waren verdreckt und es roch nicht gerade appetitanregend. Ich war allerdings so übermüdet, dass mich solche Kleinigkeiten nicht störten. Außerdem war ich froh über die billigen Preise. Ich war so unglaublich gerädert, so müde. Ich spürte diese Müdigkeit in jeder einzelnen Zelle, und ich konnte nur noch die Kraft aufbringen, mir die schmutzigen, nassen Schuhe von den Füßen zu streifen, bevor ich zum Bett krabbelte, mich auf dem weißen Laken zusammenrollte und einschlief.
Mein Schlaf war traumlos und endete abrupt durch ein Klopfen an der Zimmertür. Sogar in diesem komischen Dämmerzustand zwischen Traumwelt und realer Welt wusste ich sofort, wer vor der Tür stand. Es musste Lina sein.
„Gut geschlafen, Partner?“, hörte ich ihre zaghafte Stimme auf der anderen Seite der Tür.
Ich stöhnte erschöpft. Wann würde sie es endlich kapieren? „Wir sind keine Partner!“, rief ich und machte keine Anstalten, ihr die Tür zu öffnen. Ich würde einfach hier im Bett bleiben, und es war mir total egal, wenn es hier Wanzen oder Kellerasseln gab. Hier war es warm und gemütlich – und ich war ohnehin Schlimmeres gewohnt. Ich war es gewohnt, gar kein Bett zu haben. Ich streckte die Arme über dem Kopf aus, um mich zu dehnen. Von der Nacht am Bahnhof tat mir jeder einzelne Knochen weh.
„Kannst du mich vielleicht wenigstens reinlassen?“, fragte Lina. Nun klang sie weniger enthusiastisch, wollte ihre Mission aber nicht erfolglos aufgeben. Was auch immer das für eine Mission war.
Stöhnend schlug ich die Bettdecke zurück und blinzelte in die späte Nachmittagssonne, die golden durch die Vorhänge schimmerte. Sobald Lina hörte, dass ich aufgestanden war, öffnete sie die Tür selbst. Dann stand sie vor mir, ihr Blick war trotzig, aber ihre Körpergröße machte es ihr unmöglich, bedrohlich auszusehen. Sie marschierte an mir vorbei in mein Zimmer und fragte: „Was tun wir jetzt? Ich hätte mir gerne angeschaut, in welcher Stadt wir hier gelandet sind. Oder etwas Essbares besorgt.“
Sie machte einen Schmollmund und ich wollte sie verspotten, wollte ihr sagen, dass sie mit diesem Gesichtsausdruck aussah wie ein beleidigtes Kleinkind. Dann fiel mir allerdings auf, dass sie eigentlich ziemlich süß aussah, wenn sie den Mund so verzog. Und plötzlich dachte ich mir: „Was soll’s. Wir sind gestern in denselben Zug gestiegen und beide bis zur Endstation durchgefahren.“ Offensichtlich wusste sie genauso wenig, wohin sie gehen sollte, war vermutlich irgendwo gestrandet. Auch in ihrem Leben musste es etwas geben, was sie zum Weglaufen gebracht hatte. „Okay, dann lass’ uns etwas Essbares besorgen“, sagte ich und verblüffte mich damit selbst.
Wir liefen nebeneinander die Straße entlang und stoppten bei der ersten Möglichkeit, etwas Essbares in die Mägen zu bekommen. Dass ich fast verhungert war, fiel mir erst auf, als ich meine Pizza Margherita bereits in den Händen hielt und glücklich von ihr abbiss. Für mich war in diesem Moment alles beinahe perfekt. Denn irgendwann musste man lernen, kleine Dinge zu schätzen. Für mich war es schön, dass die Sonne nach dem nächtlichen Regen wieder am Himmel zu sehen war, dass ich kurzzeitig die Augen schließen konnte, um das Gefühl zu haben, die Wärme in mich aufsaugen zu können. Ich grinste über die schiefen Töne, die die Straßenmusiker produzierten, die fettig schmeckende Pizza und sogar über die Tauben, die auch Hunger auf Pizza hatten und uns auf Schritt und Tritt verfolgten. Lina schien die Pizza nicht zu schmecken. Während ich meine Pizza hungrig bis auf den letzten Krümel verschlang, sah ich auf Linas Pappteller die Ränder, die sie sorgfältig abgetrennt und zu einem Haufen aufgetürmt hatte.
Lina seufzte, als sie meinen Blick auffing. „Ich hasse Ränder“, erklärte sie. „Nicht nur bei Pizzen. Auch bei Brot.“
Diese Aussage war so idiotisch, dass ich einfach nicht anders konnte. Ich brach in schalendes Gelächter aus. Für Lina tat es mir leid, aber das erste Mal, dass sie mich lachen hörte, da lachte ich sie aus. „Was bist du? Eine Oma?“, fragte ich, während ich darum rang, meine Fassung wiederzugewinnen.
Lina streckte mir die Zunge heraus. „Du kannst die Ränder essen, wenn du möchtest“, schlug sie mir vor. Dann streckte sie mir den Pappteller mit den aufgetürmten Pizzarändern entgegen, aber ich schüttelte heftig den Kopf und schob ihre Hand weg.
„Ich bin nicht dein Müllschlucker.“ Wir verfütterten die Reste an die Tauben, die sich sehr über die milde Gabe freuten und uns aufgeregt umkreisten.
„Tauben sind die Ratten der Lüfte. Widerlich. Ich hasse Tauben“, setzte Lina mich schaudernd in Kenntnis.
„Dann benimm dich“, grinste ich. „Sonst wirst du irgendwann als Taube wiedergeboren.“
Die Zeit nicht allein verbringen zu müssen, war ungewohnt. Zu zweit schienen die Zeiger der Uhren schneller zu ticken, die Stunden schneller zu verfliegen. Obwohl Lina nichts Besonderes war und ich mich eigentlich nicht für sie interessierte, tat mir ihre Gesellschaft gut. Manchmal musste ich lachen, wenn ich sie beobachtete. Sie gab mir ein Gefühl von Normalität, weil sie sich über Belanglosigkeiten wie angetrocknete Pizzaränder und Taubengurren erbosen konnte – und dieses Gefühl von Normalität tat mir gut. Warum sie weiter bei mir bleiben wollte? Das Leben kannte sie vermutlich nur aus ihrer ehemaligen, beschützten Kleinstadtperspektive. Sie hatte Angst, alleine zu sein. Ich hatte keine Angst, alleine zu sein, war lange genug einsam gewesen, um mich an den Zustand gewöhnen zu können. Aber ich wollte das Gefühl nicht verlieren, dass sie mir übermittelte: Dass das Schlimmste, was passieren konnte, der Kontakt mit den Tauben auf den Dächern war.
Nachdem Lina und ich ins Hostel gelaufen waren, ging ich unbemerkt wieder zurück. Ich hatte kein Geld. Wenn andere Menschen sagten, sie hätten kein Geld, dann reichte es bestimmt noch zwei Wochen. Weil jeder eigentlich Notfallrationen bereitliegen haben sollte. Ich nicht. Wenn ich sagte, dass ich blank war, dann war ich das auch. Richtig pleite. Wer kann sich schon wirklich vorstellen, wie es ist, Existenzängste zu haben? An den Boden der Tatsachen geworfen zu werden? Man musste grundsätzlich mit dem Schlimmsten rechnen. Mir war klar, dass ich einen Job brauchte, wenn ich im Hostel bleiben und mein Essen bezahlen wollte. Dergleichen hatte ich schon länger nicht mehr gehabt, weil es für mich irgendwann keine Rolle mehr gespielt hatte, wo ich übernachtete. Ich hatte niemanden mehr, der sich um mich kümmern oder mich unterstützen konnte. Aber das musste Lina ja nicht wissen.
Am selben Tag begann ich also damit, Arbeit zu suchen. So lernte ich Cagney kennen, denn wenige Minuten später fand ich mich vor dem Straßenverkauf wieder, an dem Lina und ich unsere Pizzen gekauft hatten. Hinter dem Glasfenster, durch das die Mahlzeiten herausgereicht wurden, stand ein Mann in meinem Alter. Er war damit beschäftigt, die Plastikfolie von verschiedenen Tiefkühlpizzen abzuziehen. Seine braun gebrannten Arme waren muskulös, die Locken schwarz und verschwitzt. Er sah italienisch aus. „Hey“, rief ich, nachdem ich an die Scheibe geklopft hatte.
Er sah auf und wollte mich mit einem Nicken dazu auffordern, zu bestellen. Ich schüttelte den Kopf. „Was ist los?“, fragte er genervt, ohne damit aufzuhören, die Folien der Tiefkühlwaren zu zerschneiden.
„Braucht ihr zufällig jemanden hier?“, fragte ich ihn. „Eine Aushilfskraft?“
Er kam näher und verzog das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. „Junge, sieht der Scheißladen für dich vielleicht so beliebt aus, dass ich Verstärkung bei meiner Schicht bräuchte?“
„Nein.“ Ich legte den Kopf schief. „Aber vielleicht könnte ich eine andere Schicht übernehmen.“
Er winkte mich rein. Als ich in den kleinen Innenraum eintrat, mussten sich meine Augen erst an das gedimmte Licht gewöhnen, dass dort herrschte. Es roch nach verbranntem Käse und Schweiß. Der Mann kam auf mich zu und wischte sich die Hände an der Schürze ab, auf der in Regenbogenfarben Luigi’s Pizza-Imbiss stand. Dann hielt er mir seine Rechte hin. „Cagney“, stellte er sich vor, als ich seine Pranke schüttelte. Ich starrte auf seine Schürze und er folgte meinem Blick. „Ich weiß, es ist lächerlich. Mein Boss heißt nicht mal Luigi, er tut nur so. Wirklich. Er tut so. Es ist komplett bescheuert.“ Cagney schüttelte den Kopf und stöhnte. „Gestern hat mich seine Cousine bei ihm angeschwärzt, weil ich sie beleidigt habe. Weil sie hässlich ist.“ Als ihm auffiel, dass seine riesige Hand noch immer meine schüttelte, ließ er sie hastig fallen. „Na ja, auf jeden Fall werde ich nicht gefeuert. Und willst du wissen, warum?“ Er sprach schnell und ich konnte ihm kaum folgen. Ich sah ihn fragend an und sein Grinsen wurde noch breiter. „Weil ich italienisch aussehe. Kannst du dir das vorstellen?“
Ich stimmte kopfschüttelnd in sein Gelächter ein, denn diese Geschichte war wirklich köstlich. Als wir uns beide wieder eingekriegt hatten, versprach Cagney: „Ich kann mal fragen, ob jemand gebraucht wird. Nur als Vorwarnung: Du wirst jeden Tag stinken und in Depressionen verfallen.“ Cagney hinterließ seinem Boss eine Notiz und bot mir dann eine Zigarette an. Er führte mich um den Imbiss herum in einen kleinen Hinterhof, in dem sich hauptsächlich riesige Mülltonnen aneinanderreihten. Das Kopfsteinpflaster war verdreckt und aus den Mülltonnen strömte ein widerlicher Geruch nach Fäulnis. „Die Hochphase des Gestanks ist in den Sommermonaten. Du kannst dich also noch glücklich schätzen“, erklärte er mir trocken. Er ließ sich auf der kleinen Treppe neben den Mülltonnen nieder und klopfte neben sich auf das Pflaster. Ich setzte mich zu ihm und ließ mir die Zigarette von ihm anzünden. „Was hast du erlebt, dass du so verzweifelt auf der Suche nach einem Job bist?“, fragte Cagney. Er schnipste die Asche von seiner Zigarette.
Mein Blick folgte den feinen, schwarzen Partikeln, als sie durch die Luft flogen und vor uns auf dem verschmutzten Boden landeten. „Nichts. Ist es falsch, auf der Suche nach einem Job zu sein?“, fragte ich.
Cagney sah mich argwöhnisch an. „Nein“, entgegnete er, schloss genüsslich die Augen und zog an der Kippe. „Nein. Aber ich kenne die Menschen. Glaub mir. Ich schätze dich … Warte, lass mich nachdenken.“ Er begann, mich von der Seite zu beäugen, als könnte er durch die Betrachtung meines Profils meine Lebensgeschichte in sich aufsaugen. „Ich schätze dich auf 20, vielleicht 21. Mit 21 ist man nicht an dem tragischen Punkt im Leben, an dem man sich um einen Job bei einem stinkenden Fast Food-Restaurant bemüht. Da hat man noch Feuer. Man hat Hoffnungen. Träume.“
Ich schluckte und entschloss mich dazu, seine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. „Wo sind deine Hoffnungen und Träume, wenn ich fragen darf?“
Cagney zuckte mit seinen breiten Schultern und bemühte sich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck. „Für mich hat es sich ausgeträumt.“
*
Cagney
Mai
„Du stinkst nach Pizza, verdammt.“
Max war es schon immer sehr wichtig gewesen, brutal und böse auszusehen. „Sonst hat man keine Chance in dieser Branche und geht unter“, sagte er ständig.
„Pizza stinkt nicht“, antwortete ich unbeeindruckt. „Es ist Pizza.“
„Mag sein, dann stinkst du nach was anderem. Wie viel brauchst du?“ Max hatte ein neues Tattoo, es war so frisch, dass das Pflaster noch darauf klebte. Er hatte sich einen monströsen Schlangenkopf auf den Oberarm tätowieren lassen, das erkannte ich trotz des großen Pflasters. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, sah er tatsächlich ein bisschen furchteinflößender aus. Aber das konnte auch an den Drogen liegen.
„Zwei Gramm sollten reichen.“
Max sah sich um, bevor er mir das Tütchen gab. Bei ihm sah es immer aus, als würde er sich nur kurz zur Seite drehen, aber in Wirklichkeit checkte er in diesen zwei Sekunden die ganze Lage auf der Straße. Wie er das machte? Keine Ahnung, jahrelange Übung wahrscheinlich. Ich ließ das Tütchen in meine Jackentasche gleiten. Knisterte schon verheißungsvoll, versprach einen nicht ganz so beschissenen Abend. Wenigstens hatte ich das Gras. Mit einem kurzen Nicken bedankte ich mich bei Max und griff nach den Scheinen, die ich bereitgelegt hatte. Für mich war es das Ende unseres Geschäfts, für Max aber nicht. Es war jedes Mal dasselbe. Deshalb war Max für alle nur Kaiser Max. Er hatte Stoff, er hatte immer alles – und versuchte ständig, einem etwas anzudrehen, was man eigentlich nicht haben wollte.
Auch jetzt berührte er meine Schulter und glotzte mich an. Wie ein Fisch sah er aus, wenn er so dämlich glotzte. Wie ein ziemlich hässlicher Fisch. „Willst du dich mal unbeschwert fühlen? Bock auf Speed? Ecstasy?“ Er nahm die Scheine entgegen.
Ich schüttelte den Kopf. „Vielleicht irgendwann mal.“
„Du meldest dich bei mir, wenn es so weit ist, klar?“
„Klar.“
Kaiser Max huschte davon, ich lief in die entgegengesetzte Richtung. Meine Wohnung war einsam und dunkel, ich fragte mich, ob ich bei meinem nächsten Drogenkauf Speed probieren sollte. Meine Wohnung – einsam, dunkel, eigentlich todtraurig, aber das würde ich niemals zugeben. Ich wusste nicht, was ich wollte, aber wenn ich das sagte, dann redete ich nicht nur von Speed oder Ecstasy. Denn eigentlich war ich mir selbst ein Fremder.
*
Ben
Mai
Cagney war ein komischer Kauz. Wenn er rauchte, hörte er nicht beim Filter auf, sondern sog die Giftstoffe umso genüsslicher durch die Atemwege in die Lunge. Er war kein Italiener, obwohl ihm sein südländisches Aussehen den Job bei Luigi verschafft hatte – den er laut eigenen Angaben am liebsten stündlich hinschmeißen würde. Ständig sprach er davon, dass er selbst Geld verdienen müsste, weil er seine Eltern enttäuscht habe und nicht mehr auf deren Unterstützung zählen könne. Inwiefern er eine Enttäuschung war, wollte er mir nicht verraten.
Wenn unsere Schichten aneinandergrenzten, rauchten wir gemeinsam auf dem stinkenden Hinterhof. Bald entwickelten sich aus den gemeinsamen Raucherpausen zarte Anflüge einer Freundschaft. Und dann kam der Tag, an dem Cagney mir seine Geschichte erzählte. Der Imbiss war schon wie ausgestorben, als ich reinkam, um Cagney abzulösen. Unsere Schichten grenzten dienstags und sonntags aneinander, und Cagney hatte mich schon von Beginn an darüber aufgeklärt, dass die Zahl der Menschen, die das Bedürfnis nach fettiger Tiefkühlpizza á la Luigi hatten, sich grundsätzlich auf ein Minimum beschränkte.
„Ich frag’ mich, wie der Typ Gewinn macht“, lachte Cagney an diesem Dienstagnachmittag, als wir uns auf dem Hinterhof gemeinsam die Frühlingssonne auf die Schädel scheinen ließen. Eine Antwort auf seine Frage hatte ich nicht, weswegen ich nur lachend mit den Schultern zucken konnte. Cagney ließ sich nach hinten auf den Rücken fallen. Ich tat es ihm gleich und ließ den Stein die Haut unter meinem T-Shirt kühlen. Beide starrten wir in den blauen Himmel. Wie Bekloppte.
„Meine Eltern haben mich rausgeschmissen vor zwei Jahren.“
Ich war verblüfft, dass Cagney mir das erzählte. Sein Körper lag in unveränderter Position neben meinem, die Zigarette in seiner Hand brannte herunter, ohne dass er neue Züge nahm. „Ich habe Scheiße gebaut“, fuhr er fort, doch dann schluckte er und schüttelte den Kopf, als wolle er die Gedanken an die Vergangenheit vertreiben. Ich beließ es bei den lückenhaften Informationen, die er mir gab, und drängte ihn nicht dazu, mir mehr zu erzählen. Er war einsam und rastlos, aber waren wir das nicht alle? Konnten wir nicht alle erst mit dem Tod endgültig zur Ruhe kommen?
Klopf, Klopf.
Ich wusste, wer da wieder an meine Zimmertür klopfte, also bewegte ich meine müden Füße in Richtung Tür. Natürlich öffnete Lina sie selbst, sobald sie hörte, dass ich mich im Raum bewegte.
„Okay, ich erklär’ dir jetzt mal was“, begrüßte ich sie seufzend. Von ihren großen, blauen Augen fühlte ich mich immer noch hypnotisiert, wenn ich sie zu lange ansah. Keine Ahnung, was das für ein komisches Gefühl war, das sie in mir auslösten, es war mir fremd. Ich beschloss, ihr von nun an einfach nicht mehr in die Augen zu sehen. „Wenn man klopft, dann wartet man auf eine Antwort. Eine Antwort wie: Komm doch rein, Lina. Verschwinde, Lina. Oder ich öffne die Tür für dich. Aber es macht keinen Sinn, an eine Tür zu klopfen, wenn du anschließend einfach hereinspazierst.“
Der Blick, mit dem Lina mich ansah, war zur Hälfte spöttisch und zur anderen Hälfte amüsiert. „Ich hatte Angst um dich. Hätte schließlich auch sein können, dass du gerade im Sterben liegst. Dann hätte dich niemand gefunden, wenn ich nicht reingeschneit wäre“, scherzte sie. Sie rauschte durch das Zimmer, setzte sich vorsichtig auf die Kante des Bettes und merkte nicht, was ihre Worte in mir auslösten. Denn sie hatte recht. Niemand hätte mich gefunden, weil niemand nach mir gesucht hätte. „Also, was ich dich fragen wollte…“ Sie schluckte. Plötzlich sah sie ganz kleinlaut aus. „Kann ich heute vielleicht bei dir schlafen?“
Wäre ich in einer besseren Verfassung gewesen, dann hätte ich sie mitleidlos sofort rausgeschmissen. Ich hätte nicht mal mit der Wimper gezuckt. Aber sie hatte mich gerade daran erinnert, wie furchtbar mein Leben war. Denn so war es nun einmal, wenn man mutterseelenallein war und keiner mehr da war, an den man sich wenden konnte. Obwohl ich es nie zugegeben hätte, war ich sogar froh darüber, dass sie hier übernachten wollte.
„Ben?“
„Okay, ja. Kannst hier übernachten. Stört mich nicht.“
Lina verließ das Zimmer und kam etwa eine halbe Stunde später wieder im Schlafanzug zurück. Sie sah aus wie ein Kind. Ein Kind mit Albträumen. Ein Kind, das große Angst davor hatte, verletzt zu werden. Allein zu sein.
„Soll ich auf dem Sofa schlafen?“ Unschlüssig sah sie zwischen Bett und Sofa hin und her.
„Wie du willst.“ Ich putzte mir meine Zähne und schlüpfte im Gemeinschaftswaschraum in mein stinkendes Schlaf-T-Shirt. Der Flur war menschenleer und dunkel, der Boden eigentlich viel zu kalt, um barfuß zu laufen. Als ich die Zimmertür wieder aufschob, sah ich, dass Lina sich auf dem Sofa zusammengerollt hatte. Die Knie hatte sie an die Brust gezogen. Ihr Atem ging gleichmäßig, ihr Gesichtsausdruck war friedlich. Ungeschminkt sah sie nicht aus wie ein Kind – sie war ein Kind. Eine Weile stand ich mitten im Zimmer, ohne einen Laut von mir zu geben. Dann begann ich, mich bescheuert zu fühlen. Ich bewegte mich auf meine schlafende Zimmergenossin zu, breitete vorsichtig meine Bettdecke über ihrem Körper aus und bemühte mich dann, sie zu ignorieren. Ich hatte mich ganz sicher nicht einmischen wollen. Ich war derjenige gewesen, der von Beginn an auf seine Privatsphäre bestanden hatte und Lina jede Information über mich, mein Privatleben und meine Vergangenheit vorenthalten hatte.
Dann klingelte das bescheuerte Handy. Und ich war der Blödmann, der begann, sich einzumischen. Ihr Klingelton war ein furchtbarer Song aus den Charts und so laut eingestellt, dass er mich erschreckte und sie aufgeweckt hätte, wenn er weiterhin diese gehaltlosen, schrecklichen Töne produziert hätte. Nachgedacht hatte ich darüber nicht wirklich. Ich drückte den Anruf einfach weg. Als ich das leuchtende 1 verpasster Anruf von Luis auf dem Display aufleuchten sah, da wusste ich, dass ich Mist gebaut hatte. Denn mehr war nicht erforderlich gewesen: Ich hatte mich eingemischt und schämte mich dafür. Deshalb ließ ich Lina weiterschlafen, erzählte ihr auch anschließend nichts von ihrem verpassten Anruf und ließ das Handy in ihre Handtasche zurückgleiten, als sei nichts gewesen. Eigentlich war ich nie der Typ gewesen, der sich einmischte.
Das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen hatte ich, bevor alles passiert war. Seit dem Unfall war ich jede Nacht aufgewacht – schweißgebadet, schreiend oder geräuschlos weinend. Manchmal war mein Albtraum nämlich so real, dass ich nicht einmal aufhören konnte zu weinen, wenn der Traum vorbei war. Und wie gesagt – schwitzen, schreien oder weinen musste ich nächtlich. Aber nicht in dieser Nacht. In dieser Nacht konnte ich durchschlafen.
Zu Mittag essen wollten wir auch am nächsten Tag gemeinsam. Lina trug ihre Converse und ließ jeden zweiten Pflasterstein aus, der ihren Weg kreuzte. Ich beobachtete das kindische Spielchen eine Weile und Lina erwischte mich dabei. „Was guckst du so?“, fragte sie und ihr rechter Fuß berührte einen Pflasterstein, den sie eigentlich hätte überspringen müssen.
„Letztes Mal dachte ich, du bist eine Rentnerin. Wegen deiner Pizza-Ränder-Phobie. Jetzt kommt es mir irgendwie so vor, als würde ich ein Kindergartenkind zum Essen begleiten“, grinste ich.
Sie kniff die Augenbrauen zusammen und machte demonstrativ weiter damit, jeden zweiten Stein auszulassen. „Früher habe ich immer Wetten mit mir selbst abgeschlossen. Wenn du das schaffst, dann hast du eine gute Note im Vokabeltest. Weißt du, was ich meine?“
Ich wusste genau, was sie meinte. „Warum machst du es noch? Welche Wette hast du am Laufen?“
Sie hörte auf, wie ein ausgelassenes Kind über die Straße zu hüpfen. „Keine“, sagte sie dann. Plötzlich war die Freude über ihr Pflastersteinspiel aus ihrem Gesicht verschwunden und sie wurde ernst. „Keine“, wiederholte sie. Wenn Lina und ich uns anschwiegen, war es keine unangenehme Stille. Dadurch, dass wir übereingekommen waren, Abstand zu halten, endeten Gespräche zwischen uns oft mit dieser Art des Schweigens. Nämlich immer dann, wenn einer die Linie übertreten hatte.
Sie saß mir gegenüber an einem wackligen Tisch vor dem Café. Die Beine hatte sie überschlagen, die Haare zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengefasst. Unerlässlich tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte, was ein nervtötendes, hohles Geräusch erzeugte. Als sie sah, dass mich das Geräusch ihrer Nägel auf der Glasplatte aufregte, nahm sie die Hände vom Tisch und legte sie in den Schoß.
„Nervige Angewohnheit“, kommentierte ich.
„Du hast bestimmt auch viele nervige Angewohnheiten“, feuerte sie zurück.
„Du kennst mich nicht.“
„Aber du kennst mich, oder was?“ Sie lachte verächtlich. „Du kommst dir vielleicht toll vor mit deiner bescheuerten Übereinkunft. Ich weiß ganz genau, dass du meinen Anruf weggedrückt hast. Wenn du an mein Handy gehst, um meinen Anruf abzulehnen, dann musst du dich auch nicht beschweren, wenn ich dir Fragen stelle. Die sind zumindest ehrlich und direkt!“ Jetzt war sie sauer. Sie stützte die Ellenbogen auf dem Tisch auf und funkelte mich an.
Ich war zu überrumpelt davon, dass sie von meiner nächtlichen Aktion wusste, als dass ich mir kurzfristig eine schlaue Antwort hätte überlegen können. Die helle, strahlende Farbe ihrer blauen Augen irritierte mich. „Ich hab’s einfach gemacht, ohne darüber nachzudenken. Du wärst sonst aufgewacht. Und du hast …“ Ich brach den Satz ab. „Und du hast so friedlich geschlafen“, hatte ich sagen wollen. Aber dann hätte sie gewusst, dass ich sie im Schlaf beobachtet hatte. Das wäre irgendwie demütigend gewesen.
„Und ich habe ...?“ Sie sah über den Tisch zu mir herüber, aber ich starrte auf meine Serviette.
„Du hast geschlafen.“
„Als ob es dich interessiert hätte, wenn ich aufgewacht wäre – mach dich nicht lächerlich!“
„Es hätte mich interessiert.“
Sie schnaubte. „Wenn du etwas über mich wissen möchtest, dann frag doch einfach.“ Es lag Hoffnung in ihrer Stimme, ganz so, als würde ich wirklich anfangen, zu fragen. Vielleicht wollte sie, dass ich ihr alles erzählte. Aber das konnte ich nicht. Ihre klaren, blauen Augen sahen mich verständnislos an, als ich aufstand und den Stuhl zurückschob.
„Ich habe keinen Hunger mehr“, hörte ich meine Stimme sagen. Dann drehte ich mich auf dem Absatz um und ließ Lina allein am Tisch zurück. Sie blickte mir kopfschüttelnd nach.
„Du bist ein Arschloch“, sagte Cagney begeistert, als ich ihm erzählte, was passiert war.
Ich boxte ihn an die Schulter. „Ich kann mit der komischen Situation einfach nicht umgehen. Ich will sie nicht hier haben. Wegschicken will ich sie aber auch nicht.“
„So ist das mit den Weibern!“ Cagney zog den rechten Mundwinkel zu einem halben Grinsen in die Höhe.
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