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Eine langweilige Geschichte

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Aber dann folgt die Schlaflosigkeit.

IV

Der Sommer kommt heran, und das Leben ändert sich.

Eines schönen Morgens kommt Lisa zu mir in mein Zimmer und sagt in scherzendem Tone:

»Wollen Euer Exzellenz kommen! Es ist alles bereit.«

Man führt meine Exzellenz auf die Straße, läßt sie in eine Droschke steigen und fährt mit ihr davon. Beim Fahren lese ich aus Langerweile die Schilder von rechts nach links. Aus dem Worte traktir2 wird dann Ritkart. Das wäre ein passender Name für eine freiherrliche Familie: Baronesse Ritkart. Weiter geht die Fahrt zwischen Feldern hin an einem Kirchhof vorbei, der aber auf mich gar keinen Eindruck macht, obwohl ich bald auf ihm liegen werde; dann fahre ich durch einen Wald und wieder zwischen Feldern. Alles sehr uninteressant. Nach einer zweistündigen Fahrt wird meine Exzellenz in die untere Etage eines Landhauses geführt und in einem kleinen, sehr freundlichen Zimmerchen mit himmelblauen Tapeten einquartiert.

In der Nacht leide ich wie früher an Schlaflosigkeit; am Morgen aber kann ich lange Zeit nicht recht wach werden, höre auch meine Frau nicht aufstehen, sondern mache, im Bette liegend, ohne zu schlafen, eine Art Dämmerzustand durch, bei dem man nur ein halbes Bewußtsein hat und zwar weiß, daß man nicht schläft, aber doch träumt. Um Mittag stehe ich auf und setze mich gewohnheitsmäßig an meinen Schreibtisch; aber ich arbeite nicht, sondern zerstreue mich durch die Lektüre französischer Bücher in gelben Umschlägen, die mir Katja schickt. Es wäre ja freilich patriotischer, russische Autoren zu lesen; aber offen gestanden, ich verspüre zu diesen keine besondere Neigung. Von zwei bis drei etwas älteren Schriftstellern abgesehen, kommt mir die ganze moderne russische Literatur nicht wie eine wirkliche Literatur, sondern wie ein Zweig einer Hausindustrie vor, die nur dazu da ist, daß man sie fördert, deren Erzeugnisse man aber nur ungern benutzt. Selbst das beste von den materiellen Erzeugnissen der Hausindustrie kann man nicht »gut« nennen und kann es nicht aufrichtig loben, ohne ein »aber« hinzuzufügen; und dasselbe muß ich auch von allen jenen literarischen Neuheiten sagen, die ich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren gelesen habe: nicht eine darunter ist »gut«, und bei keiner geht es ohne ein »aber«. Manche sind verständig und moralisch, aber nicht talentvoll; andere talentvoll und moralisch, aber nicht verständig; wieder andere endlich talentvoll und verständig, aber nicht moralisch.

Ich will nicht sagen, daß die französischen Bücher zugleich talentvoll und verständig und moralisch wären. Auch sie befriedigen mich nicht. Aber sie sind nicht so langweilig wie die russischen, und man findet in ihnen nicht selten das wichtigste Moment schöpferischer Tätigkeit: ein Gefühl der persönlichen Freiheit, das bei den russischen Schriftstellern fehlt. Ich besinne mich auf keine einzige russische Novität, bei der der Verfasser sich nicht gleich von der ersten Seite an bemüht zeigte, sich durch alle möglichen mit seinem Gewissen abgeschlossenen Abmachungen und Verträge zu binden. Der eine scheut sich, von einem nackten Körper zu reden; ein anderer hat sich durch den selbstauferlegten Zwang zu psychologischen Erörterungen an Händen und Füßen gebunden; ein dritter bedarf »eines warmen Verhältnisses zur Menschheit«; ein vierter schmiert absichtlich ganze Seiten mit Naturschilderungen voll, um nicht in den Verdacht der Tendenzschriftstellerei zu kommen. Der eine möchte in seinen Schriften um jeden Preis eine bürgerliche, der andere um jeden Preis eine aristokratische Gesinnung an den Tag legen usw. Absichtlichkeit, Behutsamkeit, Querköpfigkeit, aber keine Freiheit, kein Mut, so zu schreiben, wie man möchte, und infolgedessen auch keine schöpferische Kraft.

Alles dies bezieht sich auf die sogenannte schöne Literatur.

Was nun russische Abhandlungen ernsten Inhalts anlangt, z. B. über Nationalökonomie, über Kunst u. dgl., so ist der Grund, weshalb ich sie nicht lese, einfach meine Zaghaftigkeit. Als kleines Kind und als Knabe empfand ich eine eigentümliche Furcht vor Portiers und Theaterdienern, und diese Furcht ist mir bis auf den heutigen Tag geblieben; ich fürchte mich auch jetzt noch vor ihnen. Man sagt, furchtbar erscheine nur das, was man nicht verstehe. Und es ist auch wirklich sehr schwer zu verstehen, warum die Portiers und Theaterdiener eine solche Grandezza, Aufgeblasenheit und majestätische Unhöflichkeit an den Tag legen. Wenn ich ernste russische Abhandlungen lese, empfinde ich eine ganz ähnliche unbestimmte Furcht. Die gewaltige Wichtigtuerei, der scherzhafte Ton der Überlegenheit, die familiäre Manier, in der auswärtige Autoren behandelt werden, die Geschicklichkeit, mit Würde leeres Stroh zu dreschen: alles dies ist mir unverständlich und beängstigend und gleicht so gar nicht der Bescheidenheit und dem vornehm-ruhigen Tone, an den ich bei der Lektüre der Schriften unserer älteren Ärzte und Naturforscher gewöhnt bin. Und nicht nur solche ernsten Abhandlungen, die ursprünglich russisch geschrieben sind, sondern auch solche, die ins Russische übersetzt sind, zu lesen fällt mir schwer. Der hoffärtige, herablassende Ton der Vorworte, die Unmenge von Anmerkungen des Übersetzers, die mich hindern, meine Aufmerksamkeit auf die Sache zu konzentrieren, die Fragezeichen und eingeklammerten sic, die der Übersetzer mit freigebiger Hand über die ganze Abhandlung oder über das ganze Buch ausstreut, erscheinen mir wie ein Attentat auf die Person des Verfassers und auf meine, des Lesers, Selbständigkeit.

Ich war einmal zu einer Verhandlung des Bezirksgerichtes als Sachverständiger zugezogen; in einer Pause machte mich ein anderer Sachverständiger, ein Kollege von mir, auf das grobe Benehmen des Staatsanwaltes gegen die Angeklagten aufmerksam, unter denen sich zwei gebildete Frauen befanden. Ich glaube, ich machte mich keiner Übertreibung schuldig, als ich meinem Kollegen antwortete, dieses Benehmen sei nicht gröber als das, welches die Verfasser ernster Abhandlungen wechselseitig zur Anwendung brächten. Und tatsächlich ist dieses Benehmen so grob, daß man davon nur mit einer peinlichen Empfindung reden kann. Sie benehmen sich untereinander und gegen die Schriftsteller, deren Werke sie kritisieren, entweder so übermäßig respektvoll, daß sie dabei ihre eigene Würde nicht wahren, oder sie behandeln sie umgekehrt weit dreister, als ich in meinen Gedanken und in diesen Aufzeichnungen meinen künftigen Schwiegersohn Herrn Gnecker behandle. Beschuldigungen der Unzurechnungsfähigkeit, unlauterer Absichten, ja sogar aller möglichen Kriminalverbrechen bilden den gewöhnlichen Schmuck ernster Abhandlungen. Und nun gar die Art, in der sich unsere jungen Ärzte in ihren kleinen Aufsätzen mit Vorliebe ausdrücken, das ist das Nonplusultra! Ein solches Benehmen muß unvermeidlich in der Darstellungsweise der jungen Generationen unserer belletristischen Schriftsteller seinen Reflex finden, und daher wundere ich mich gar nicht darüber, daß in den Novitäten, die unsere belletristische Literatur in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren hervorgebracht hat, die Helden viel Branntwein trinken und die Keuschheit der Heldinnen zu wünschen übrig läßt.

Ich lese französische Bücher und blicke ab und zu nach dem offenstehenden Fenster hin; dort sehe ich die Zacken meines Gartenzaunes, zwei oder drei kümmerliche Bäume und weiterhin hinter dem Zaune einen Weg, ein Feld und dann einen breiten Streifen Nadelwald. Oft beobachte ich mit Vergnügen, wie zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, beide blondhaarig und in zerrissenen Kleidern, an dem Zaune in die Höhe klettern und sich über meine Glatze lustig machen. In ihren glänzenden Äuglein lese ich deutlich die Worte: »Guck mal, ein Kahlkopf!« Das sind hier fast die einzigen Menschen, die sich weder um meine Berühmtheit noch um meinen Rang kümmern.

Besucher stellen sich jetzt nicht alle Tage ein. Ich erwähne nur die Besuche Nikolais und Peter Ignatjewitschs. Nikolai kommt gewöhnlich an Sonn- und Festtagen zu mir, angeblich in geschäftlichen Angelegenheiten, hauptsächlich aber um mich wiederzusehen. Er kommt stark angeheitert, was bei ihm im Winter nie vorkommt.

»Nun, was bringst du?« frage ich ihn, wenn ich zu ihm auf den Flur hinaustrete.

»Euer Exzellenz!« sagt er, indem er die Hand aufs Herz drückt und mich entzückt wie ein Verliebter anblickt. »Euer Exzellenz! Gott straf mich! Der Donner soll mich gleich auf dem Fleck rühren! Gaudeamus igitur juvenestus!«

Und er küßt mich eifrig auf die Schulter, auf die Rockärmel, auf die Knöpfe.

»Ist in der Stadt alles bei uns in Ordnung« frage ich ihn.

»Euer Exzellenz! Beim heiligen Gott …«

Er schwört unaufhörlich ohne jeden Anlaß; ich werde seiner bald überdrüssig und schicke ihn in die Küche, wo er Mittagessen erhält. Peter Ignatjewitsch kommt gleichfalls an Sonn- und Festtagen zu mir, speziell um mich zu besuchen, und zum Zwecke des Gedankenaustausches. Er sitzt gewöhnlich bei mir in meinem Zimmer am Tische, bescheiden, sauber, vernünftig, und erlaubt sich nicht, ein Bein über das andere zu schlagen oder die Ellbogen auf den Tisch zu bringen; und die ganze Zeit über erzählt er mir mit seiner leisen, gleichmäßigen Stimme geläufig und buchmäßig allerlei nach seiner Meinung sehr interessante und amüsante Neuigkeiten, die er in Journalen und Büchern gelesen hat. Alle diese Neuigkeiten haben untereinander eine große Ähnlichkeit und lassen sich auf folgenden Typus zurückführen: ein Franzose hat behauptet, eine Entdeckung gemacht zu haben; ein anderer, ein Deutscher, hat ihn der Unredlichkeit überführt durch den Nachweis, daß diese Entdeckung schon im Jahre 1870 von einem Amerikaner gemacht worden ist; und ein dritter, ebenfalls ein Deutscher, ist klüger gewesen als sie beide, indem er gezeigt hat, daß sie sich arg blamiert und unter dem Mikroskop Luftbläschen für dunkles Pigment gehalten haben. Peter Ignatjewitsch erzählt sogar dann, wenn er es darauf anlegt, mich zum Lachen zu bringen, langsam und umständlich, als ob er eine Dissertation verteidigte, mit detaillierter Aufzählung der literarischen Quellen, die er benutzt hat, und bemüht sich, in den Zahlen, in den Nummern der Journale und in den Namen jeden Irrtum zu vermeiden, wobei er nicht einfach Petit sagt, sondern stets Jean Jacques Petit. Manchmal bleibt er bei uns zum Mittagessen, und dann erzählt er während der ganzen Mahlzeit jene selben amüsanten Geschichten, die auf alle Tischgenossen niederdrückend wirken. Wenn Herr Gnecker und Lisa in seiner Gegenwart das Gespräch auf Fugen und Kontrapunkt, auf Brahms und Bach bringen, so schlägt er bescheiden die Augen nieder und wird verlegen; er schämt sich, daß in Anwesenheit so ernsthafter Leute, wie ich und er, von so unwürdigen Dingen gesprochen wird.

 

Bei meiner jetzigen Gemütsverfassung genügen mir fünf Minuten, um seiner so überdrüssig zu werden, als hätte ich ihn schon eine ganze Ewigkeit gesehen und angehört. Ich hasse den armen Kerl. Von seiner leisen, gleichmäßigen Stimme und buchmäßigen Ausdrucksweise wird mir ganz schwach, seine Erzählungen machen mich stumpfsinnig. Er hegt gegen mich die treueste Gesinnung und redet mit mir lediglich, um mir Vergnügen zu bereiten, und ich lohne es ihm damit, daß ich ihm hartnäckig ins Gesicht sehe, als ob ich ihn hypnotisieren wollte, und dabei denke: »Scher dich weg, scher dich weg, scher dich weg!« Aber er reagiert nicht auf meine schweigende Aufforderung, sondern sitzt und sitzt und sitzt …

Solange er bei mir sitzt, kann ich schlechterdings nicht von dem Gedanken loskommen: »Sehr möglich, daß, wenn ich sterbe, er meine Stelle bekommt«, und mein armes Auditorium erscheint mir dann wie eine Oase, in der der Bach vertrocknet ist, und ich bin gegen Peter Ignatjewitsch unliebenswürdig, schweigsam, mürrisch, als wäre er an diesen meinen Gedanken schuld und nicht vielmehr ich selbst. Wenn er anfängt, nach seiner Gewohnheit die deutschen Gelehrten zu preisen, so mache ich nicht mehr wie früher gutmütige Scherze, sondern ich brumme verdrießlich:

»Ihre Deutschen sind Esel.«

Mein Benehmen hat Ähnlichkeit mit dem des verstorbenen Professors Nikita Krylow, der sich einmal in Reval mit Pirogow zusammen badete, sich über das sehr kalte Wasser ärgerte und nun schimpfte: »Diese Schufte, die Deutschen!« Ich benehme mich gegen Peter Ignatjewitsch häßlich, und erst wenn er fortgeht und ich durch das Fenster sehe, wie sein grauer Hut hinter dem Gartenzaun vorbeistreift, möchte ich ihn anrufen und zu ihm sagen:

»Verzeihen Sie mir, lieber Freund!«

Das Mittagessen verläuft jetzt bei uns langweiliger als im Winter. Eben jener Herr Gnecker, den ich jetzt hasse und verachte, ißt bei uns fast täglich mit. Früher duldete ich schweigend seine Anwesenheit; aber jetzt richte ich an seine Adresse Stichelreden, über die meine Frau und Lisa rot werden. Von meinem Ingrimm hingerissen, rede ich oft geradezu Dummheiten und weiß nicht einmal recht, warum ich sie rede. So kam es einmal vor, daß ich Herrn Gnecker lange verächtlich ansah und ohne jede Veranlassung plötzlich herausstieß:

 
»Der Aar schwebt wohl einmal hinab zum Hühnervolke,
Doch schwingt sich nie das Huhn zu jenem in die Wolke.«
 

Und das Ärgerlichste ist, daß bei solchen Gelegenheiten das Huhn Gnecker sich weit verständiger benimmt als der Aar Professor. Da er weiß, daß meine Frau und meine Tochter auf seiner Seite stehen, so beobachtet er folgende Taktik: er beantwortet meine Stichelreden mit herablassendem Schweigen, welches besagt: »Der Alte ist verrückt geworden; wozu da lange mit ihm reden?« oder er macht sich in gutmütiger Weise über mich lustig. Es ist wirklich erstaunlich, bis zu welchem Grade der Mensch verflachen kann: ich bin imstande, während des ganzen Mittagessens mich in Gedanken darüber zu ergehen, wie Herr Gnecker sich als Abenteurer entpuppen wird, wie Lisa und meine Frau ihren Irrtum einsehen werden, und wie ich sie dann damit aufziehen werde. Solchen und ähnlichen törichten Gedanken überlasse ich mich zu einer Zeit, wo ich doch schon mit einem Fuße im Grabe stehe!

Jetzt kommen auch Mißhelligkeiten vor, von denen ich früher nur durch Hörensagen einen Begriff hatte. Wie beschämend es auch für mich ist, so will ich doch einen derartigen Vorfall erzählen, der sich neulich nach dem Mittagessen zutrug.

Ich saß in meinem Zimmer und rauchte eine Pfeife. Da kam wie gewöhnlich meine Frau herein, setzte sich hin und fing an davon zu reden, daß es doch gut wäre, wenn ich jetzt, solange es noch warm sei und ich freie Zeit hätte, nach Charkow reisen und mich dort erkundigen wollte, was unser Herr Gnecker für ein Mensch sei.

»Schön, ich werde hinreisen,« erwiderte ich.

Meine Frau war mit mir zufrieden, stand auf und ging zur Tür, kehrte aber sogleich wieder zurück und sagte:

»Bei der Gelegenheit möchte ich dir noch eine Bitte aussprechen. Ich weiß, du wirst ärgerlich werden; aber es ist meine Pflicht, dich zu warnen. Nimm es nicht übel, Nikolai Stepanowitsch, aber alle unsere Bekannten und Nachbarn fangen schon an darüber zu reden, daß du so viel bei Katja verkehrst. Sie ist ja klug und gebildet, das stelle ich nicht in Abrede, und man verbringt in ihrer Gesellschaft die Zeit sehr angenehm; aber du mußt selbst zugeben, es ist einigermaßen sonderbar, wenn ein Mann in deinen Jahren und in deiner gesellschaftlichen Stellung an ihrer Gesellschaft Vergnügen findet. Und außerdem ist ihr Renommee von der Art, daß …«

Alles Blut strömte plötzlich von meinem Gehirn fort, Funken sprühten mir aus den Augen; ich sprang auf, griff mir an den Kopf, stampfte mit den Füßen und schrie mit entstellter Stimme:

»Laßt mich in Ruhe! Laßt mich in Ruhe! Laßt mich in Ruhe!«

Mein Gesicht mußte wohl schrecklich aussehen und meine Stimme seltsam klingen; denn meine Frau wurde auf einmal ganz blaß und schrie mit gleichfalls fremdartig klingender, verzweifelter Stimme laut auf. Auf unser Geschrei kamen Lisa, Herr Gnecker und dann auch Jegor herbeigelaufen.

»Laßt mich in Ruhe!« schrie ich. »Geht hinaus! Laßt mich in Ruhe!«

Die Füße wurden mir taub, als ob sie gar nicht da wären; ich fühlte, wie ich jemandem in die Arme sank; dann hörte ich eine kurze Zeit Weinen und fiel in eine Ohnmacht, die zwei bis drei Stunden dauerte.

Jetzt von Katja. Sie besucht mich täglich gegen Abend, und das muß natürlich den Bekannten und Nachbarn auffallen. Sie kommt angefahren, tritt nur auf einen Augenblick bei mir ein und nimmt mich dann mit auf ihre Spazierfahrt. Sie hat ein eigenes Pferd und einen neuen char à banc, den sie sich in diesem Sommer gekauft hat. Überhaupt lebt sie auf großem Fuße: sie hat sich ein teures Landhaus mit großem Garten für sich allein gemietet und ihr ganzes Mobiliar aus der Stadt dorthin schaffen lassen, hält sich zwei Stubenmädchen und einen Kutscher … Oft frage ich sie:

»Katja, wovon wirst du leben, wenn du das väterliche Geld vergeudet haben wirst?«

»Das wollen wir später sehen,« antwortet sie.

»Dieses Geld, liebes Kind, würde wohl eine etwas rücksichtsvollere Behandlung verdienen. Es ist von einem braven Manne durch ehrliche Arbeit erworben.«

»Das haben Sie mir schon früher gesagt. Ich weiß es.«

Zuerst fahren wir zwischen Feldern hin, dann durch den Nadelwald, den ich von meinem Fenster aus sehen kann. Die Natur erscheint mir ebenso schön wie früher, obwohl mir der Böse zuflüstert, daß alle diese Tannen und Fichten, diese Vögel und weißen Wolken am Himmel, wenn ich nach drei bis vier Monaten tot sein werde, von meinem Fehlen nichts merken werden. Katja findet Vergnügen daran, das Pferd selbst zu lenken, und sie freut sich, daß es schönes Wetter ist und ich neben ihr sitze. Sie ist guter Laune und führt keine bissigen Reden.

»Sie sind ein sehr guter Mensch, Nikolai Stepanowitsch,« sagt sie. »Sie sind ein seltenes Exemplar, und es gibt keinen Schauspieler, der Sie spielen könnte. Mich oder z. B. Michail Fedorowitsch kann selbst ein schlechter Schauspieler kopieren, Sie aber niemand. Und ich beneide Sie, gewaltig beneide ich Sie! Denn ich, was bin ich? Was bin ich?«

Sie denkt einen Augenblick nach und fragt mich dann:

»Nikolai Stepanowitsch, ich bin ja doch wohl eine negative Erscheinung, nicht wahr?«

»Ja«, antworte ich.

»Hm … Was soll ich denn aber nun tun?«

Was soll ich ihr erwidern? Es ist leicht zu sagen: »Arbeite!« oder: »Gib deine Habe den Armen!« oder: »Erkenne dich selbst!«, und weil das eben so leicht zu sagen ist, so weiß ich nicht, was ich ihr erwidern soll.

Meine Kollegen, die Therapeuten, geben in der Lehre von der Behandlung der Kranken den Rat, man solle jeden einzelnen Fall individuell behandeln. Wer diesen Rat befolgt, wird sich überzeugen, daß die Mittel, die in den Lehrbüchern schablonenmäßig als die besten und als durchaus brauchbar empfohlen werden, sich in den Einzelfällen als völlig unbrauchbar erweisen. Dasselbe gilt auch von seelischen Leiden.

Aber irgend etwas muß ich ihr doch antworten, und so sage ich denn:

»Du hast zuviel freie Zeit, meine Liebe. Du mußt dich mit etwas beschäftigen. Wirklich, warum willst du nicht wieder Schauspielerin werden, wenn du doch einen inneren Beruf dazu hast?«

»Ich kann es nicht.«

»Dein Ton und deine Art machen den Eindruck, als ob du dir wie ein Opfer vorkommst. Das gefällt mir nicht, meine Liebe. Du trägst selbst die Schuld. Erinnere dich nur: du begannst damit, dich über die Schauspieler und ihre Art zu ärgern, hast aber nichts getan, um diese und andere Menschen zu bessern. Du hast mit dem Schlechten nicht gerungen, sondern bist vorzeitig müde geworden und bist nicht ein Opfer des Ringens, sondern deiner Kraftlosigkeit. Nun freilich, du warst damals noch jung und unerfahren; aber jetzt kann alles einen anderen Verlauf nehmen. Wirklich, geh zur Bühne! Da wirst du arbeiten, der heiligen Kunst dienen …«

»Reden Sie nicht, was Sie selbst nicht meinen, Nikolai Stepanowitsch!« unterbricht mich Katja. »Lassen Sie uns ein für allemal die Verabredung treffen: wir wollen über Schauspieler reden, über Schauspielerinnen, über Schriftsteller; die Kunst aber wollen wir aus dem Spiele lassen. Sie sind ein prächtiger Mensch, ein seltener Mensch; aber Sie besitzen nicht so viel Verständnis für die Kunst, daß Sie sie mit gutem Gewissen ›die heilige Kunst‹ nennen dürften. Sie haben für die Kunst keinen Sinn und kein Gefühl. Ihr ganzes Leben lang sind Sie mit Ihrer Arbeit beschäftigt gewesen und haben keine Zeit gehabt, sich dieses Gefühl zu erwerben. Überhaupt … ich kann diese Gespräche über Kunst nicht leiden!« fuhr sie nervös fort; »ich kann sie nicht leiden! Die Kunst ist so schon hinlänglich profaniert worden. Ich mag nichts weiter hören!«

»Wer hat die Kunst profaniert?«

»Die Schauspieler haben die Kunst profaniert durch ihre Trunksucht, die Zeitungen durch eine gar zu familiäre Stellungnahme ihr gegenüber, die verständigen Leute durch ihre Philosophie.«

»Die Philosophie hat damit nichts zu schaffen.«

»O doch. Wenn jemand über einen Gegenstand philosophiert, so bedeutet das, daß er kein Verständnis für ihn hat.«

Damit das Gespräch nicht zu scharf wird, beeile ich mich, das Thema zu wechseln, und schweige dann längere Zeit. Erst in dem Augenblicke, wo wir aus dem Walde herausfahren und die Richtung nach Katjas Landhause einschlagen, kehre ich wieder zu dem früheren Gegenstande zurück und frage:

»Du hast mir immer noch nicht geantwortet: Warum willst du nicht wieder Schauspielerin werden?«

»Nikolai Stepanowitsch, das ist aber doch gar zu grausam von Ihnen!« ruft sie aus und wird plötzlich dunkelrot. »Wollen Sie wirklich, daß ich Ihnen laut die Wahrheit sage? Nun, wenn Sie es wünschen, meinetwegen: ich besitze kein Talent. Ich besitze kein Talent, wohl aber einen großen Ehrgeiz! Das ist der Grund!«

Nachdem sie mir dieses Geständnis gemacht hat, wendet sie das Gesicht von mir weg und zieht, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen, stark an den Zügeln.

Als wir uns ihrem Landhause nähern, sehen wir schon von weitem Michail Fedorowitsch, der am Tore auf und ab geht und ungeduldig auf uns wartet.

»Wieder dieser Michail Fedorowitsch!« sagt Katja ärgerlich. »Bitte, schaffen Sie ihn mir vom Halse! Ich bin seiner überdrüssig; er ist schal geworden … Ich mag ihn nicht!«

Michail Fedorowitsch sollte schon längst im Auslande sein; aber er schiebt seine Abreise von einer Woche zur andern auf. In der letzten Zeit sind mit ihm einige Veränderungen vorgegangen: er ist magerer geworden, wird vom Weine berauscht, was früher bei ihm nie der Fall war, und seine schwarzen Augenbrauen beginnen grau zu werden. Wenn unser char à banc am Tore hält, macht er aus seiner Freude und seiner Ungeduld kein Hehl. Mit großer Beflissenheit ist er Katja und mir beim Aussteigen behilflich, stellt eilig allerlei Fragen, lacht und reibt sich die Hände; und jener sanfte, flehende, reine Ausdruck, den ich früher nur in seinem Blicke wahrnahm, hat sich jetzt über sein ganzes Gesicht ausgebreitet. Er freut sich, und gleichzeitig schämt er sich seiner Freude, schämt sich dieser Gewohnheit, Katja jeden Abend zu besuchen, und hält es für nötig, sein Kommen durch irgendeine handgreifliche Abgeschmacktheit zu motivieren, von dieser Art: »Ich kam gerade vorbei, als ich mir etwas besorgen wollte, und da dachte ich: ich will doch auf einen Augenblick herangehen.«

 

Wir gehen alle drei in die Wohnung; zuerst trinken wir Tee; dann erscheinen auf dem Tische die mir längst bekannten zwei Spiele Karten, ein großes Stück Käse, Obst und eine Flasche Krim-Schaumwein. Die Themata unserer Gespräche sind keine neuen, sondern immer noch dieselben wie im Winter. Die Universität und die Studenten und die Literatur und das Theater müssen tüchtig herhalten; die Luft wird von den Lästerreden dichter und schwüler, und es vergiften sie jetzt nicht mehr zwei Kröten mit ihrem Atem wie im Winter, sondern drei. Außer dem samtweichen Lachen eines Baritons und einem andern Lachen, das wie eine Harmonika klingt, hört das Stubenmädchen, das uns bedient, noch ein drittes, unangenehm knarrendes Lachen, so wie in den Vaudevilles die Generale lachen: »He-he-he!«

2= Restaurant. Anmerkung des Übersetzers.
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