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Eine langweilige Geschichte

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V

Es kommen manchmal schreckliche Nächte vor, mit Blitz und Donner, Regen und Wind, die das Volk Sperlingsnächte nennt, weil die Sperlinge dabei vor Angst aus den Nestern herauskommen. Eine solche Sperlingsnacht habe ich in meinem eigenen Leben durchgemacht …

Ich wache nach Mitternacht auf und springe plötzlich vom Bette in die Höhe. Aus einem unverständlichen Grunde glaube ich, daß ich im nächsten Augenblick sterben werde. Warum glaube ich das? Im Körper habe ich keine derartige Empfindung, die auf ein schnelles Ende hinwiese; aber auf meiner Seele lastet eine solche Angst, als ob ich auf einmal den riesigen roten Schein einer entsetzlichen Feuersbrunst erblicke.

Ich zünde schnell Licht an, trinke Wasser unmittelbar aus der Karaffe und eile dann zum offenen Fenster. Draußen ist herrliches Wetter. Es duftet nach Heu und sonst noch nach etwas Schönem. Ich sehe die Zacken des Gartenzaunes, die verschlafenen, kümmerlichen Bäume am Fenster, den Weg, den dunklen Waldstreifen; an dem wolkenlosen Himmel steht ruhig der sehr helle Mond. Tiefe Stille; kein Blatt regt sich. Mir scheint, daß alles mich anschaut und lauscht, wie ich sterben werde …

Mir ist bange zumute. Ich schließe das Fenster und laufe wieder zum Bette hin. Ich fühle mir den Puls, und da ich ihn an der Hand nicht finde, suche ich ihn an den Schläfen, dann am Kinn und wieder an der Hand; alles ist an mir kalt und schlüpfrig von Schweiß. Mein Atem wird schneller und schneller; der ganze Körper zittert; alle inneren Teile sind in Bewegung; auf dem Gesicht und auf der Glatze habe ich ein Gefühl, als ob sich ein Spinngewebe darauf lege.

Was soll ich tun? Soll ich die Meinigen rufen? Nein, das hat keinen Zweck. Ich wüßte gar nicht, was meine Frau und Lisa tun sollten, wenn sie zu mir herein kämen.

Ich stecke den Kopf unter das Kissen, schließe die Augen und warte, warte … Mich friert am Rücken; es ist mir, als zöge er sich nach innen hinein, und ich habe ein Gefühl, als werde der Tod sich mir jedenfalls von hinten nahen, ganz leise …

»Kwi, kwi!« ertönt auf einmal ein Kreischen in der nächtlichen Stille, und ich weiß nicht, wo es ist, ob in meiner Brust oder auf der Straße.

»Kwi, kwi!«

Mein Gott, wie entsetzlich! Ich möchte gern noch mehr Wasser trinken; aber ich fürchte mich, auch nur die Augen aufzumachen und den Kopf in die Höhe zu heben. Ich habe eine sinnlose, animalische Angst und kann gar nicht begreifen, warum ich mich eigentlich fürchte: weil ich weiterleben möchte, oder weil mir ein neuer Schmerz bevorsteht, den ich noch nicht kenne?

Oben, in dem Zimmer über mir, klingt es halb wie Stöhnen, halb wie Lachen. Ich lausche. Nach einer kleinen Weile sind auf der Treppe Schritte zu hören. Es kommt jemand eilig herunter, steigt aber dann wieder hinauf. Eine Minute später werden die Schritte wieder unten vernehmbar; es bleibt jemand an meiner Tür stehen und horcht.

»Wer ist da?« rufe ich.

Die Tür öffnet sich; mit einem kühnen Entschlusse mache ich die Augen auf und sehe meine Frau vor mir. Ihr Gesicht ist blaß, ihre Augen verweint.

»Du schläfst nicht, Nikolai Stepanowitsch?« fragte sie.

»Was willst du?«

»Um Gottes willen, komm doch mit zu Lisa und sieh sie dir einmal an. Es muß ihr etwas zugestoßen sein …«

»Gut … gern …« murmele ich, sehr zufrieden damit, daß ich nicht mehr allein bin. »Gut … den Augenblick.«

Ich gehe hinter meiner Frau her, höre an, was sie mir mitteilt, und verstehe vor Aufregung nichts davon. Das Licht, das sie trägt, läßt auf den Treppenstufen helle Flecke umherhüpfen und unsere langen Schatten sich zitternd bewegen; meine Füße verwickeln sich in den Schößen meines Schlafrockes; ich kann kaum atmen, und es ist mir, als ob mich jemand verfolgte und mich am Rücken packen wollte. »Jetzt werde ich gleich hier auf dieser Treppe sterben,« denke ich. »Gleich diesen Augenblick …« Aber da sind wir schon die Treppe hinaufgestiegen, haben bereits den dunklen Korridor mit dem italienischen Fenster passiert und treten in Lisas Zimmer. Sie sitzt im bloßen Hemde auf dem Bette, läßt die nackten Beine herunterhängen und stöhnt.

»Ach mein Gott … ach mein Gott!« murmelt sie und kneift, von unserem Lichte geblendet, die Augen zusammen. »Ich kann nicht, ich kann nicht …«

»Lisa, mein Kind,« sage ich, »was fehlt dir?«

Sobald sie mich erblickt, schreit sie auf und fällt mir um den Hals.

»Mein guter Papa …« schluchzt sie. »Mein lieber Papa … Mein süßer, bester Papa! … Ich weiß nicht, was mit mir ist … Mir ist so schwer ums Herz!«

Sie umarmt mich, küßt mich und stammelt zärtliche Koseworte, wie ich sie von ihr gehört habe, als sie noch ein kleines Kind war.

»Beruhige dich, mein Kind! Gott möge dir beistehen!« sage ich. »Du mußt nicht weinen. Mir ist selbst traurig zumute.«

Ich gebe mir Mühe, sie zuzudecken, meine Frau reicht ihr zu trinken, und wir beide bewegen uns ungeschickt an ihrem Bette umher, so daß wir einander stoßen: mit meiner Schulter stoße ich an die Schulter meiner Frau, und in diesem Augenblicke schießt mir die Erinnerung durch den Kopf, wie wir früher einmal unsere Kinder zusammen gebadet haben.

»Hilf ihr doch, hilf ihr doch!« fleht mich meine Frau an. »Gib ihr doch etwas zum Einnehmen!«

Aber was kann ich tun? Gar nichts. Dem Mädchen lastet etwas Schweres auf der Seele; aber ich begreife nichts davon, weiß nichts und kann nur murmeln:

»Es ist nichts Schlimmes, nichts Schlimmes … Das wird vorübergehen … Schlaf nur, schlaf! …«

Gerade in diesem Augenblick ertönt auf einmal auf unserem Hofe Hundegeheul, anfangs leise und unentschlossen, dann laut, zweistimmig. Ich habe solchen Vorzeichen wie Hundegeheul und Eulenruf nie irgendwelche Bedeutung beigemessen; aber jetzt krampft sich mein Herz schmerzlich zusammen, und ich beeile mich, mir über dieses Geheul klar zu werden.

»Dummes Zeug …« denke ich. »Der Einfluß eines Organismus auf einen andern. Meine starke nervöse Spannung hat sich auf meine Frau und auf Lisa und auf den Hund übertragen, weiter nichts … Durch eine derartige Übertragung lassen sich alle Vorahnungen und alles Vorhersehen erklären …«

Als ich bald darauf in mein Zimmer zurückkehre, um für Lisa ein Rezept zu schreiben, denke ich nicht mehr an meinen nahe bevorstehenden Tod, sondern empfinde nur ein drückendes, widerwärtiges Gefühl am Herzen, so daß es mir sogar leid tut, daß ich nicht plötzlich gestorben bin. Lange stehe ich regungslos mitten im Zimmer und überlege, was ich wohl meiner Tochter verschreiben könnte; aber das Stöhnen in dem über mir gelegenen Zimmer verstummt, und so entscheide ich mich denn dafür, nichts zu verschreiben; aber ich bleibe trotzdem stehen …

Es herrscht eine Totenstille, eine solche Stille, daß, wie sich einmal ein Schriftsteller ausgedrückt hat, sie einem sogar in den Ohren klingt. Die Zeit vergeht nur ganz langsam; die Streifen des Mondlichtes auf dem Fensterbrette ändern ihre Lage nicht, gerade wie wenn sie erstarrt wären … Bis zur Morgendämmerung ist es noch lange hin.

Aber da knarrt das Pförtchen im Gartenzaun; es schleicht jemand herein, bricht von einem der dürftigen Bäume einen Zweig ab und klopft damit vorsichtig ans Fenster.

»Nikolai Stepanowitsch!« höre ich eine Stimme flüstern; »Nikolai Stepanowitsch!«

Ich öffne das Fenster und glaube zu träumen: unter dem Fenster, sich gegen die Wand drückend, steht eine Frau in schwarzem Kleide, hell vom Monde beleuchtet, und blickt mich mit großen Augen an. Ihr im Mondlicht blaß, streng und seltsam erscheinendes Gesicht sieht wie von Marmor aus; ihr Kinn zittert.

»Ich bin es,« sagt sie. »Ich … Katja!«

Bei Mondlicht erscheinen alle Frauenaugen groß und schwarz, und die Menschen größer und blasser; dies ist wohl der Grund, weshalb ich sie im ersten Augenblicke nicht erkannt hatte.

»Was willst du?«

»Verzeihen Sie,« sagt sie. »Mir wurde plötzlich, ich weiß nicht warum, so unerträglich schwer ums Herz … Ich konnte es nicht aushalten und fuhr hierher … Ich sah Licht hinter Ihrem Fenster … und da entschloß ich mich, anzuklopfen … Entschuldigen Sie … Ach, wenn Sie wüßten, wie schrecklich mir zumute war! Was tun Sie denn jetzt?«

»Nichts … Ich kann nicht schlafen.«

»Ich hatte eine Art Ahnung. Aber das ist ja dummes Zeug.«

Ihre Brauen ziehen sich in die Höhe, ihre Augen glänzen von Tränen, und auf ihrem ganzen Gesichte strahlt wie ein helles Licht jener Ausdruck von Zutraulichkeit auf, der mir so wohl bekannt ist, den ich aber so lange nicht mehr gesehen habe.

»Nikolai Stepanowitsch!« sagt sie in flehendem Tone und streckt beide Hände nach mir hin. »Teurer Freund, ich bitte Sie … ich flehe Sie an … Wenn Sie meine Freundschaft und Verehrung für Sie nicht verachten, so erfüllen Sie mir eine Bitte!«

»Was für eine Bitte?«

»Nehmen Sie das Geld, das ich noch besitze, von mir an!«

»Aber was sind das für Einfälle! Was soll ich mit deinem Gelde?«

»Fahren Sie irgendwohin, um eine Kur zu gebrauchen! … Sie haben eine Kur durchaus nötig. Wollen Sie es annehmen? Ja? Lieber, Guter, ja?«

Sie sieht mir in gespannter Erwartung ins Gesicht und wiederholt:

»Ja? Wollen Sie es annehmen?«

»Nein, meine Liebe, das nehme ich nicht an …«, antworte ich; »ich danke dir.«

Sie wendet mir den Rücken zu und läßt den Kopf herunterhängen. Wahrscheinlich habe ich bei der abschlägigen Antwort mich eines Tones bedient, durch den ein weiteres Gespräch über die Geldangelegenheit unmöglich gemacht wurde.

»Fahre wieder nach Hause,« sage ich, »und lege dich schlafen! Morgen sehen wir uns wieder.«

»Also Sie halten mich nicht für Ihre Freundin?« fragt sie niedergeschlagen.

»Das habe ich nicht gesagt. Aber von deinem Gelde kann ich jetzt keinen Gebrauch machen.«

»Verzeihen Sie!« erwidert sie und läßt dabei die Stimme um eine ganze Oktave sinken. »Ich verstehe Sie. Einer Frau, wie ich, verpflichtet zu sein, einer ehemaligen Schauspielerin, das ist … Nun, dann leben Sie wohl! …«

 

Sie geht so schnell fort, daß ich nicht einmal Zeit habe, ihr Lebewohl zu sagen.

VI

Ich bin in Charkow.

Da ich doch keinen Nutzen davon hätte, gegen meine jetzige Gemütsverfassung anzukämpfen, und auch gar nicht dazu imstande bin, so habe ich beschlossen, daß meine letzten Lebenstage wenigstens nach der formellen Seite hin vorwurfsfrei sein sollen; wenn ich meiner Familie gegenüber im Unrecht bin (und ich bin mir recht wohl bewußt, daß dem so ist), so will ich wenigstens bemüht sein, so zu handeln, wie sie es wünscht. Ich sollte nach Charkow reisen; nun, so bin ich denn jetzt in Charkow. Zudem bin ich in der letzten Zeit gegen alles dermaßen gleichgültig geworden, daß es mir wirklich ganz einerlei ist, wohin ich reise, ob nach Charkow oder nach Paris oder nach Berditschew.

Ich bin um zwölf Uhr mittags hier angekommen und in einem Hotel nicht weit vom Dom eingekehrt. Im Waggon bin ich arg durchgerüttelt worden, auch zog es empfindlich; jetzt sitze ich auf dem Bette, halte mir den Kopf und warte auf meinen tic douloureux. Ich sollte eigentlich heute zu den Professoren fahren, mit denen ich bekannt bin; aber ich habe keine Lust und keine Kraft dazu.

Der Kellner, ein älterer Mann, tritt herein und fragt, ob ich Bettwäsche bei mir führe. Ich halte ihn etwa fünf Minuten lang zurück und lege ihm einige Fragen über Herrn Gnecker vor, um dessentwillen ich hierher gekommen bin. Es stellt sich heraus, daß der Kellner, obwohl er ein geborener Charkower ist und in dieser Stadt wie in seiner eigenen Westentasche Bescheid weiß, kein Haus kennt, das sich im Besitz einer Familie Gnecker befände. Ich erkundige mich nach einem Gute einer solchen Familie, aber mit demselben Resultate.

Auf dem Korridor schlägt die Uhr eins, dann zwei, dann drei. Die letzten Monate meines Lebens, in denen ich auf den Tod warte, kommen mir weit länger vor als mein ganzes Leben. Auch habe ich es früher nie verstanden, mit der Langsamkeit der Zeit so zufrieden zu sein, wie jetzt. Wenn ich früher manchmal auf dem Bahnhofe auf einen Zug wartete oder als Mitglied der Prüfungskommission beim Examen saß, erschien mir eine Viertelstunde wie eine Ewigkeit; jetzt dagegen kann ich die ganze Nacht hindurch, ohne mich zu rühren, auf dem Bette sitzen und ganz gleichmütig daran denken, daß morgen eine ebensolche lange, farblose Nacht kommen wird, und übermorgen wieder eine …

Im Korridor schlägt es fünf Uhr, sechs, sieben. Es wird dunkel.

In der Backe fühle ich ein dumpfes Ziehen: damit fängt der Gesichtsschmerz, der tic, an. Um mich mit Gedanken zu beschäftigen, versetze ich mich auf meinen früheren Standpunkt, als ich noch nicht so teilnahmlos war, und frage mich: warum sitze ich, ein berühmter Mann, ein Geheimrat, in diesem kleinen Hotelzimmer, auf diesem Bette mit der fremden, grauen Bettdecke? Warum sehe ich diese billige, blecherne Waschschüssel an und höre, wie auf dem Korridor eine elende Uhr tickt? Entspricht denn etwa alles dies meiner Berühmtheit und der hohen Stellung, die ich in der Welt einnehme? Und auf diese Frage besteht meine Antwort in einem Lächeln. Ich lächle über die Naivität, mit der ich einst in meiner Jugend die Bedeutung der Berühmtheit und der exklusiven Stellung, welche berühmte Männer anscheinend genießen, weit überschätzte. Ich bin berühmt, mein Name wird mit Ehrerbietung genannt, mein Bild hat in der Niwa3 und in der Allgemeinen Illustrierten Zeitung gestanden, meine Biographie habe ich sogar in einer deutschen Zeitschrift gelesen: und was habe ich nun von alledem? Ich sitze mutterseelenallein in einer fremden Stadt, auf einem fremden Bette und reibe mit der Hand meine kranke Backe. Familiengezänk, Hartherzigkeit von Gläubigern, Grobheit der Eisenbahnbeamten, die Unbequemlichkeiten des Paßwesens, die teure und ungesunde Kost in den Bahnhofsrestaurationen, die allgemeine Unhöflichkeit und Grobheit im Verkehr, alles dies und vieles andere, dessen Aufzählung zu lang werden würde, berührt mich nicht weniger als jeden beliebigen Kleinbürger, den niemand kennt als die Bewohner seiner Gasse. Worin kommt denn die Exklusivität meiner Stellung zum Ausdruck? Und wenn ich tausendmal ein berühmter Mann bin, ein hervorragender Geist, auf den das Vaterland stolz ist, – nun ja, man druckt in allen Zeitungen Bulletins über meine Krankheit ab, und es gehen mir durch die Post teilnehmende Zuschriften von Kollegen, von Schülern und aus dem Publikum zu; aber alles dies hindert mich nicht, auf einem fremden Bette, in Gram und Kummer, in völliger Vereinsamung zu sterben. Gewiß, es trifft niemanden dabei eine Schuld; aber obwohl es fast wie eine Sünde klingt: ich habe an der Popularität meines Namens keine Freude. Es kommt mir vor, als hätte mich diese Popularität betrogen.

Um zehn Uhr schlafe ich ein; trotz meines Gesichtsschmerzes schlafe ich fest und würde lange geschlafen haben, wenn ich nicht aufgeweckt worden wäre. Bald nach ein Uhr wird plötzlich an meine Tür geklopft.

»Wer ist da?«

»Eine Depesche.«

»Das hätte auch bis morgen Zeit gehabt,« sage ich ärgerlich, als ich die Depesche von dem Kellner in Empfang nehme. »Nun werde ich nicht zum zweitenmal einschlafen.«

»Verzeihen Sie! Ich sah, daß bei Ihnen Licht brannte, und glaubte, Sie schliefen noch nicht.«

Ich öffne die Depesche und sehe vor allem nach der Unterschrift: von meiner Frau. Was will sie?

»Gestern hat sich Gnecker mit Lisa heimlich trauen lassen. Komm zurück!«

Ich lese diese Depesche und bekomme einen Schreck, der allerdings nicht lange dauert. Worüber ich erschrecke, das ist nicht der Schritt, den Lisa und Gnecker unternommen haben, sondern der Gleichmut, mit dem ich die Nachricht von ihrer Verheiratung aufnehme. Man sagt, die Philosophen und die wahren Weisen seien gleichmütig. Das ist nicht wahr; der Gleichmut ist eine Paralyse der Seele, ein vorzeitiger Tod.

Ich lege mich wieder ins Bett und überlege, mit was für Gedanken ich mich wohl beschäftigen könnte. Worüber soll ich nachdenken? Mir scheint, es sei schon alles von mir durchdacht worden, und es gebe nichts, was jetzt imstande wäre, meine Denktätigkeit anzuregen.

Als es hell wird, sitze ich auf dem Bette, umfasse die Knie mit den Händen und versuche aus Langerweile mich selbst zu erkennen. »Erkenne dich selbst!« das ist ein schöner, nützlicher Rat; schade nur, daß die Alten nicht daran gedacht haben, die Mittel anzugeben, wie man sich dieses Rates bedienen könne.

Wenn mich früher die Lust ankam, das Wesen irgend jemandes oder mein eigenes zu erkennen, so richtete ich mein Augenmerk nicht auf die Handlungen, bei denen ja alles von den äußeren Umständen abhängt, sondern auf die Wünsche. Sage mir, was du wünschest, und ich werde dir sagen, wer du bist.

Auch jetzt prüfe ich mich selbst: was möchte ich?

Ich möchte, daß unsere Frauen, unsere Kinder, unsere Freunde und unsere Schüler an uns nicht den Namen, das Aushängeschild und das Etikett liebten, sondern die Menschen, die gewöhnlichen Menschen. Was noch? Ich möchte Gehilfen und Nachfolger haben. Was noch? Ich möchte nach etwa hundert Jahren erwachen und wenigstens einen kurzen Blick auf den Stand der Wissenschaft werfen. Ich möchte noch zehn Jahre leben … Was noch weiter?

Weiter nichts. Ich überlege, überlege lange und kann nichts mehr ersinnen. Und wie lange ich auch überlege, und wohin ich auch meine Gedanken richten würde, das ist mir klar, daß meinen Wünschen etwas sehr Wesentliches, gerade das Wichtigste fehlen würde. Meinem leidenschaftlichen Interesse für die Wissenschaft, meinem Wunsche weiterzuleben, diesem Sitzen auf dem fremden Bette und dem Versuche, mich selbst zu erkennen, allen Gedanken, Gefühlen und Begriffen, die ich mir über alle Dinge bilde, alledem fehlt das gemeinsame Band, durch das alles erst zu einem einheitlichen Ganzen verknüpft werden würde. Jedes Gefühl und jeder Gedanke führt in mir sein Sonderdasein, und in allen meinen Urteilen über die Wissenschaft, über das Theater, über die Literatur, über meine Schüler und in all den Bildern, die meine Einbildungskraft entwirft, würde selbst der geschickteste Psychologe nicht das finden, was man die Gesamtidee oder den »Gott im lebendigen Menschen« nennt.

Wenn aber das fehlt, so ist alles andere nichtig und wertlos.

Bei solcher Armut haben ein ernstes körperliches Leiden, die Furcht vor dem Tode, die Einwirkung äußerer Umstände und anderer Menschen ausgereicht, um alles das, was ich früher für meine Weltanschauung hielt, und worin ich den Inhalt und die Freude meines Lebens erblickte, völlig umzustürzen und in Trümmer zu legen. Daher ist es kein Wunder, daß ich mir die letzten Monate meines Lebens durch Gedanken und Gefühle verdunkelt habe, die nur eines Sklaven und Barbaren würdig sind, und daß ich jetzt teilnahmlos hier sitze und auf den Tagesanbruch nicht achte. Wenn im Menschen nicht das vorhanden ist, was höher und stärker ist als alle äußeren Einwirkungen, dann genügt wahrhaftig schon ein tüchtiger Schnupfen, um ihn das Gleichgewicht verlieren und in jedem Vogel eine Eule sehen, in jedem Ton ein Hundegeheul hören zu lassen. Und sein ganzer Pessimismus oder Optimismus mit seinen großen und kleinen Gedanken hat in solchen Zeiten lediglich die Bedeutung eines Symptoms, aber keine reelle Wirkung.

Ich bin besiegt. Wenn es so steht, dann hat es weiter keinen Zweck, nachzudenken und zu reden. Ich werde so sitzen bleiben und schweigend abwarten, was da kommen wird.

Am Morgen bringt mir der Kellner Tee und die soeben erschienene Nummer des Lokalblattes. Mechanisch überfliege ich die Annoncen auf der ersten Seite, den Leitartikel, die Auszüge aus anderen Zeitungen und Journalen, die Tageschronik. Und in dieser letzteren finde ich unter anderm folgende Notiz: »Gestern ist unser berühmter Gelehrter, der hochverdiente Professor Nikolai Stepanowitsch ***, mit dem Kurierzuge in Charkow eingetroffen und im Hotel *** abgestiegen.«

Offenbar sind berühmte Namen dazu geschaffen, ein Sonderleben neben ihren Trägern zu führen. Jetzt wandert mein Name ungestört in Charkow umher; nach drei Monaten wird er in goldenen Buchstaben auf meinem Grabdenkmal blitzen wie die Sonne, während ich selbst bereits unter einer Moosdecke liegen werde.

Ein leichtes Klopfen an der Tür; es will jemand zu mir.

»Wer ist da? Herein!«

Die Tür öffnet sich; erstaunt trete ich einen Schritt zurück und schlage eiligst die Schöße meines Schlafrocks übereinander. Vor mir steht Katja.

»Guten Morgen!« sagt sie, noch ganz außer Atem vom Treppensteigen. »Das haben Sie wohl nicht erwartet? Ich bin auch … bin auch hergekommen.«

Sie setzt sich und fährt stockend und ohne mich anzusehen fort:

»Warum sagen Sie mir nicht Guten Tag? Ich bin auch hergekommen … heute … Ich erfuhr, daß Sie in diesem Hotel abgestiegen seien, und da bin ich zu Ihnen hergekommen.«

»Ich freue mich sehr, dich zu sehen,« sage ich achselzuckend. »Aber ich bin erstaunt … Du erscheinst hier so plötzlich wie vom Himmel gefallen. Warum bist du denn eigentlich hier?«

»Ich? Nun, ohne besonderen Anlaß … Ich habe mich einfach aufgesetzt und bin hergefahren.«

Stillschweigen. Auf einmal steht sie mit einer raschen, heftigen Bewegung auf und tritt auf mich zu.

»Nikolai Stepanowitsch!« sagt sie; sie ist ganz blaß geworden und drückt die Hände gegen die Brust. »Nikolai Stepanowitsch! Ich kann so nicht mehr weiterleben! Ich kann es nicht! Um Gottes willen, sagen Sie mir schnell, augenblicklich: was soll ich tun? Sagen Sie mir: was soll ich tun?«

»Was kann ich dir sagen?« erwidere ich verwundert. »Ich kann dir nichts sagen.«

»Sagen Sie es mir doch, ich flehe Sie an!« fährt sie, schwer atmend und am ganzen Leibe zitternd, fort. »Ich schwöre Ihnen, daß ich so nicht weiterleben kann! Meine Kraft ist zu Ende!«

Sie fällt auf einen Stuhl nieder und beginnt zu schluchzen. Sie hat den Kopf zurückgeworfen, ringt die Hände und stampft mit den Füßen; der Hut ist ihr vom Kopfe gefallen und schaukelt am Gummibande; das Haar ist ihr in Unordnung geraten.

»Helfen Sie mir! Helfen Sie mir!« fleht sie. »Ich kann nicht mehr!«

Sie holt das Taschentuch aus ihrem Reisetäschchen hervor und zieht damit zugleich ein paar Briefe heraus, die dann von ihren Knien auf den Fußboden fallen. Ich hebe sie auf, erkenne bei einem derselben die Handschrift Michail Fedorowitschs und lese zufällig ein Stück von einem Worte: »leidenschaft…«

 

»Ich kann dir nichts sagen, Katja,« wiederhole ich.

»Helfen Sie mir!« schluchzt sie, ergreift meine Hand und küßt sie. »Sie sind ja doch mein Vater, mein einziger Freund! Sie sind ja klug und gebildet und haben lange gelebt! Sie sind Lehrer gewesen! Sagen Sie mir doch: was soll ich tun?«

»Auf Ehre und Gewissen, Katja: ich weiß nicht …«

Ich bin fassungslos, verlegen, von ihrem Schluchzen gerührt und kann mich kaum auf den Beinen halten.

»Komm, Katja, wir wollen frühstücken,« sage ich mit einem gezwungenen Lächeln. »Hör doch auf zu weinen!«

Und unmittelbar darauf füge ich mit leiserer Stimme hinzu: »Ich werde bald nicht mehr sein, Katja …«

»Nur ein Wort, nur ein einziges Wort!« ruft sie weinend und streckt die Hände nach mir aus. »Was soll ich tun?«

»Eine wunderliche Person bist du, wahrhaftig,« murmle ich. »Es ist mir unbegreiflich! Sonst so verständig … und nun zerfließt du auf einmal in Tränen …«

Es tritt ein Stillschweigen ein. Katja bringt ihr Haar in Ordnung und setzt den Hut auf; dann knittert sie die Briefe achtlos zusammen und schiebt sie in die Reisetasche; alles das tut sie schweigend und ohne Hast. Ihr Gesicht, ihre Brust und ihre Handschuhe sind noch feucht von Tränen; aber der Ausdruck ihres Gesichtes ist bereits streng und fest … Ich sehe sie an und schäme mich, daß ich glücklicher bin als sie. Der Mangel dessen, was meine Kollegen, die Philosophen, die Gesamtidee nennen, ist mir erst kurz vor meinem Tode, beim Niedergange meiner Tage, zum Bewußtsein gekommen; die Seele der armen Katja aber hat bisher nie das Gefühl des Geborgenseins kennen gelernt und wird es ihr ganzes Leben lang nicht kennen lernen!

»Komm, Katja, wir wollen frühstücken,« sage ich.

»Nein, danke,« antwortet sie kühl.

Es vergeht noch eine Minute unter beiderseitigem Stillschweigen.

»Charkow gefällt mir nicht,« beginne ich dann. »Es macht alles so einen grauen Eindruck. Eine graue Stadt.«

»Ja, das ist wohl richtig … Eine häßliche Stadt … Ich bin nur auf kurze Zeit hier … Auf der Durchreise. Ich fahre heute noch weiter.«

»Wohin?«

»Nach der Krim … ich wollte sagen: nach dem Kaukasus.«

»So. Auf lange?«

»Ich weiß nicht.«

Katja steht auf und reicht mir mit einem kalten Lächeln und ohne mich anzusehen die Hand.

Ich möchte sie fragen: »Dann bist du also zu meinem Begräbnisse nicht da?« Aber sie sieht mich nicht an, und ihre Hand liegt so kühl in der meinen, als ob sie mir eine Fremde wäre. Ich begleite sie schweigend bis an die Tür … Nun hat sie mein Zimmer verlassen und geht den langen Korridor entlang, ohne sich umzusehen. Sie weiß, daß ich ihr nachschaue, und wird sich wohl an der Ecke noch einmal umblicken.

Nein, sie hat sich nicht umgeblickt. Das letzte Stück ihres schwarzen Kleides ist verschwunden, ihre Schritte sind verhallt … Lebewohl, du mein Teuerstes auf der Welt!

3Eine sehr verbreitete illustrierte Wochenschrift, einigermaßen ähnlich der Gartenlaube. Anm. des Übers.
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