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Eine langweilige Geschichte

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III

Sie liegt wie gewöhnlich auf dem türkischen Sofa oder einer Chaiselongue und liest ein Buch. Sobald sie mich erblickt, hebt sie träge den Kopf in die Höhe, setzt sich aufrecht und streckt mir die Hand entgegen.

»Immer liegst du,« sage ich, nachdem ich ein Weilchen geschwiegen und mich erholt habe. »Das ist ungesund. Du solltest dir irgendeine Tätigkeit zurechtmachen.«

»Was sagen Sie?«

»Ich sage, du solltest dir irgendeine Tätigkeit zurechtmachen.«

»Was für eine Tätigkeit? Eine Frau kann weiter nichts sein als entweder einfache Arbeiterin oder Schauspielerin.«

»Nun gut: wenn du also nicht Arbeiterin sein kannst, so werde wieder Schauspielerin.«

Sie schweigt.

»Du solltest heiraten,« sage ich halb im Scherz.

»Ich wüßte nicht, wen. Und es liegt mir auch nichts daran.«

»So, wie du lebst, das ist kein Leben.«

»Ohne Mann? Große Sache! Männer könnte ich haben, soviel ich wollte, wenn ich nur Lust hätte.«

»Das ist häßlich, Katja.«

»Was ist häßlich?«

»Was du da eben gesagt hast.«

Da sie merkt, daß ich mich verletzt fühle, möchte sie den üblen Eindruck wieder gutmachen und sagt:

»Kommen Sie! Wir wollen anderswohin gehen. Dorthin.«

Sie führt mich in ein kleines, sehr behagliches Zimmerchen und sagt, indem sie auf einen Schreibtisch hinweist:

»Da! Ich habe ihn für Sie angeschafft. Hier können Sie arbeiten. Kommen Sie alle Tage her und bringen Sie Ihre Arbeit mit! Dort bei Ihnen zu Hause stört man Sie doch nur. Wollen Sie hier arbeiten? Ja? Wollen Sie?«

Um sie nicht durch eine abschlägige Antwort zu kränken, erwidere ich ihr, ich würde bei ihr arbeiten, und das Zimmer gefalle mir außerordentlich. Darauf lassen wir uns beide in dem gemütlichen Zimmerchen nieder und fangen an, uns zu unterhalten.

Die Wärme, die anheimelnde Umgebung und die Anwesenheit eines mir sympathischen Menschen erwecken in mir jetzt nicht wie in früheren Zeiten ein Gefühl des Vergnügens, sondern einen starken Drang zu klagen und zu murren. Ich habe die Vorstellung, wenn ich murre und klage, wird mir leichter ums Herz werden.

»Es ist ein übles Ding, mein liebes Kind!« beginne ich mit einem Seufzer. »Ein sehr übles Ding …«

»Was denn?«

»Ich will dir sagen, um was es sich handelt, meine Liebe. Das schönste und heiligste Recht der Könige ist das Recht der Begnadigung. Und ich bin mir immer wie ein König vorgekommen, da ich dieses Recht in unbegrenztem Maße ausübte. Ich habe nie über jemand den Stab gebrochen, bin nachsichtig gewesen und habe gern allen Menschen rings um mich herum verziehen. Wo andere protestierten und empört waren, da habe ich nur durch Ratschläge und Überredung zu wirken gesucht. Mein ganzes Leben hindurch ist mein Bestreben nur darauf gerichtet gewesen, meiner Familie, den Studenten, den Kollegen, den Dienstboten den Verkehr mit mir erträglich zu machen. Und dieses mein Betragen den Menschen gegenüber hat, das weiß ich, auf alle, die mit mir zu tun hatten, erzieherisch gewirkt. Aber jetzt bin ich kein König mehr. In meiner Seele bildet sich eine Gesinnung heraus, die nur für Sklavenseelen paßt; in meinem Kopfe wimmelt es Tag und Nacht von bösen Gedanken, und in meinem Herzen hat sich ein ganzer Schwarm von Empfindungen eingenistet, wie ich sie früher nie gekannt habe. Ich hasse, verachte, bin mißvergnügt und empört und fürchte mich. Ich bin über die Maßen streng, anspruchsvoll, reizbar, unliebenswürdig und argwöhnisch geworden. Selbst Dinge, die mir früher lediglich Anlaß gaben, einen munteren Scherz zu machen und gutmütig zu lachen, rufen jetzt bei mir ein drückendes, beängstigendes Gefühl hervor. Auch meine Logik hat sich geändert: früher richtete sich meine Verachtung nur gegen das Geld; jetzt aber hege ich ein feindseliges Gefühl gegen die Reichen, als ob diese irgendwelche Schuld träfe; früher haßte ich Gewalttätigkeit und Willkür; aber jetzt hasse ich die Menschen, die gewalttätig verfahren, als ob sie allein schuld wären und nicht vielmehr wir alle, die wir einander nicht zu erziehen verstehen. Woher kommt das? Wenn diese neuen Gedanken und neuen Empfindungen in einer Veränderung meiner Überzeugungen ihren Ursprung haben, welchen Grund mag dann diese Veränderung haben? Ist die Welt schlechter geworden und ich besser, oder war ich früher blind und achtlos? Wenn aber diese Veränderung von einem allgemeinen Verfall meiner körperlichen und geistigen Kräfte herrührt (ich bin ja tatsächlich krank und verliere täglich an Gewicht), dann ist meine Lage eine ganz klägliche, dann sind meine neuen Gedanken nicht normal, sondern krankhaft, und ich muß mich ihrer schämen und sie für völlig wertlos erachten …«

»Ihre Krankheit hat damit nichts zu tun,« unterbricht mich Katja; »es sind Ihnen einfach die Augen aufgegangen; das ist das Ganze. So haben Sie erblickt, was Sie früher aus irgendwelchem Grunde nicht wahrnehmen wollten. Meiner Ansicht nach ist vor allen Dingen notwendig, daß Sie sich von Ihrer Familie trennen und von ihr fortgehen.«

»Du redest Torheiten.«

»Sie lieben sie nicht mehr; wozu da noch heucheln? Und ist denn das eine Familie für Sie? Ganz wertlose Geschöpfe! Wenn sie heute stürben, so würde sie schon morgen kein Mensch mehr vermissen.«

Katja verachtet meine Frau und meine Tochter ebenso stark, wie diese beiden sie hassen. Man darf in unserer Zeit ja kaum von einem Rechte der Menschen reden, einander zu verachten. Aber wenn man sich auf Katjas Standpunkt stellt und das Vorhandensein eines solchen Rechtes behauptet, dann muß man allerdings sagen, daß sie mit demselben Rechte meine Frau und Lisa verachtet, mit welchem diese sie hassen.

»Ganz wertlose Geschöpfe!« sagt sie noch einmal. »Haben Sie heute zu Mittag gegessen? Mich wundert nur, daß Ihre Angehörigen nicht vergessen haben, Sie zu Tisch zu rufen, daß sie überhaupt noch an Ihre Existenz denken.«

»Katja,« sage ich in strengem Tone, »ich bitte dich zu schweigen.«

»Meinen Sie denn, daß es mir Vergnügen macht, von ihnen zu reden? Ich wäre froh, wenn ich sie überhaupt nicht kennte. Hören Sie auf mich, teurer Freund: lassen Sie alles im Stich, und reisen Sie weg! Reisen Sie ins Ausland! Je eher, um so besser.«

»Was für Unsinn! Und die Universität?«

»Lassen Sie auch die Universität im Stich! Was haben Sie von der? Etwas Gescheites kommt ja doch nicht dabei heraus. Da halten Sie nun schon dreißig Jahre lang Vorlesungen, und was ist aus Ihren Schülern geworden? Haben Sie etwa viele berühmte Gelehrte herangebildet? Zählen Sie sie doch einmal zusammen! Und um die Zahl dieser Ärzte zu vermehren, die die Unwissenheit der Patienten ausbeuten und Hunderttausende von Rubeln zusammenscharren, dazu bedarf es keines talentvollen, herzensguten Menschen. Sie sind hier völlig entbehrlich.«

»Mein Gott, was hast du für eine scharfe Zunge!« sage ich erschrocken. »Was für eine scharfe Zunge! Schweig still, sonst gehe ich fort. Ich verstehe mich nicht darauf, auf deine bissigen Reden zu antworten.«

Das Stubenmädchen tritt ein und ruft uns zum Tee. Beim Samowar wendet sich unser Gespräch glücklicherweise anderen Gegenständen zu. Nachdem ich bereits zur Genüge geklagt habe, bekomme ich Lust, der andern Schwäche, die mein Alter mit sich gebracht hat, freien Lauf zu lassen, dem Umherkramen in Erinnerungen. Ich erzähle Katja aus meiner Vergangenheit und teile ihr zu meinem eigenen größten Erstaunen allerlei Einzelheiten mit, von denen ich gar nicht geahnt habe, daß sie sich noch in meinem Gedächtnis erhalten haben. Sie aber hört mir gerührt, stolz, mit angehaltenem Atem zu. Besondere Freude macht es mir, ihr davon zu erzählen, wie ich ehemals Seminarschüler war, und wie es das Ziel meiner Sehnsucht war, die Universität zu beziehen.

»Manchmal ging ich in unserem Seminargarten spazieren,« erzähle ich. »Da trug der Wind aus irgendeiner fernen Schenke die Töne einer quiekenden Harmonika und eines Liedes herüber, oder es jagte an dem Zaune des Seminargartens eine Troika mit Schellengeklingel vorbei, und dies genügte vollständig, um plötzlich ein Gefühl des Glückes nicht nur in meiner Brust, sondern auch in meinem Bauche, in den Beinen, in den Händen hervorzurufen. Ich horchte nach der Harmonika oder dem verklingenden Schellengeläute hin und stellte mir vor, ich sei Arzt, und malte mir Bilder aus, eines immer schöner als das andere. Und nun sind, wie du siehst, meine Träume in Erfüllung gegangen. Ich habe mehr erreicht, als ich zu hoffen wagte. Dreißig Jahre lang bin ich ein beliebter Professor gewesen, habe vortreffliche Kollegen gehabt und mich eines ehrenvollen Renommees erfreut. Ich habe geliebt, habe aus leidenschaftlicher Liebe geheiratet; es sind mir Kinder geboren. Kurz, wenn ich zurückblicke, so erscheint mir mein ganzes Leben wie eine hübsche, talentvolle Komposition. Jetzt bleibt mir nur noch eines zu tun: dafür zu sorgen, daß ich das Finale nicht verderbe. Zu diesem Zwecke muß ich in einer menschenwürdigen Weise sterben. Wenn der Tod wirklich eine Gefahr ist, so muß ich ihm so entgegentreten, wie es sich für einen Lehrer, für einen Gelehrten und für den Bürger eines christlichen Staates ziemt: mutig und ruhigen Herzens. Aber ich werde das Finale verderben. Ich bin nahe daran, zu ertrinken, komme zu dir hergelaufen und bitte um Hilfe; du aber sagst zu mir: ›Ertrinken Sie nur; das muß so sein!‹«

Aber in diesem Augenblick ertönt im Vorzimmer die Klingel. Wir beide, Katja und ich, erkennen diese Art zu klingeln und sagen:

»Das ist gewiß Michail Fedorowitsch.«

Und wirklich tritt einen Augenblick darauf mein Kollege, der Philologe Michail Fedorowitsch, ins Zimmer, ein hochgewachsener, wohlgebildeter Mann von etwa fünfzig Jahren, mit dichtem, grauem Haar, schwarzen Brauen und glatt rasiertem Gesicht. Er ist ein guter Mensch und ein vorzüglicher Kollege. Er stammt aus einer alten Adelsfamilie, die eine recht glückliche Vergangenheit hat, viele talentvolle Männer zu ihren Mitgliedern zählt und in der Geschichte unserer Literatur und Bildung eine bedeutende Rolle spielt. Auch er selbst ist klug, talentvoll und hochgebildet, aber nicht frei von Sonderbarkeiten. Bis zu einem gewissen Grade sind wir ja alle seltsame, wunderliche Käuze; aber seine Sonderbarkeiten zeigen sich ausschließlich seinen Bekannten gegenüber und sind für diese nicht ungefährlich. Unter seinen Bekannten kenne ich nicht wenige, die über seinen Sonderbarkeiten gar kein Auge für seine zahlreichen guten Eigenschaften haben.

 

Als er zu uns ins Zimmer tritt, zieht er langsam die Handschuhe aus und sagt mit seiner weichen, tiefen Stimme:

»Guten Abend. Sie sind beim Tee? Das kommt mir sehr zupaß. Es ist nichtswürdig kalt draußen.«

Dann setzt er sich an den Tisch, nimmt sich ein Glas und beginnt sogleich zu reden. Das Charakteristischste an seiner Art zu reden ist sein beständig scherzhafter Ton, eine Art Mischung von Philosophie und Possenreißerei, wie bei den Shakespearischen Totengräbern. Er redet immer über ernste Dinge, aber niemals in ernster Art. Seine Urteile sind immer scharf und spöttisch; aber infolge des weichen, gleichmäßigen, scherzhaften Tones verletzen die Schärfe und der Spott nicht das Ohr des Hörers, und man gewöhnt sich bald daran. Jeden Abend bringt er fünf bis sechs Anekdoten aus dem Universitätsleben mit und fängt sie meist zu erzählen an, sobald er sich an den Tisch setzt.

»Mein Gott!« seufzt er und bewegt dabei spöttisch seine schwarzen Augenbrauen. »Was gibt es doch für komische Gesellen auf der Welt!«

»Wieso?« fragt Katja.

»Ich komme heute aus meiner Vorlesung und treffe auf der Treppe diesen alten Idioten, unsern N. N. Er steigt die Treppe hinauf, hält wie gewöhnlich sein Pferdekinn nach vorn gestreckt und sucht jemand, dem er über seine Migräne, über seine Frau und über die Studenten, die seine Vorlesungen nicht besuchen wollen, etwas vorklagen kann. ›Na,‹ denke ich, ›gesehen hat er mich nun einmal; jetzt bin ich geliefert, es wird mir schlimm ergehen …‹«

Und so fort, immer in derselben Art. Oder er beginnt so:

»Gestern war ich in der öffentlichen Vorlesung unseres Kollegen Z. Ich wundere mich, wie unsere alma mater es übers Herz bringen kann, dem Publikum (mit Verlaub gesagt) solche Tölpel und patentierten Holzköpfe zu präsentieren wie diesen Z. Er ist ja doch ein Dummrian erster Klasse! Ich bitte Sie, in ganz Europa findet man bei Tage mit der Laterne kein zweites derartiges Exemplar! Stellen Sie sich das nur einmal vor: er liest, als wenn er Kandiszucker lutschte! Zju, zju, zju … Er bekam es mit der Angst, konnte sein Manuskript schlecht lesen, und die dürftigen Gedanken krochen nur ganz langsam dahin, mit der Geschwindigkeit eines radfahrenden Archimandriten; und, was die Hauptsache war, man konnte absolut nicht verstehen, was er eigentlich sagen wollte. Es herrschte eine furchtbare Langeweile, so daß die Fliegen davon starben. Diese Langeweile läßt sich nur mit derjenigen vergleichen, die in unserer Aula bei dem jährlichen Aktus herrscht, wenn die herkömmliche Rede gehalten wird. Hol sie der Teufel!«

Und dann fährt er mit einem scharfen Übergange fort:

»Vor drei Jahren (hier unser Nikolai Stepanowitsch wird sich noch daran erinnern) hatte ich diese Rede zu halten. Es war heiß und schwül, die Uniform kniff mich unter den Armen, – es war zum Krepieren! Ich las eine halbe Stunde, eine Stunde, anderthalb Stunden, zwei Stunden. ›Na,‹ dachte ich, ›Gott sei Dank, jetzt sind es nur noch zehn Seiten.‹ Und ganz am Schluß hatte ich vier Seiten, die ich gut und gern ungelesen lassen konnte, und ich nahm mir vor, sie wegzulassen. ›Also dann bleiben nur noch sechs,‹ dachte ich. Aber denken Sie sich: ich warf einen flüchtigen Blick nach den Zuhörern und sah, daß da in der ersten Reihe nebeneinander ein General mit einem Ordensbande und ein Bischof saßen. Die armen Kerle waren ganz starr vor Langerweile und rissen krampfhaft die Augen auf, um nicht einzuschlafen; aber sie bemühten sich trotzdem, ihren Gesichtern den Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit zu geben, und taten, als ob sie meine Vorlesung verständen und Genuß davon hätten. ›Na,‹ dachte ich, ›wenn es euch so viel Vergnügen macht, dann will ich es euch gründlich geben! Euch zum Possen!‹ Und ich las auch noch die ganzen vier letzten Seiten mit.«

Wenn er spricht, so lächeln bei ihm, wie überhaupt bei spottlustigen Leuten, nur die Augen und die Brauen. In seinen Augen liegt zu solcher Zeit nichts von Haß oder Bosheit, wohl aber viel Witz und jene besondere fuchsartige Schlauheit, die man nur bei Menschen mit sehr gut entwickelter Beobachtungsgabe bemerken kann. Von seinen Augen möchte ich ferner erwähnen, daß ich an ihnen noch eine besondere Eigentümlichkeit wahrgenommen habe. Jedesmal wenn er von Katja ein gefülltes Glas hinnimmt oder eine von ihr gemachte Bemerkung anhört oder ihr mit dem Blicke folgt, wenn sie einmal für kurze Zeit das Zimmer verläßt, bemerke ich in seinem Blicke etwas Sanftes, Flehendes, Reines …

Das Stubenmädchen nimmt den Samowar fort und stellt ein großes Stück Käse, allerlei Obst und eine Flasche Krim-Schaumwein auf den Tisch, einen ziemlich schlechten Wein, an dem aber Katja, als sie in der Krim wohnte, Geschmack gewonnen hat. Michail Fedorowitsch nimmt von einer Etagère zwei Spiele Karten und legt Patience. Nach seiner Versicherung erfordern einige Arten von Patience viel Kombinationssinn und Aufmerksamkeit; aber trotzdem redet er während des Legens munter weiter. Katja verfolgt aufmerksam seine Manipulationen mit den Karten und ist ihm mehr durch Mimik als durch Worte behilflich. Von dem Weine trinkt sie den ganzen Abend über nicht mehr als zwei Gläser, und ich trinke ein Viertel Glas; der übrige Teil der Flasche entfällt auf Michail Fedorowitsch, der viel trinken kann, ohne daß es ihm in den Kopf steigt.

Während des Patiencelegens disputieren wir über allerlei Fragen, namentlich höherer Art, wobei das, was wir beide am meisten lieben, am schlimmsten wegkommt, nämlich die Wissenschaft.

»Die Wissenschaft ist, Gott sei Dank, am Ende ihres Daseins angelangt,« sagt Michail Fedorowitsch; er spricht in einzelnen Absätzen. »Mit der geht es auf die Neige. Ja, ja. Die Menschheit verspürt bereits das Bedürfnis, etwas anderes an die Stelle der Wissenschaft zu setzen. Die Wissenschaft ist auf einem Boden von falschen Vorstellungen entsprossen, hat sich von falschen Vorstellungen genährt und bildet jetzt eine ebensolche Quintessenz von falschen Vorstellungen, wie ihre abgelebten Großmütter: Alchimie, Metaphysik und Philosophie. Und wirklich, was hat sie der Menschheit gegeben? Zwischen den gelehrten Europäern und den aller Wissenschaft entbehrenden Chinesen ist doch der Unterschied nur ein minimaler, rein äußerlicher. Die Chinesen haben keine Wissenschaft gekannt; aber was haben sie dadurch verloren?«

»Auch die Fliegen kennen keine Wissenschaft,« entgegne ich, »aber was folgt daraus?«

»Sie ärgern sich ganz unnötigerweise, Nikolai Stepanowitsch. Ich rede ja so nur hier, wo wir unter uns sind. Ich bin vorsichtiger, als Sie meinen, und werde das nicht öffentlich aussprechen, Gott behüte. Die große Menge ist in der falschen Vorstellung befangen, die Wissenschaften und Künste ständen höher als Ackerbau, Handel und Gewerbe. Unsere Sekte lebt von dieser falschen Vorstellung, und es ist nicht meine und Ihre Sache, diese Vorstellung zu zerstören. Gott behüte!« Während des Patiencelegens bekommt auch die Jugend gehörig etwas ab.

»Unsere Hörerschaft ist heutzutage einer argen Verflachung anheim gefallen,« bemerkt Michail Fedorowitsch seufzend. »Ich will gar nicht einmal von Idealen und solchen Dingen reden; wenn sie nur wenigstens zu arbeiten und vernünftig zu denken verständen! Da trifft das Wort zu: ›Ich schaue nur mit Schmerz das heutige Geschlecht.‹«

»Ja, die jetzige Generation ist entsetzlich verflacht,« stimmt ihm Katja bei. »Sagen Sie, haben Sie in den letzten fünf, zehn Jahren unter Ihren Hörern auch nur einen einzigen hervorragenden Menschen gehabt?«

»Ich weiß nicht, wie es damit bei andern Professoren steht; aber unter meinen eigenen Hörern kann ich mich auf keinen solchen besinnen.«

»Ich habe in meinem Leben viele Studenten, viele junge Gelehrte, viele Schauspieler kennen gelernt; aber nie habe ich das Glück gehabt, ich will gar nicht einmal sagen einem Geistesheros oder einem Talente, sondern nur ganz einfach einem interessanten Menschen darunter zu begegnen. Alles grau, talentlos, voll Dünkel und Anmaßung …«

Alle diese Gespräche über Verflachung wirken auf mich jedesmal ebenso, wie wenn ich unversehens häßliche Bemerkungen über meine Tochter erlauschte. Es ist mir verdrießlich, daß die Anklagen sich so allgemein gegen die ganze Jugend richten und sich auf solche längst abgenutzten Schlagwörter gründen, wie es die Redensarten von Verflachung und von einem Mangel an Idealen und der Hinweis auf die schöne Vergangenheit sind. Jede Anklage, auch wenn sie in Damengesellschaft vorgebracht wird, muß möglichst präzise formuliert sein; sonst ist es eben keine Anklage, sondern eine leere, anständiger Menschen unwürdige Verleumdung.

Ich bin ein alter Mann und stehe schon dreißig Jahre in meinem Amte; aber ich bemerke weder eine Verflachung noch einen Mangel an Idealen und kann nicht finden, daß es jetzt in dieser Hinsicht übler bestellt wäre als früher. Mein Portier Nikolai, dessen Erfahrung auf diesem Gebiet nicht ohne Wert ist, sagt, die heutigen Studenten seien nicht besser und nicht schlechter als die früheren. Wenn mich jemand fragte, was mir an meinen jetzigen Hörern mißfalle, so würde ich keine zusammenfassende Antwort geben, sondern einige Punkte mit hinlänglicher Präzision aufzählen. Die Mängel meiner Studenten kenne ich genau und brauche daher nicht zu nebelhaften, allgemeinen Schlagworten meine Zuflucht zu nehmen. Mir mißfällt, daß sie Tabak rauchen, alkoholische Getränke genießen und spät heiraten; ferner daß sie gedankenlos in den Tag hineinleben und oft eine solche Gleichgültigkeit zeigen, daß sie unter sich Hungernde dulden und an den Verein zur Unterstützung bedürftiger Studenten ihre fälligen Beiträge nicht bezahlen. Sie verstehen die neueren Sprachen nicht und können sich auf russisch nicht korrekt ausdrücken; erst gestern klagte mir mein Kollege, der Hygieniker, er müsse die Zeitdauer seiner Vorlesung verdoppeln, weil sie so wenig Physik verständen und mit der Meteorologie gar nicht Bescheid wüßten. Sie lassen sich in ihren Ansichten gern von den Schriftstellern der neuesten Zeit leiten, aber keineswegs von den besten; dagegen stehen sie Klassikern wie Shakespeare, Marc Aurel, Epiktet, Pascal völlig kühl gegenüber. In dieser Unfähigkeit, das Große vom Kleinen zu unterscheiden, zeigt sich am allermeisten das Unpraktische ihres Wesens. Alle schwierigen Fragen, die mehr oder weniger eine soziale Bedeutung haben, wie z. B. die Frage der Freizügigkeit, entscheiden sie durch Abstimmungslisten statt auf dem Wege wissenschaftlicher Forschung und Erfahrung, wiewohl dieser Weg ihnen durchaus zugänglich ist und ihrem Berufe am meisten entsprechen würde. Gern werden sie Präparatoren, Assistenten, Laboranten, Repetenten, und es kommt ihnen nicht darauf an, in solchen Stellungen bis zu ihrem vierzigsten Lebensjahre zu verbleiben, obwohl Selbständigkeit, Freiheitssinn und persönliche Initiative in der Wissenschaft nicht minder notwendig sind als beispielsweise in der Kunst oder im Handel. Ich habe Schüler und Hörer, aber keine Gehilfen und Nachfolger, und daher mag ich sie zwar gern leiden und habe für sie alle Teilnahme, aber ich bin nicht stolz auf sie. Usw. usw. …

Solche Mängel, wieviel ihrer auch sein mögen, können eine pessimistische oder zornige Stimmung nur bei kleinmütigen, ängstlichen Menschen erzeugen. Alle diese Mängel sind ihrem ganzen Wesen nach nur zufällig und vorübergehend und hängen durchaus von den gesamten Lebensverhältnissen ab; ein paar Jahrzehnte genügen, damit sie verschwinden oder, da es nun einmal ohne Mängel nicht geht, ihren Platz andern neuen Mängeln abtreten, die dann ihrerseits wieder den Kleinmütigen einen Schreck einjagen werden. Die Studentensünden ärgern mich oft; aber dieser Ärger will nichts besagen im Vergleiche mit der Freude, die ich nun schon dreißig Jahre lang empfinde, wenn ich mit meinen Schülern ein Gespräch führe, ihnen Vorlesungen halte, ihr Verhalten untereinander beobachte und sie mit Angehörigen anderer Kreise vergleiche.

Michail Fedorowitsch führt Lästerreden, Katja hört ihm zu, und beide merken nicht, in was für einen tiefen Abgrund ein anscheinend so unschuldiges Vergnügen wie das Aburteilen über den Nächsten sie allmählich hineinzieht. Sie fühlen nicht, wie ein harmloses Gespräch Schritt für Schritt in Verspottung und Verhöhnung übergeht, und wie sie beide sogar die Kunstgriffe der Verleumdung zu gebrauchen anfangen.

 

»Es gibt doch gar zu komische Kunden,« sagt Michail Fedorowitsch. »Gestern komme ich zu unserem Jegor Petrowitsch und treffe dort einen Studiosus, einen von Ihren Medizinern, ich glaube aus dem dritten Kursus. Ein Gesicht hatte er so im Stile des Kritikers Dobroljubow, auf der Stirn den Stempel tiefen Denkens. Wir kamen miteinander ins Gespräch. ›Ja, junger Mann,‹ sage ich, ›es passieren die wunderbarsten Dinge. Da habe ich gelesen, daß ein Deutscher (seinen Namen habe ich vergessen) aus dem menschlichen Gehirn ein neues Alkaloid, Idiotin, gewonnen hat.‹ Was meinen Sie? Er glaubte es, und es malte sich sogar auf seinem Gesicht eine Art von Respekt: ›Ja, das ist eine Leistung unserer Berufsgenossen!‹ Und neulich komme ich ins Theater und setze mich auf meinen Platz. Gerade vor mir in der nächsten Reihe sitzen zwei junge Männer, der eine ›einer von unsere Lait‹ und anscheinend Jurist, der andere mit strubbligem Kopf ein Mediziner. Der Mediziner war betrunken wie ein Schuster und achtete gar nicht auf das, was auf der Bühne vorging. Er schlief, und der Kopf fiel ihm fortwährend nach vorn. Aber sowie ein Schauspieler laut einen Monolog sprach oder überhaupt die Stimme erhob, fuhr mein Mediziner zusammen, stieß seinen Nachbar in die Seite und fragte: ›Was hat er gesagt? Etwas Moralisches?‹ ›Ja, etwas Moralisches,‹ antwortete der Jude. ›Bravo!‹ brüllte der Mediziner. ›Sehr gut! Bravo!‹ Sehen Sie, dieser betrunkene Tölpel war nicht um der Kunst willen, sondern um der moralischen Gedanken willen ins Theater gekommen. Moralische Gedanken, das war ihm ein Bedürfnis.«

Katja hört zu und lacht. Sie hat eine ganz sonderbare Art zu lachen: Einatmen und Ausatmen wechseln schnell und mit rhythmischer Regelmäßigkeit miteinander ab, ähnlich wie wenn sie Harmonika spielte, und dabei lachen auf ihrem Gesichte nur die Nasenflügel. Mir wird ganz schwach zumute, und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ganz außer mir, werde ich blutrot, springe von meinem Platze auf und schreie:

»So schweigt doch endlich! Was sitzt ihr da wie zwei Kröten und vergiftet die Luft mit eurem Atem? Laßt's genug sein!«

Und ohne abzuwarten, bis sie mit ihren Lästerreden aufhören, schicke ich mich an, nach Hause zu gehen. Auch ist es schon Zeit: zehn Uhr durch.

»Ich bleibe noch ein Weilchen hier,« sagt Michail Fedorowitsch; »gestatten Sie, Jekaterina Wladimirowna?«

»Gewiß,« antwortet Katja.

»Bene. Dann lassen Sie also, bitte, noch ein Fläschchen bringen!«

Beide begleiten mich mit Licht in das Vorzimmer, und während ich mir den Pelz anziehe, sagt Michail Fedorowitsch:

»Sie sind in der letzten Zeit furchtbar abgemagert und gealtert, Nikolai Stepanowitsch. Was fehlt Ihnen? Sind Sie krank?«

»Ja, ein wenig.«

»Und dabei unternimmt er keine Kur …« fügt Katja unwillig hinzu.

»Aber warum denn nicht? Das ist ja unverantwortlich. Den Vorsichtigen behütet Gott, lieber Freund. Empfehlen Sie mich Ihren Angehörigen, und entschuldigen Sie mich bei ihnen, daß ich nicht hinkomme. In diesen Tagen, vor meiner Abreise ins Ausland, werde ich vorsprechen, um Lebewohl zu sagen. Ganz bestimmt! Ich reise in der nächsten Woche.«

Ich gehe von Katja in gereizter Stimmung weg, erschreckt durch das Gespräch über meine Krankheit und unzufrieden mit mir selbst. Ich lege mir die Frage vor: Soll ich mich wirklich von einem meiner Kollegen behandeln lassen? Und sogleich male ich mir auch aus, wie der Kollege, nachdem er mich untersucht hat, schweigend von mir weg zum Fenster geht, eine Weile nachdenkt, sich dann zu mir umwendet und, indem er sich Mühe gibt, mich nicht auf seinem Gesichte die Wahrheit lesen zu lassen, in gleichgültigem Tone sagt: »Vorläufig sehe ich nichts Besonderes; aber doch möchte ich Ihnen raten, Herr Kollege, Ihre Tätigkeit zu unterbrechen.« Und das wird mich dann der letzten Hoffnung berauben.

Wo gäbe es jemand, der nicht hoffte? Seht, wo ich mir selbst die Diagnose stelle und mich selbst behandle, hoffe ich zeitweilig, daß mich meine Unwissenheit täuscht und ich mich hinsichtlich des Eiweißes und des Zuckers irre, die ich bei mir finde, und hinsichtlich des Herzens und hinsichtlich der Anschwellungen, die ich schon zweimal bei mir morgens entdeckt habe; jetzt, wo ich mit dem Eifer eines Hypochonders die Lehrbücher der Therapie durchblättere und täglich mit der Arznei wechsle, jetzt meine ich immer, ich würde noch auf irgend etwas Tröstliches stoßen. Dieses ganze Benehmen ist kleinlich.

Mag der Himmel mit Wolken bedeckt sein oder mögen Mond und Sterne an ihm glänzen, jedesmal, wenn ich nach Hause zurückkehre, blicke ich zu ihm hinauf und denke daran, daß mir bald der Tod kommen wird. Man könnte meinen, meine Gedanken müßten zu dieser Zeit tief sein wie der Himmel und klar und großartig; aber nein! Ich denke an mich selbst, an meine Frau, an Lisa, an Herrn Gnecker, an die Studenten, an die Menschen überhaupt; ich denke häßlich und kleinlich, mache vor mir selbst Winkelzüge, und meine Weltanschauung in solchen Augenblicken läßt sich mit den Worten ausdrücken, die der berühmte Araktschejew in einem seiner intimen Briefe schrieb: »Alles Gute in der Welt kann nicht ohne Schlechtes sein, und gibt es immer mehr Schlechtes als Gutes.« Das heißt: alles ist garstig, und das Leben ist zwecklos, und die zweiundsechzig Jahre, die ich bereits gelebt habe, muß ich als verloren betrachten. Ich ertappe mich auf diesen Gedanken und suche mir einzureden, sie seien nur zufällig und vorübergehend in meinem Kopfe vorhanden und säßen da nicht tief; aber sogleich denke ich wieder:

»Wenn es so ist, warum zieht es mich denn jeden Abend zu diesen beiden Kröten hin?«

Und ich schwöre es mir zu, nie wieder zu Katja hinzugehen, obwohl ich weiß, daß ich morgen doch wieder zu ihr gehen werde.

Nachdem ich an meiner Haustüre die Klingel gezogen habe, und während ich dann die Treppe hinaufsteige, fühle ich, daß ich keine Familie mehr habe und nicht einmal den Wunsch hege, sie wiederzugewinnen. Es ist offenbar, daß die neuen Araktschejewschen Gedanken sich nicht nur so zufällig und nur für kurze Zeit bei mir eingefunden, sondern mein ganzes Wesen in Besitz genommen haben. Mit krankem Gewissen, niedergeschlagen, träge, kaum die Glieder bewegend, als ob ich viele Zentner an Gewicht zugenommen hätte, lege ich mich ins Bett und schlafe bald ein.

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