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Eine langweilige Geschichte

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Man trägt eine Viertelstunde, eine halbe Stunde vor, und da bemerkt man, daß die Studenten nach der Zimmerdecke und nach Peter Ignatjewitsch zu blicken anfangen, und daß einer sein Taschentuch hervorholt, ein anderer sich bequemer hinsetzt, ein dritter über seine eigenen Gedanken lächelt. Das sind Anzeichen dafür, daß die Aufmerksamkeit müde und stumpf wird. Dagegen müssen Maßregeln ergriffen werden. Ich benutze die erste geeignete Gelegenheit, um irgendein Späßchen anzubringen. Alle hundertfünfzig Gesichter verziehen sich zu einem breiten Lächeln, die Augen leuchten vergnügt auf, das Brausen des Meeres läßt sich für kurze Zeit wieder vernehmen. Ich lache ebenfalls. Die Aufmerksamkeit ist wieder angefrischt, und ich kann fortfahren.

Kein Sport, keine Zerstreuungen und Spiele haben mir jemals einen solchen Genuß gewährt wie das Halten von Vorlesungen. Nur bei den Vorlesungen konnte ich mich ganz meinem Affekte überlassen und verstand, daß die Eingebung nicht eine Erfindung der Dichter ist, sondern tatsächlich existiert. Und ich glaube, Herkules hat nach der großartigsten seiner Heldentaten nicht eine so wonnige Ermattung empfunden, wie ich sie jedesmal nach einer Vorlesung durchmachte.

So war das früher. Jetzt dagegen empfinde ich bei den Vorlesungen nur Qual. Es vergeht keine halbe Stunde, so beginne ich in den Beinen und Schultern eine unüberwindliche Schwäche zu fühlen; ich setze mich auf den Stuhl; aber im Sitzen vorzutragen ist mir ungewohnt; eine Minute darauf stehe ich wieder auf und fahre stehend fort; dann setze ich mich von neuem hin. Die Mundhöhle wird mir trocken, die Stimme heiser, der Kopf schwindlig. Um den Zuhörern meinen Zustand zu verbergen, trinke ich öfters Wasser, huste, schneuze mich oft, als ob mir ein Schnupfen lästig wäre, mache an unpassenden Stellen Späße und schließe zuletzt die Vorlesung früher, als es in der Ordnung ist. Aber hauptsächlich schäme ich mich.

Gewissen und Verstand sagen mir, daß das Beste, was ich jetzt tun könnte, wäre: den Studenten eine Abschiedsvorlesung zu halten, ihnen Lebewohl zu sagen, ihnen alles Gute für ihren weiteren Lebensweg zu wünschen und meinen Platz jemandem abzutreten, der jünger und kräftiger ist als ich. Aber Gott möge mich richten: es fehlt mir der Mut, so zu handeln, wie mich mein Gewissen handeln heißt. Unglücklicherweise bin ich weder ein Philosoph noch ein Theologe. Ich weiß ganz genau, daß ich nicht mehr länger als ein halbes Jahr leben werde; man sollte nun meinen, jetzt müßten mich vor allem die Fragen nach den Visionen, die meinen Schlaf im Grabe vielleicht heimsuchen werden, und nach dem dunklen Dasein im Jenseits beschäftigen. Aber merkwürdigerweise will meine Seele von diesen Fragen nichts wissen, obwohl der Verstand die hohe Wichtigkeit derselben anerkennt. Wie vor zwanzig bis dreißig Jahren, so interessiert mich auch jetzt vor dem Tode ausschließlich die Wissenschaft. Wenn ich meinen letzten Seufzer ausstoße, so werde ich doch noch an dem Glauben festhalten, daß die Wissenschaft das Wichtigste, Schönste und Notwendigste im Leben ist, daß sie immer die höchste Offenbarung der Liebe gewesen ist und sein wird, und daß nur durch sie der Mensch die Natur und sich selbst besiegen kann. Dieser Glaube ist vielleicht naiv und mangelhaft begründet; aber ich kann nichts dafür, daß ich diesen Glauben habe und keinen andern; und diesen Glauben in mir zu zerstören, dazu bin ich außerstande.

Aber darum handelt es sich nicht. Ich bitte nur, man wolle meine Schwäche nachsichtig beurteilen und es sich klar machen, daß, wenn man einen Menschen, den die Veränderungen des Knochenmarkes mehr interessieren als das Endziel des Weltgebäudes, von seinem Katheder und von seinen Schülern wegreißt, dies dasselbe bedeutet, wie wenn man, ohne zu warten, bis er gestorben ist, ihn in einen Sarg legen und diesen zunageln wollte.

Infolge der Schlaflosigkeit und des anstrengenden Kampfes mit der zunehmenden Schwäche begegnet mir etwas ganz Seltsames. Mitten in der Vorlesung steigen mir plötzlich die Tränen in die Kehle, die Augen fangen mir an zu jucken, und ich empfinde den leidenschaftlichen, hysterischen Wunsch, die Arme nach vorn zu strecken und laut zu klagen. Ich möchte es laut hinausschreien, daß das Schicksal mich, den berühmten Mann, zum Tode verurteilt hat, daß nach ungefähr einem halben Jahre hier in diesem Auditorium schon ein anderer walten wird. Ich möchte es hinausschreien, daß ich vergiftet bin; neue Gedanken, die ich früher nicht gekannt habe, haben meine letzten Lebenstage vergiftet und stechen fortdauernd mein Gehirn wie Moskitos. Und meine Lage erscheint mir bei solchen Anfällen so furchtbar, daß ich wünsche, alle meine Hörer möchten einen entsetzlichen Schreck bekommen, von ihren Plätzen aufspringen und in panischer Angst mit verzweifeltem Geschrei zum Ausgang hinstürzen.

Es ist nicht leicht, solche Augenblicke zu durchleben.

II

Nach der Vorlesung sitze ich bei mir zu Hause und arbeite. Ich lese Zeitschriften und Dissertationen oder bereite mich auf die folgende Vorlesung vor; manchmal schreibe ich auch etwas. Ich arbeite mit Unterbrechungen, da ich dabei Besucher empfangen muß.

Die Klingel ertönt. Ein Kollege ist gekommen, um mit mir etwas Geschäftliches zu besprechen. Er tritt mit Hut und Stock in mein Zimmer, streckt mir in jeder Hand einen dieser Gegenstände entgegen und sagt:

»Ich komme nur auf einen Augenblick, nur auf einen Augenblick! Bleiben Sie sitzen, Kollege! Nur zwei Worte!«

Zunächst suchen wir einander zu zeigen, daß wir beide außerordentlich höfliche Menschen und beide sehr erfreut sind, einander zu sehen. Ich nötige ihn in einen Lehnsessel, und er sucht mich zum Sitzen zu veranlassen; dabei streicheln wir uns wechselseitig behutsam an der Rocktaille und berühren die Knöpfe des andern; es sieht so aus, als ob wir einander betasteten, uns aber hierbei zu verbrennen fürchteten. Wir lachen beide, obwohl wir nichts Lächerliches sagen. Nachdem wir zum Sitzen gekommen sind, beugen wir uns mit den Köpfen zueinander und beginnen halblaut zu reden. Mögen wir einander auch noch so freundlich gesinnt sein, es ist dennoch unumgänglich nötig, daß wir unsere Reden mit allerlei chinesischen Phrasen vergolden, als da sind: »Sie beliebten sehr richtig zu bemerken«, oder: »Wie ich schon die Ehre hatte Ihnen zu sagen«, und es ist unumgänglich nötig, daß wir lachen, wenn einer von uns einen Witz macht, mag er auch noch so geringwertig sein. Nach Beendigung des geschäftlichen Gespräches steht der Kollege mit einer hastigen Bewegung auf, weist mit seinem Hute nach meiner Arbeit hin und beginnt sich zu empfehlen. Wieder betasten wir uns gegenseitig und lachen dabei. Ich begleite ihn bis ins Vorzimmer; hier bin ich meinem Kollegen beim Anziehen des Pelzes behilflich; aber er wehrt sich in jeder Weise gegen diese hohe Ehre. Wenn dann Jegor die Tür öffnet, versichert mir der Kollege, ich würde mich erkälten; ich aber tue, als hätte ich vor, sogar bis auf die Straße hinter ihm her zu gehen. Und wenn ich dann endlich in mein Arbeitszimmer zurückkehre, so fährt mein Gesicht, wohl infolge des Beharrungsvermögens, immer noch fort zu lächeln.

Nach einem Weilchen klingelt es wieder. Es tritt jemand ins Vorzimmer, zieht sich lange aus und hustet. Jegor meldet, es sei ein Student da. Ich sage: »Ich lasse bitten.« Einen Augenblick darauf tritt ein junger Mensch von angenehmem Äußern in mein Zimmer. Schon seit einem Jahre stehen wir beide miteinander auf gespanntem Fuße: er gibt bei mir im Examen abscheulich schlechte Antworten, und ich erteile ihm das Prädikat Nicht genügend. Solcher jungen Leute, die ich, um studentisch zu reden, durchplumpsen oder durchrasseln lasse, sammeln sich bei mir im Laufe eines Jahres ungefähr sieben Stück an. Diejenigen unter ihnen, die das Examen wegen Unfähigkeit oder wegen Krankheit nicht bestehen, tragen ihr Kreuz gewöhnlich mit Geduld und machen nicht den Versuch, mich umzustimmen; dagegen neigen die Sanguiniker dazu, zu mir ins Haus zu kommen und mit mir zu feilschen und zu handeln; das sind leichtlebige Naturen, denen die Nötigung, das Examen noch einmal abzulegen, den Appetit verdirbt und an regelmäßigem Besuche der Oper hinderlich ist. Den ersteren gegenüber übe ich gern Nachsicht; aber die zweite Sorte lasse ich ein ganzes Jahr lang durchfallen.

»Nehmen Sie Platz,« sage ich zu dem Besucher. »Was bringen Sie?«

»Entschuldigen Sie die Störung, Herr Professor,« beginnt er stotternd und ohne mir ins Gesicht zu sehen. »Ich hätte nicht gewagt, Sie zu belästigen, wenn ich nicht … Ich habe bei Ihnen schon fünfmal das Examen gemacht und … und bin durchgefallen. Ich bitte Sie inständig, haben Sie die Güte und geben Sie mir Genügend; denn …«

Die Begründung, die alle Faulpelze zu ihren Gunsten vorbringen, ist immer ein und dieselbe: sie hätten das Examen in allen Fächern sehr gut bestanden, nur in meinem seien sie durchgefallen, und dies sei um so erstaunlicher, da sie gerade in meinem Fache immer sehr fleißig studiert hätten und gut darin Bescheid wüßten; sie seien nur infolge irgendeines unbegreiflichen Mißverständnisses durchgefallen.

»Entschuldigen Sie, lieber Freund,« sage ich zu dem Besucher, »genügend kann ich Ihnen nicht geben. Repetieren Sie noch ein bißchen, und kommen Sie dann wieder! Dann wollen wir sehen.«

Es tritt in dem Gespräche eine Pause ein. Es reizt mich, den Studenten ein bißchen zu quälen, zur Strafe dafür, daß er das Bier und die Oper mehr liebt als die Wissenschaft, und ich sage mit einem Seufzer:

»Meiner Ansicht nach ist das Beste, was Sie jetzt tun können, ganz aus der medizinischen Fakultät auszutreten. Wenn es Ihnen bei Ihren Anlagen schlechterdings nicht gelingen will, das Examen zu bestehen, so haben Sie offenbar weder die Neigung noch den Beruf dazu, Arzt zu werden.«

Das Gesicht des Sanguinikers zieht sich in die Länge.

»Verzeihen Sie, Herr Professor,« erwidert er lächelnd, »aber das würde doch von meiner Seite wenigstens sehr sonderbar sein. Fünf Jahre zu studieren und dann auf einmal abzuspringen!«

 

»Nun ja, gewiß! Aber es ist doch besser, fünf Jahre zu verlieren, als nachher das ganze Leben lang eine Tätigkeit auszuüben, die man nicht liebt.«

Aber sogleich fängt er mir auch an leid zu tun, und ich beeile mich hinzuzufügen:

»Handeln Sie übrigens, wie es Ihnen gut scheint! Also arbeiten Sie noch ein bißchen, und kommen Sie dann wieder!«

»Wann?« fragt der Faulpelz in dumpfem Tone.

»Wann Sie wollen. Meinetwegen morgen.«

Und in seinen gutmütigen Augen lese ich den Gedanken: »Kommen könnte ich schon; aber du Racker würdest mich ja doch wieder durchfallen lassen!«

»Gewiß,« sage ich, »Sie werden nicht gelehrter dadurch werden, wenn Sie sich noch fünfzehnmal von mir examinieren lassen; aber es wird zu Ihrer Charakterbildung beitragen. Und das ist doch auch ein schöner Gewinn.«

Es folgt wieder eine Pause. Ich erhebe mich und warte, daß der Besucher fortgeht; aber er bleibt stehen, blickt nach dem Fenster hin, zupft an seinem Bärtchen und überlegt. Die Sache beginnt langweilig zu werden.

Die Stimme des Sanguinikers ist angenehm und volltönend, seine Augen verständig und etwas spöttisch, das Gesicht seelengut, vom vielen Biertrinken und dem langen Herumliegen auf dem Sofa ein wenig aufgedunsen; anscheinend könnte er mir viel Interessantes über die Oper, über seine Liebesabenteuer und über die Kommilitonen, die er gern hat, erzählen; aber leider ist es nicht üblich, von dergleichen zu sprechen. Ich würde es ganz gern hören.

»Herr Professor, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort: wenn Sie mir Genügend geben, so werde ich …«

Sowie das Gespräch beim Ehrenworte angelangt ist, winke ich abwehrend mit den Händen und setze mich an den Tisch. Der Student denkt noch eine Minute lang nach und sagt dann niedergeschlagen:

»Dann also adieu … Entschuldigen Sie!«

»Adieu, lieber Freund. Möge es Ihnen gut gehen!«

Er geht unentschlossen in das Vorzimmer und zieht sich dort langsam an; nachdem er auf die Straße hinausgetreten ist, denkt er wahrscheinlich nochmals lange nach. Aber da ihm nichts weiter einfällt als mit Bezug auf mich »Alter Satan!« vor sich hinzumurmeln, geht er in ein schlechtes Restaurant, um Bier zu trinken und Mittagbrot zu essen, und dann nach Hause, um zu schlafen. Friede deiner Asche, du ehrlicher Freund der Arbeit!

Es klingelt zum dritten Male. In mein Zimmer tritt ein junger Arzt in einem neuen, schwarzen Anzuge, mit einer goldenen Brille und selbstverständlich mit einer weißen Krawatte. Er stellt sich vor. Ich bitte ihn, Platz zu nehmen, und frage, was zu seinen Diensten steht. Nicht ohne eine gewisse Erregung beginnt der junge Priester der Wissenschaft mir zu erzählen, er habe in diesem Jahre sein Doktorexamen bestanden und müsse jetzt nur noch eine Dissertation schreiben. Er möchte gern bei mir, unter meiner Leitung, arbeiten, und ich würde ihn zu großem Dank verpflichten, wenn ich ihm ein Thema für seine Dissertation angeben wollte.

»Ich freue mich sehr, Ihnen nützlich sein zu können, Herr Kollege,« sage ich. »Aber lassen Sie uns zunächst darüber einig werden, was denn eigentlich eine Dissertation ist. Unter diesem Worte pflegt man doch eine Abhandlung zu verstehen, die ein Produkt selbständigen Schaffens darstellt. Nicht wahr? Eine Abhandlung aber, die über ein fremdes Thema und unter fremder Leitung geschrieben ist, die nennt man anders …«

Der Doktorand schweigt. Ich werde hitzig und springe von meinem Stuhle auf.

»Ich begreife nicht, warum die Herren alle zu mir kommen!« rufe ich ärgerlich. »Bin ich denn ein Händler? Ich habe keine Themata feil! Zum tausendundersten Male bitte ich Sie alle, mich in Ruhe zu lassen! Entschuldigen Sie meine Taktlosigkeit; aber die Sache ist mir wahrhaftig schließlich zum Ekel geworden!«

Der Doktorand schweigt, und nur in der Gegend der Backenknochen erscheint auf seinem Gesicht eine leichte Röte. Seine Miene drückt eine hohe Achtung vor meinem berühmten Namen und vor meiner Gelehrsamkeit aus; aber an seinen Augen sehe ich, daß er mich wegen meines erregten Tones und wegen meiner kläglichen Gestalt und wegen meiner nervösen Bewegungen geringschätzt. Ich erscheine ihm in meinem Zorne als ein wunderlicher Geselle.

»Ich bin kein Händler!« wiederhole ich ärgerlich. »Es ist doch auch wunderlich: warum wollen Sie denn nicht selbständig sein? Warum ist Ihnen denn die Freiheit so zuwider?«

Ich rede viel; er aber schweigt dauernd. Schließlich beruhige ich mich allmählich und gebe natürlich nach. Der Doktorand wird von mir ein Thema erhalten, das keinen Dreier wert ist, wird unter meiner Aufsicht eine Dissertation schreiben, von der niemand etwas hat, wird mit Würde die langweilige Disputation überstehen und einen akademischen Grad erhalten, der ihm nichts nützt.

Manchmal wird meine Klingel einmal nach dem andern in Bewegung gesetzt, ohne Ende; aber hier beschränke ich mich darauf, nur noch einen vierten Besuch zu erwähnen. Es klingelt zum viertenmal, und ich höre bekannte Schritte, das Rascheln eines Frauenkleides und eine liebe Stimme …

Vor achtzehn Jahren starb ein Kollege von mir, ein Augenarzt, und hinterließ eine siebenjährige Tochter Katja und etwa sechzigtausend Rubel. In seinem Testamente hatte er mich als Vormund eingesetzt. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahre lebte Katja in meiner Familie; dann gab ich sie in ein Erziehungsinstitut, und sie verlebte bei mir nur die Sommermonate, wo sie Ferien hatte. Mich mit ihrer Erziehung zu beschäftigen, dazu hatte ich keine Zeit; ich beobachtete das Mädchen nur in meinen Mußestunden und kann daher über ihre Kindheit nur sehr wenig sagen.

Das Erste, was mir im Gedächtnis haftet und mir eine liebe Erinnerung bildet, ist die außerordentliche Zutraulichkeit, mit der sie in mein Haus eintrat, mit der sie sich in Krankheitsfällen von den Ärzten behandeln ließ, und die überhaupt immer auf ihrem Gesichtchen leuchtete. Manchmal saß sie mit verbundener Backe irgendwo in einem Eckchen, und dann konnte man sicher sein, daß sie irgend etwas mit Aufmerksamkeit betrachtete. Und ob sie nun zu solchen Zeiten zusah, wie ich schrieb und in Büchern blätterte, oder wie meine Frau in der Wirtschaft tätig war, oder wie die Köchin in der Küche die Kartoffeln wusch, oder wie der Hund spielte: immer drückten dabei ihre Augen unabänderlich einen und denselben Gedanken aus: »Alles, was in dieser Welt geschieht, ist schön und vernünftig.« Sie war wißbegierig und sprach sehr gern mit mir. Oft saß sie am Tische mir gegenüber, verfolgte mit den Augen meine Bewegungen und stellte Fragen. Es interessierte sie, zu wissen, was ich läse, und was ich in der Universität täte, und ob ich mich vor den Leichen nicht fürchtete, und was ich mit meinem Gehalt anfinge.

»Prügeln sich die Studenten in der Universität?« fragte sie.

»Ja, das tun sie, liebes Kind.«

»Und lassen Sie sie dafür zur Strafe knien?«

»Ja, das tue ich.«

Und es kam ihr komisch vor, daß die Studenten sich prügelten und ich sie knien ließe, und sie lachte herzlich darüber. Sie war ein sanftes, geduldiges, seelengutes Kind. Nicht selten bekam ich zu sehen, wie man ihr etwas wegnahm, sie ohne Grund bestrafte oder ihre Wißbegierde nicht befriedigte; dann gesellte sich zu dem ständigen Ausdrucke von Zutraulichkeit auf ihrem Gesichte noch ein Ausdruck von Traurigkeit, aber weiter nichts. Ich verstand nicht, sie gebührend in Schutz zu nehmen, und nur wenn ich ihre Traurigkeit sah, regte sich in mir das Verlangen, sie an mich zu ziehen und im Tone einer alten Kinderfrau bedauernd zu ihr zu sagen:

»O du meine liebe Waise!«

Ich besinne mich auch, daß sie Freude daran hatte, sich gut zu kleiden und sich mit Parfüm zu bespritzen. In dieser Hinsicht hatte sie mit mir Ähnlichkeit. Auch ich habe schöne Garderobe und gute Parfüms sehr gern.

Ich bedaure, daß ich keine Zeit und Lust hatte, den Beginn und die Entwickelung einer Leidenschaft zu verfolgen, in deren Bann Katja schon im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren vollständig hineingeraten war. Ich meine ihre leidenschaftliche Liebe zum Theater. Wenn sie für die Ferienzeit aus dem Institute zu uns kam und bei uns lebte, sprach sie von nichts mit solchem Vergnügen und solcher Wärme wie von Theaterstücken und Schauspielern. Sie ermüdete uns durch ihre beständigen Gespräche über das Theater. Meine Frau und meine Kinder hörten ihr nicht mehr zu. Nur ich hatte nicht den Mut, ihr meine Aufmerksamkeit zu verweigern. Wenn bei ihr der Wunsch rege wurde, ihren Enthusiasmus mit jemandem zu teilen, so kam sie zu mir in mein Arbeitszimmer und sagte in flehendem Tone:

»Nikolai Stepanowitsch, erlauben Sie mir, mit Ihnen ein bißchen vom Theater zu reden?«

Ich wies auf die Uhr und sagte: »Ich gewähre dir eine halbe Stunde. Fang an!«

Später brachte sie ganze Dutzende von Porträts der von ihr angebeteten Schauspieler und Schauspielerinnen mit; darauf versuchte sie einige Male, bei Liebhabervorstellungen mitzuwirken, und schließlich, als sie die Schule durchgemacht hatte, erklärte sie mir, sie sei zur Schauspielerin geboren.

Ich habe Katjas Schwärmerei für das Theater nie geteilt. Meine Ansicht ist die: wenn ein Stück gut ist, so braucht man, damit es den richtigen Eindruck macht, nicht erst die Schauspieler zu bemühen; man kann sich mit der Lektüre begnügen; wenn das Stück aber schlecht ist, so ist kein Spiel imstande, ein gutes daraus zu machen.

In meiner Jugend habe ich häufig das Theater besucht, und jetzt nimmt meine Familie zweimal im Jahre eine Loge und schleppt mich auch mit hin, »zum Auslüften«. Das reicht ja freilich nicht dazu aus, um mich zu einem Urteil über das Theater zu berechtigen; aber ich will doch ein paar Worte darüber sagen. Meiner Ansicht nach ist das Theater nicht besser geworden, als es vor dreißig bis vierzig Jahren war. Wie früher kann ich weder in den Korridoren des Theaters noch im Foyer ein einfaches Glas Wasser bekommen. Wie früher nehmen mich die Theaterdiener für meinen Pelz in eine Geldstrafe von zwanzig Kopeken, obwohl doch in dem Tragen warmer Kleidung zur Winterszeit nichts Anstößiges liegt. Wie früher spielt in den Zwischenakten ohne jeden Anlaß die Musik und fügt zu dem durch das Stück hervorgerufenen Eindruck einen neuen, unerbetenen hinzu. Wie früher gehen die Männer in den Zwischenakten zum Büfett, um alkoholische Getränke zu genießen. Wenn so in Kleinigkeiten kein Fortschritt sichtbar ist, so würde ich ihn auch in wichtigeren Dingen vergebens suchen. Wenn ein Schauspieler, der sich vom Kopf bis zu den Füßen in die Traditionen und Vorurteile des Theaterwesens verstrickt hat, seine Bemühung darauf richtet, den ganz schlichten, gewöhnlichen Monolog »Sein oder nicht sein« nicht in schlichter Art, sondern aus einem unerfindlichen Grunde mit obligatem Zischen und mit Krämpfen im ganzen Körper vorzutragen, oder wenn er mir um jeden Preis einzureden sucht, daß Tschazki1, der sich so viel mit Dummköpfen unterhält und eine dumme Frauensperson liebt, ein sehr verständiger Mensch und »Verstand schafft Leiden« ein interessantes Stück sei, dann weht mich von der Bühne ebenderselbe öde Geist an, der mir schon vor vierzig Jahren langweilig war, als man mich mit klassisch sein sollender Heulerei und An-die-Brust-schlagen regalierte. Und jedesmal komme ich aus dem Theater mit konservativerer Gesinnung heraus, als ich hineingegangen bin.

Der empfindsamen, leichtgläubigen Menge kann man einreden, daß das Theater in seinem jetzigen Zustande eine Bildungsstätte sei. Aber wer da weiß, was eine Bildungsstätte im wahren Sinne des Wortes ist, den fängt man nicht mit diesem Köder. Wie die Sache nach fünfzig bis hundert Jahren aussehen wird, weiß ich nicht; unter den gegenwärtigen Verhältnissen jedoch kann das Theater nur als Mittel zur Zerstreuung dienen. Aber diese Zerstreuung kommt der menschlichen Gesellschaft auf die Dauer denn doch etwas zu teuer zu stehen. Denn sie entzieht dem Staate Tausende von jungen, gesunden, talentvollen Männern und Frauen, die, wenn sie sich nicht dem Theater gewidmet hätten, gute Ärzte, Landwirte, Lehrerinnen und Offiziere sein könnten; sie entzieht dem Publikum die Abendstunden, die beste Zeit zu geistiger Arbeit und geselliger Unterhaltung. Ich rede gar nicht einmal von den Geldausgaben und von dem sittlichen Schaden, den der Zuschauer erleidet, wenn er sieht, wie auf der Bühne Mord, Ehebruch und Verleumdung in unrichtiger Weise behandelt werden.

 

Katja aber war ganz anderer Meinung. Sie beteuerte mir, das Theater stehe, auch in seinem jetzigen Zustande, hoch über allen Auditorien und Büchern und über allem, was es in der Welt gebe. Das Theater sei eine Macht, die alle Künste in sich vereinige, und die Schauspieler seien Missionare der wahren Bildung. Keine Kunst und keine Wissenschaft sei für sich allein imstande, so stark und so sicher auf die menschliche Seele zu wirken wie die Bühne, und daher erfreue sich mit gutem Grunde selbst ein Schauspieler mittleren Ranges im Lande einer weit größeren Popularität als der trefflichste Gelehrte oder Künstler. Und keine andere gemeinnützige Tätigkeit könne einen solchen Genuß und eine solche Befriedigung gewähren wie die schauspielerische.

Und eines schönen Tages trat Katja in eine Schauspielertruppe ein und reiste weg, ich glaube nach Ufa; sie nahm eine bedeutende Geldsumme, eine Unmenge buntschillernder Hoffnungen und eine ideale Auffassung ihres Berufes mit.

Ihre ersten Briefe von der Fahrt waren bewundernswürdig. Ich las sie und war geradezu erstaunt, wie diese kleinen Papierbogen so viel Jugendfrische, seelische Reinheit, heilige Naivität und gleichzeitig so viel feine sachliche Urteile, die einem guten Männerverstande Ehre gemacht hätten, enthalten konnten. Die Wolga, die Natur, die Städte, die sie besuchte, die Kollegen, was sie an Erfolgen und Mißerfolgen erlebte, alles das schilderte sie nicht sowohl, sondern sie besang es; jede Zeile atmete die Zutraulichkeit, die ich auf ihrem Gesichte zu sehen gewohnt gewesen war, – und dabei eine Masse von orthographischen Fehlern, und die Interpunktionszeichen fehlten fast vollständig.

Es verging kein halbes Jahr, da empfing ich einen im höchsten Grade poetischen, schwärmerischen Brief, der mit den Worten begann: »Ich habe mich verliebt.« Beigelegt war diesem Briefe eine Photographie, die einen jungen Mann mit glatt rasiertem Gesichte darstellte, einen breitkrempigen Hut auf dem Kopfe, ein Plaid über die Schulter geworfen. Die darauf folgenden Briefe waren ebenso prächtig wie die früheren; aber es tauchten in ihnen schon zahlreichere Interpunktionszeichen auf, die orthographischen Fehler waren verschwunden, und alles an ihnen deutete auf die Mitarbeiterschaft eines Mannes hin. Katja begann mir solche Dinge zu schreiben: es würde ein guter Gedanke sein, irgendwo an der Wolga ein großes Theater zu erbauen, und zwar jedenfalls auf Aktien, und zu diesem Unternehmen reiche Kaufleute und Dampfschiffsreeder heranzuziehen; Geld werde auf diese Art in Menge zur Verfügung stehen; die Einnahmen würden ganz gewaltige sein; die Schauspieler würden auf Grund eines Gesellschaftsvertrages spielen. Vielleicht war das alles wirklich ein guter Gedanke; aber es schien mir, daß solche Pläne nur aus dem Kopfe eines Mannes hervorgegangen sein könnten.

Wie dem auch sein mochte, anderthalb bis zwei Jahre lang schien alles gut und nach Wunsch zu gehen: Katja liebte, sie glaubte an ihren Beruf und war glücklich; aber dann begann ich in ihren Briefen deutliche Anzeichen des Niederganges wahrzunehmen. Dies fing damit an, daß Katja sich bei mir über ihre Kollegen beklagte; das ist immer das erste und mißlichste Symptom; wenn ein junger Gelehrter oder Schriftsteller bei Ausübung seiner Tätigkeit sich über andere Gelehrte oder Schriftsteller bitter beklagt, so bedeutet das, daß er bereits müde geworden ist und zu seiner Berufsarbeit nicht mehr taugt. Katja schrieb mir, ihre Kollegen kämen nicht zu den Proben und könnten ihre Rollen niemals ordentlich; an dem Dringen auf Ausführung abgeschmackter Stücke und an ihrer Art, sich auf der Bühne zu benehmen, merke man bei einem jeden von ihnen eine völlige Mißachtung des Publikums; den einzigen Gegenstand ihres Gespräches bildeten die Einnahmen, und im Interesse der Einnahmen erniedrigten sich die dramatischen Schauspielerinnen zum Singen von Chansons, und die Tragöden sängen Couplets, deren Inhalt Späße über betrogene Ehemänner und über die Schwangerschaft treuloser Gattinnen bildeten. Überhaupt müsse man sich wundern, daß das Bühnenwesen in der Provinz noch nicht vollständig zugrunde gegangen sei und sich auf einer so schwachen, morschen Grundlage halten könne.

Als Antwort schickte ich Katja einen langen und, wie ich bekennen muß, sehr langweiligen Brief. Unter anderem schrieb ich ihr: »Ich habe nicht selten Gelegenheit gehabt, mit älteren Schauspielern zu reden, vornehm denkenden Männern, die mir ihr freundliches Wohlwollen zuwandten; aus den Gesprächen mit ihnen konnte ich entnehmen, daß die Art ihrer Tätigkeit nicht sowohl von ihrem eigenen Urteil und ihrem freien Willen als vielmehr von der Mode und der Stimmung des Publikums abhing; selbst die besten unter ihnen mußten ihr Leben lang bald in Tragödien, bald in Operetten, bald in Pariser Schwänken, bald in Feerien spielen, und hatten dabei doch immer gleichmäßig das Gefühl, daß sie auf geradem Wege wanderten und Nutzen stifteten. Somit hat man, wie du siehst, die Ursache des Übels nicht bei den Schauspielern zu suchen, sondern tiefer, in der Kunst selbst und in dem Verhältnisse des ganzen Publikums zur Kunst.« Dieser mein Brief hatte nur den Erfolg, Katja in heftige Erregung zu versetzen. Sie antwortete mir: »Wir beide, Sie und ich, reden von ganz verschiedenen Dingen. Ich schrieb Ihnen nicht von den vornehm denkenden Männern, die Ihnen ihr freundliches Wohlwollen zuwandten, sondern von einer Gaunerbande, die von vornehmer Gesinnung nichts weiß. Es ist eine Horde von Wilden, die nur deswegen auf die Bühne geraten sind, weil man sie an keiner andern Stelle angenommen haben würde, und die sich lediglich aus Unverschämtheit Künstler nennen. Kein einziges Talent ist darunter, wohl aber viele Unbegabte, Trunkenbolde, Intriganten und Zwischenträger. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie es mich schmerzt, daß die Kunst, die ich so sehr liebe, in die Hände dieser mir verhaßten Menschen geraten ist, und wie weh es mir tut, daß die besten Menschen das Übel nur von fern sehen, nicht näher herantreten mögen und, statt sich der Sache anzunehmen, in schwerfälligem Stile Gemeinplätze und Moralpredigten schreiben, die niemandem etwas nützen können …« und so weiter, immer in demselben Tone.

1In Gribojedows Lustspiel: »Verstand schafft Leiden«. Anm. des Übers.
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