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Eremit auf Zeit
Bericht über eine Auszeit im Sinai/Ägypten

© SKR Reisen, Köln
Der Flug bringt mich nach Sharm el Sheik an die Südspitze des Sinai. Der Flieger ist voller Familien mit kleinen Kindern. Als ich das Rollfeld betrete, haut es mich fast um. Hier ist die Wüste, und sie ist heiß und unerträglich. Oh je, denke ich, was hast du da bloß gemacht!!
Im Shuttle zum Flughafengebäude wird mir dann schnell klar: Wir haben Feindesland betreten – eine Mutter gibt den Kindern und dem Ehemann lautstark letzte Anweisungen: »Kein Wasser trinken, kein Obst essen, nichts in den Mund stecken, nicht auf die Toilette setzen, Geld gut verstecken…«
In der Halle besorge ich mir rasch ein Visum, tausche Euro in ägyptische Pfund und bin schnell durch die Passkontrolle. Draußen steht dann er erste Beduine, ein Taxifahrer mit einem Schild und einer Flasche kühlem Wasser – und los geht’s! Wir fahren zweieinhalb Stunden nach St. Katrin in die Berge. Ich lerne, dass das Licht nur kurz eingeschaltet wird, um dem Fahrzeug auf der Fahrbahn gegenüber - so denn mal eines kommt - zu signalisieren: »Ich bin da«.
Die erste Nacht verbringe ich in einem Beduinencamp, abseits der größeren Hotels, die es am Katharinenkloster gibt. Es ist herrlich, das Klima ist hier wunderbar, ich bin der einzige Gast und mit einem feinen Abendessen empfängt mich der Reiseleiter Hussein, von dem es heißt, dass er ein wenig Deutsch spricht. Aber er spricht perfekt Deutsch – hat es sich selbst beigebracht, und so können wir alles im Detail besprechen.
Ich habe die Wahl, ich kann meinen Garten oben in den Bergen alleine für mich haben oder aber mit den Besitzern, einem Ehepaar, teilen, die dann am anderen Ende wohnen. Ich entscheide mich für das letztere und am nächsten Morgen geht’s los – Gepäck auf dem Kamel – 3 Stunden bergauf auf 1.600 m Höhe zu meinem Platz! Die Landschaft ist karg und friedlich, es sind lauter Granitfelsen und Berge, die je nach Tageszeit grau oder rotgolden aussehen. Skulptur reiht sich an Skulptur und regt zum Staunen an. Dazwischen dann – stets unverhofft – die Gärten der Beduinen, kleine grüne Oasen. Es hat seit 18 Jahren fast nicht mehr geregnet in diesem Land, aber es gibt immer noch Wasser hier oben. In den Gärten wachsen Äpfel, Aprikosen, Mandeln, Feigen, Granatäpfel, Maulbeeren, Wein, Oliven, Tomaten….
Ja, und dann sind wir da: »Mein Garten« wird sichtbar, einen steilen Weg noch runter und Mohamed und seine Frau Selima nehmen mich in Empfang. Erst mal gibt’s einen Begrüßungstee – schwarz mit unglaublich viel Zucker – und es wird gelacht, als mir beim ersten Schluck ein lautes »oh« entfährt. Der Garten zieht sich in verschiedenen Ebenen den Berg hoch und oben auf der letzten Ebene wohne ich. Es gibt ein kleines Steinhaus, dort befindet sich das Wasser, und mein Gepäck wird dort bleiben, und es gibt doch tatsächlich – welch unglaublicher Luxus – ein Stehklo und einen nach oben offenen Raum mit einem Schlauch: die Dusche! Ich weiß, dass ich mich hier wohl fühlen werde. So viel Luxus hatte ich nicht erwartet.
Zwanzig Minuten von mir entfernt wohnt noch eine Eremitin, Ursula, 68 Jahre alt. Und in der Mitte zwischen unseren Gärten ist das Logistikzentrum – dort ist ein junger Beduine – auch ein Hussein, der »kleine Hussein«. Er verwaltet die Lebensmittel, ist Ansprechpartner, kocht für mich, wenn ich das möchte, kann Tipps für Wanderungen geben und vieles mehr. Das erste Abendessen findet in diesem »Logistikzentrum« statt. Alle lernen sich kennen, und wir erhalten kurzerhand arabische Namen, da man unsere nicht aussprechen kann. Ich bin Salma und Ursula wird zu Senap. So einfach ist das.
Die nächsten zwei Tage zeigen, dass ich mit der Entscheidung »mit Familie« zu leben gut beraten war: Ich lerne das beduinische Kochen und Essen, den Rhythmus des Tages – »Entschleunigung by doing«. Ich sehe wie meine Gastgeber Tee kochen, wie sie ihm durch Hinzugabe einiger Kräuter vom Wegesrand den unnachahmlichen Geschmack geben, wie sie Brot backen. Ich beobachte ihren sorgfältigen Umgang mit Wasser, staune über ihre Gelassenheit, schweige mit ihnen.
Meine Nächte verbringe ich ausschließlich im Freien, mein wunderbares Moskitonetz, welches wie ein Tunnel meinen Schlafsack umhüllt, gibt mir die notwendige Sicherheit. Ich staune den Sternenhimmel an und wünsche mir bei der fallenden Sternschnuppe noch schnell etwas, bevor ich einschlafe.
Am ersten Tag kommt jede Menge Besuch um mich zu sehen. Das Gartentor geht auf, man nimmt auf dem Boden Platz, es wird Tee gekocht und getrunken und man staunt mich an! Mohamed, mein Nachbar, ist 65 Jahre alt, er hat in Israel studiert und gilt als guter Arzt in der Gegend! Ein Zahnarzt, das verstehe ich, als er mir sein Werkzeug zeigt und – ich gestehe es – ich schicke ein kurzes Gebet gegen Himmel, das mich vor plötzlichem Zahnweh beschützen soll. Selima, meine Gartenbesitzerin, wird am zweiten Tag zu ihrem Bruder gerufen, der sehr krank ist, und sie wird dort bleiben. Mohamed wird noch drei Tage bleiben und dann auch ins Dorf zurückkehren. Unsere Verständigung erfolgt mittels Händen und Füßen, aber ich verstehe, dass er am nächsten Tag einen Ausflug mit mir machen will.
Also geht es am andern Morgen los. Wir wandern abseits der Wege und müssen durch eine kleine steile Schlucht zwischen zwei Felsen. Mohamed klettert mit seinen Gummischlappen vor, rutscht aus, fällt leicht und geschmeidig wieder runter und will nun einen Umweg mit mir machen – aber ich versuche den Aufstieg, schaffe ihn mit meinen Schuhen viel leichter, ziehe erst das Gepäck und dann Mohamed hoch. Mit dieser Tat habe ich mir meinen Ruf als sichere Kletterin erworben, ab jetzt bin ich die, »die Mohamed hochgezogen hat«, ein Ruf, der sich schnell verbreitet, und man lässt mich in den folgenden Tagen beruhigt allein des Weges ziehen.
Irgendwann auf unserer Wanderung setzt mich Mohamed in eine kleine Höhle im Fels, lässt sein Gepäck bei mir und bedeutet mir zu warten. Ich schlafe ein wenig, froh über die Kühle des Schattens... Aber dann, nach 30 Minuten, setzten meine Phantasien ein: Was ist, wenn er mich hier abgesetzt hat? Ich werde nie mehr alleine zum Garten zurück finden! Ich überlege, ob ich eine Nacht hier überleben kann – was ich selbstverständlich kann, weil es nicht kälter als 15 Grad wird. Ob ich vielleicht doch entführt werde, wie so manche Stimmen in Deutschland geunkt hatten? Und plötzlich bin ich hautnah mit den gängigen Klischees vom Orient konfrontiert: Märchenland oder Schurkenstaat! Meine Angst lässt nicht viel Platz für gesunden Menschenverstand. Und ich bin heilfroh, als ich einen Beduinen kommen sehe, und ich bin beschämt als ich sehe, dass es Mohamed ist, der Brennmaterial gesammelt hat, um mir nun zu zeigen, wie man Brot in der Wüste backt – in der Glut!
Es schmeckt herrlich, und ich nehme mir vor, den Vorurteilen keine Chance mehr zu lassen. Ich bin völlig sicher in der wunderbarsten Landschaft der Welt! In den folgenden Tagen wandere ich viel alleine – die Orientierung ist viel leichter als ich geglaubt habe. Ich liebe diese Granitfelsen, es ist so leicht auf ihnen herum zu klettern, sie sind warm und bieten Schatten. Wenn ich den Weg verliere, klettere ich einfach hoch und schau mir das Ganze von oben an. Mein Lieblingsplateau, auf dem ich viele Stunden im Schatten der Felsen verbringe, ist der Beerdigungsplatz der Beduinen. Hier ist es absolut still. Eine Stille, von der ich nicht genug bekommen kann, ein unfassbare Stille, in der ich völlig neue Geräusche wahrnehmen kann: Ich höre, wie sich ein Zeh in meinem Schuh bewegt, wie der Wind in die Wasserflasche fährt und dort singt, ich höre mein Herz schlagen und beim Gehen das Glucksen des Wassers im Rucksack. Wegen dieses Stückchens Erde bin ich gekommen. Die Ruhe erfüllt mich ganz und gar, ich brauche nichts anderes mehr. Es ist so viel Frieden in dieser Landschaft und es geht mir durch den Sinn, dass es kein Wunder ist, dass Moses gerade hier die Gesetzestafeln in Empfang nehmen konnte, nur hier können sie auf ihn gewartet haben.
Im Nachhinein stellt sich heraus, dass es ein Informationssystem gab: Wer immer mich gesehen hat bei meinen Wanderungen, der gab es weiter, so dass der kleine Hussein stets wusste, wo ich so ungefähr gewesen bin. Man hätte mich stets finden können, wenn ich mich tatsächlich verlaufen hätte.
Am Nachmittag vor der Vollmondnacht wandern Ursula und ich mit Hamed, dem Englisch sprechenden Bruder des Reiseleiters, dem kleinen Hussein, einem weiteren Begleiter und zwei Jungen auf den zweithöchsten Berg des Sinai, den Abas Basha, 2.386m hoch. Drei Stunden brauchen wir für den Aufstieg mit großem Gepäck, wir verbringen die Nacht dort. Oben befinden sich die Reste eines Palastes, und ich staune über das einzigartige Panorama. Bergkette reiht sich an Bergkette, ein Blick bis zum Golf von Aqaba, das Ganze im Licht von Sonne und Mond, die sich noch in gleicher Höhe gegenüberstehen, als würde sie ihre Kräfte messen. Dann geht die Sonne unter, warm und weich, und überlässt es dem Mond, unsere Suche nach einem guten Schlafplatz zu begleiten.
Die Nacht hier oben ist kalt, und ich bin froh, einen guten Schlafsack zu haben, dessen Kapuze ich zuziehe und nur einen Spalt für die Nase offen lasse. Die Beduinen verschwinden unter einem Wust von Decken – man kann nicht sehen, wo Kopf oder Fuß ist.
Aber um 4 Uhr hält mich nichts mehr im Schlafsack, die Bergwelt beginnt schon sich zu verändern, und ich will dabei sein, mit allen Sinnen. Ich sehe gegenüber den Mosesberg, der ein wenig niedriger ist als unserer, und ich sehe sich bewegende Lichter. Erst denke ich an Sternschnuppen, aber schnell fällt mir ein, dass Hunderte von Touristen im Morgengrauen diesen Berg besteigen, um den Sonnenaufgang zu bestaunen: Ich sehe die Blitzlichter ihrer Kameras!
Ich freue mich über meinen Luxusplatz, und zwei Stunden später hat die Sonne alles wieder in die Wirklichkeit geholt. Ein eindrucksvolles Erlebnis in der Stille der Bergwelt. Ganz viel Dankbarkeit erfüllt mich.
Seit Samstag der ersten Woche bin ich allein in meinem Garten. Morgens kommt der kleine Hussein, bringt frisches Brot und fragt, ob ich mittags oder abends etwas essen möchte, ob wir zusammen essen wollen, Ursula und ich? Alles ist möglich und es bleibt auch Zeit für alles.
Ich fühle mich wohl allein im Garten. Jetzt kommt kein Besucher mehr. Als Mohamed noch da war, konnte es vorkommen, dass nachts noch jemand im Garten übernachtet hat, der auf dem Weg in die Berge nicht mehr weiter konnte, sich dann eben einfach bei uns ein Schlafplätzchen suchte. Jetzt passiert das auch nicht mehr. Mein Wunsch nach Alleinsein wird respektiert.
In einer der ersten Nächte allein bekomme ich allerdings richtig Angst. Ich höre Schritte in der Nähe meines Schlafplatzes! Ich gerate ein wenig in Panik, bekomme Herzklopfen und … schlafe wieder ein. Die Geräusche wiederholen sich in der folgenden Nacht, und als ich mich traue, richtig hin zu hören, merke ich, dass es ein wilder Esel ist, der den Platz hinter der Mauer regelmäßig aufsucht. Er hätte sicher auch Herzklopfen bekommen, wenn ich plötzlich ein Geräusch gemacht hätte.
Mit dem kleinen Hussein machen Ursula und ich zwei gemeinsame Wanderungen, die sehr schön sind. Sie führen uns durch Gebiete, die wir alleine nicht hätten erforschen können. Einmal besuchen wir einen kleinen Garten, bei dem es einen Swimmingpool gibt – unglaublich – aber unter zwei Palmen ist ein kleines Becken, und wir können schwimmen. Das Wasser ist herrlich, und wir bekommen sogar einen Tee an den Beckenrand serviert! In einer Felsnische sitzt ein Beduine, der auf das Becken aufpasst. Hussein unterhält sich mit ihm, solange wir schwimmen. Später sehen wir, dass der Besitzer des Pools ein Handy hat: Man muss auf eine wackelige Öltonne steigen und dann höher auf einen alten Kanister und da hängt im Baum fixiert mit Schnüren ein Handy, welches nur an dieser Stelle Empfang hat. Mein iPhone hat dort keinen Empfang, aber der Beduine würde mit mir tauschen – mein iPhone gegen seinen Garten! Ich hatte ihm die Funktionen vorher erklärt.
Beim zweiten Ausflug zeigt uns Hussein, wo er geboren ist. Wieder ein Stück die Berge hoch, und dann sind Ruinen von Häusern erkennbar. In seinem Haus gibt es noch einen Raum, der bewohnbar ist, und hier kocht er uns Tee, wie es hier üblich ist: in einer alten Konservendose, die findet man am Wegesrand. Wir verschlafen die Mittagshitze im Schatten des Raumes, genießen die grandiose Aussicht und haben einen wunderschönen Abstieg. Ich fühle mich sehr reich beschenkt von diesen Menschen und ihrer Großzügigkeit, uns die schönsten Plätze mit größter Selbstverständlichkeit zu zeigen.
In meinem Garten gibt es einen Platz, der ab 16.30 Uhr im Schatten liegt und der Aussicht über das ganze Tal bietet – mit Blick auf den höchsten Berg: Gabel St. Katrin mit 2.600m. Hier sitze ich oft und gern. Manchmal reitet jemand auf einem Kamel vorbei – das Kamel in der Farbe des Granits, das Gepäck bunt und vielfältig. Einen Reiter kenne ich schon, er kommt jeden Tag vorbei, er ist jung und hat einen Radiorekorder am Kamel hängen, aus dem laute arabische Musik tönt. Hier ist alles möglich!
Am vorletzten Tag steigen wir wieder hinunter ins Dorf, und ich mache mit Ursula noch einen »Stadtbummel«. In einer kleinen Bar, in der natürlich nur Männer sitzen, bestellen wir einen Kaffee und erhalten den besten der Welt: Er ist mit Kardamom gewürzt, stark und süß! Die Frage nach Zucker – »Sukaran?« – können wir schon auf Arabisch mit »schweija« (wenig) beantworten. Einfach herrlich!
Am anderen Morgen habe ich noch Zeit, alleine das Katharinenkloster zu besichtigen, und als ich dort im Schatten sitze und sehe, wie die Busse Reisegruppen aus Russland ausspucken, denke ich intensiv über ein Verschleierungs-Gebot für Touristen nach!
Es war eine wunderbare Reise, diese meine Reise, ich hatte Zeit, den Granitfelsen zuzuschauen und zuzuhören, sie erzählen Geschichten – erstaunlich oft solche mit biblischen Inhalten. Ich habe die leckersten Maulbeeren gegessen, die aromatischten Aprikosen. Alleinsein in Stille ist etwas, das süchtig machen kann – aber auch der offene Austausch mit Menschen, die mir begegneten, war großartig. Kulturen müssen sich bereichern – wir sollten uns nicht erzählen lassen, dass sie sich bekämpfen müssen.
Eine Szene in meinem Schlafsack mit Moskitonetz: Die Mücken schwirren um mich herum, keine 10 cm von mir entfernt – sie surren laut und wollen mein Blut, aber es berührt mich nicht. Ich bin in völliger Sicherheit, ich ruhe in mir selbst. Das will ich mitnehmen in meinen Alltag, dieses Gefühl, diese Ruhe den Stürmen des Lebens gegenüber – Raha fil bal – Ruhe im Gemüt.
Antonie Dauben-Frings
Auszeit auf der Fußmatte
Apothekerin Petra Groben: »Von der Überholspur herunter«
Petra Groben hat sich ausgesperrt. Ihr Mann kommt erst später. Und auch die Nachbarn mit dem Ersatzschlüssel sind nicht zu Hause. Petra Groben steht vor ihrem Haus in Bonn, und nichts geht mehr. Alle Pläne für den Abend geraten plötzlich durcheinander. Sie wollte sich umziehen und noch ein bisschen vorbereiten auf das Treffen, bei dem sie über ihre Art der Auszeit erzählen soll. Doch jetzt steht sie vor dem Haus und kommt nicht hinein.
Es gab eine Zeit, da hätte so eine unvorhergesehene Situation, die sie zum Nichtstun zwingt, Groben in den Wahnsinn getrieben. Heute bleibt sie gelassen. Sie nimmt die Fußmatte vor der Eingangstür, legt sie auf die Treppe, setzt sich darauf – und meditiert. Eine bessere Vorstellung, um darüber zu reden, gibt es wohl kaum.
Petra Groben ist 47 Jahre alt, eine zierliche Frau, Besitzerin zweier Apotheken in Koblenz. Früher war Groben mal Leichtathletin, ihre Disziplin war der Sprint. So wie bis vor einigen Jahren ihr Leben. »Die Langsamkeit fehlte mir, ich war immer nur schnell, schnell, schnell«, sagt Groben. Sie hat immer nur gearbeitet. Erst in Festanstellung. Dann als ihr eigener Chef, seit 16 Jahren inzwischen. Erst mit einer, heute mit zwei Apotheken. Ruhe gönnte sie sich selten, schon den Weg zur Straßenbahnhaltestelle legte sie am Morgen im Schnellschritt zurück.
Muss das Leben so sein? Diese Frage trieb Groben immer häufiger um, je älter sie wurde. Ihr Geist begann, sich nach Auszeiten zu sehnen, nach Pausen in diesem hektischen Alltag. Nach einem tieferen Sinn. Sie machte sich auf eine spirituelle Suche und fand die Meditation. Abschließende Antworten hat sie noch nicht gefunden. »Ich bin eine Suchende«, sagt Groben, »und erst am Anfang meines Weges.« Ihre christlichen Wertevorstellungen seien im Job immer wieder an ihre Grenzen gestoßen. Deshalb suchte sie nach einer Möglichkeit, ihre Spiritualität im Alltag umzusetzen. »Ich wollte das leben, was ich glaube«, sagt sie.
»Jede Lebensmitte ist auch eine Krise«, erklärt Groben. Sie ist gläubige Christin, schon immer gewesen. Doch jenseits der 40 begann sie, intensiver nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Eine wichtige Rolle spielte dabei ein Buch, das ihr eine Freundin schenkte: »Mit Herz und allen Sinnen«. Dessen Autor ist der Benediktinerpater Anselm Grün. Hartnäckig bemühte sich Groben daraufhin um einen Platz in einem der ständig ausgebuchten Seminare von Grün. Erst 2003 war es endlich so weit, sie reiste für einige Tage ins Koster in Münsterschwarzach.
Groben war begeistert. Sie sagt: »Anselm Grün ist ein Mensch, der durch sein Sein wirkt. Er strahlt unheimlich viel aus.« Sie kam immer wieder. Die Seminare im Haus Benedikt in Würzburg wurden für sie zu dringend nötigen Auszeiten. Irgendwann reichten ihr diese verlängerten Wochenenden im Kloster aber nicht mehr aus. Sie wollte auch im Alltag raus aus der Hektik. Und so fing sie an, ihr Leben umzustellen.
Heute beginnen Grobens Tage mit einer guten halben Stunde Zeit für sich selbst. Ihr Wecker klingelt um 5.30 Uhr. Zeit für die Meditation. Und für ein kleines Gymnastikprogramm, Groben nennt das ihre »Energieübungen«. Von der Meditation ist sie so überzeugt, weil sie darin eine Möglichkeit gefunden hat, achtsamer mit sich selbst zu werden. »Wenn ich meditiere, stelle ich einen Kontakt zu meinem Inneren her«, erklärt Groben, »es kommen einem die blödsinnigsten Gedanken, man will gar nicht ruhig sein, aber man lernt loszulassen.« Sie, die Ungeduldige, genießt das. »Achtsamer zu sein im Jetzt, das scheint mir wichtig«, sagt Groben. Sich nicht mitreißen zu lassen von dem Sog des modernen Lebens, in dem in immer weniger Zeit immer mehr geschafft werden muss.
Inzwischen meditiert Groben nicht mehr nur am frühen Morgen, in dieser halben Stunde, die ihr ganz allein gehört, wenn ihr Mann noch schläft und alle Gedanken an die Apotheken ausgeblendet werden. Sie baut auch mal eine Gehmeditation auf dem Weg zur Straßenbahn ein, oder sie nutzt die wieder eingeführte Mittagspause bei der Arbeit für ein paar Energieübungen. »In der Meditation wird das Tun durch das Lassen, das Loslassen und Zulassen, ersetzt«, sagt Groben. »Der Lärm, einschließlich des Lärms unserer Gedanken, wird allmählich zur Stille.«
Deswegen bleibt sie gelassen, als sie vor ihrer Haustür steht und nicht hineinkann. »Ich habe mich gefragt, wofür das jetzt gut ist«, sagt sie. Es muss wohl so sein, dass sie in den letzten Tagen und Wochen doch wieder zu viel gearbeitet hat. Zu viele Termine, zu viel Hektik. Zu wenig Achtsamkeit. Kein Wunder, dass da mal der Schlüssel liegen bleibt. Die Zeit zum Meditieren in der Abendsonne auf ihrer Treppe nimmt Groben als Geschenk. Als unverhoffte Auszeit auf der Fußmatte.
Quelle: Kölner Stadt-Anzeiger
Den Horizont erweitert – Sabbatical in Nepal und Indien
Eine Kinderintensivmedizinerin berichtet über ihre Erfahrungen
Die Teilnahme am Weltkongress Intensive Care in Sydney im Oktober 2001 markierte das vorläufige Ende meiner Tätigkeit als Kinderintensivmedizinerin und den Beginn meines Sabbaticals. Die Kollegen im Amsterdamer Krankenhaus AMC reagierten überwiegend enthusiastisch, manche äußerten Zweifel über meinen Karriere-Bruch oder das Risiko des Arbeitsplatzverlustes. Meine Auszeit diente dem Aufbruch zu einer inneren Reise, zu einem Studium buddhistischer Philosophie in Asien, zu spiritueller Praxis, der Begegnung mit berühmten Lehrern, der Erfahrung mit östlicher Ganzheitsmedizin und der Fotografie. Erst spät bekam ich die mündliche Zusage, meine Stelle bis zu meiner Rückkehr nicht endgültig zu besetzen.
Meine Reiseziele Indien und Nepal waren mir aus meinen letzten 20 Jahren Reisen und humanitären Einsätzen wohl bekannt. Im eiskalten Winter des Himalaya begann meine geführte Zeit der Stille. Im Sechen-Kloster in Boudha, dem heiligsten Pilgerort der Tibeter in Nepal, studierte ich unter Anweisung des Lama Choeki Nyima buddhistische Philosophie, lernte und praktizierte verschiedene Techniken zur Erforschung des Bewusstseins und verbrachte viele Stunden in einsamer Meditation. In Dharamsala, dem Sitz des Dalai Lama und der tibetischen Exilregierung, setzte ich mein Studium der buddhistischen Philosophie fort. Dazu gehörte auch eine Einführung in die tibetische Gesundheitslehre.
Ziel für die nächsten Monate war die »Yogahauptstadt«, Rishikesh, an den Ufern des Ganges. Ein »Ort der Kraft«, in dessen schmalen Gassen sich Hunderte heilige Hindu-Männer (Sadhus), westliche Sucher, Bettler, aber auch eine Großzahl heiliger Kühe und Affen aufhalten. Die Begegnung mit einem modern ausgerichteten, Englisch sprechenden Guru, Swami Vivekanda, führte zu einem spannenden vierwöchigen Seminar über das Yogasystem. Eine Inspiration, die zu einer Vertiefung in die altindische, traditionelle Gesundheitslehre, die Ayurveda (Wissen vom Leben), führte. Ich lernte die Diagnostik kennen und experimentierte auch selber mit dem Spektrum ihrer therapeutischen Methoden: Ernährung, Lebensstil, Phytotherapie, Reinigungsexerzitien und Therapie über die Sinne (Farb-, Aroma- und Musiktherapie). Für mich als Intensivmedizinerin, deren Alltag sich fast ausschließlich auf mechanisch-physikalisch-pharmakologische Therapien reduziert hatte, eine wohltuende Ergänzung. Mir wurde klar, dass man als kranker Mensch beides braucht: die Errungenschaften der westlichen Technologie und die Ganzheitlichkeit der östlichen Gesundheitslehre.
Es folgten Wochen der Indienrundreise zu anderen großen Lehrern des Buddhismus und viele kleinere, medizinische Einsätze. Die Not der Bevölkerung ist einfach zu groß, als dass man die Kenntnisse, die man besitzt, nicht einsetzt, um den Kranken zu helfen. Auf den Wegen durch bunte Dörfer und chaotische Städte wurde die Behandlung von Mönchen mit Bluthochdruck, Frauen mit Gastritis, Kindern mit Durchfall, Unterernährung und vereiterten Hautkrankheiten zur Routine. So wurde mir die schwere Krise des indischen Gesundheitswesens bewusst. Durch die Ineffizienz der Staatskrankenhäuser hat die Bevölkerung nur Worte der Enttäuschung für die dort geleisteten Dienste. 80 Prozent der Ärzte arbeiten Voll- oder Teilzeit im privaten Sektor, wo sie ganz im Sinne der Marktwirtschaft und ohne jegliche Kontrolle horrende Preise verlangen. Besonders auffällig ist zudem die sehr fragwürdige Produktion und Verschreibungspraxis von Arzneimitteln. Da aufgrund der katastrophalen Armut nur zehn Prozent der Menschen die westliche Medizin nutzen können, sind oft ayurvedische oder homöopathische Ärzte mit ihren billigeren Medikamenten sowie Schamanen die einzig verfügbaren Helfer.
Geistige Stille, innerer Frieden und Zufriedenheit, ein ganzheitliches Denken und ein bewusstes Sein im Hier und Jetzt sind bleibende Geschenke für den Weg zurück in den Alltag. Bereichert und mit viel Energie und Kraft werde ich wieder in meinen Beruf einsteigen, ausgerichtet auf eine integrative Kinderheilkunde.
Ines Alexandra Rosenstiel, Deutsches Ärzteblatt 2002
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