Junger Herr ganz groß

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LUNATA

Junger Herr – ganz groß

Junger Herr – ganz groß

© 1943 Hans Fallada

1943 erstmals erschienen unter dem Titel

Der Jungherr von Strammin

Umschlagbild: Landesarchiv Berlin

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Ich fahre mit vierhundert Zentnern Weizen nach Stralsund und komme ohne ein Pfund dort an

Ich verliebe mich vom Fleck weg in die schöne Unbekannte und gerate in tausend neue Schwierigkeiten

Ich erfahre Catrionas Geschichte und setze sie auf einer Insel aus

Ich komme zu Geld, verliere Bessy und habe eine Auseinandersetzung mit Onkel Gregor

Ich wohne einem Kampf bei, soll festgenommen werden und gewinne einen Bundesgenossen

Ich segle mit dem Professor nach Hiddensee und werde von ihm aus dem Sattel geworfen

Ich muß mich von Catriona trennen, treffe Bessy und gerate in die Hände des Raubolds

Ich werde Schloßherr auf Ückelitz und mache meinerseits einen Gefangenen. Viele neue Überraschungen

Ich verzanke mich mit Mama, erschrecke sehr über den Raubold und bringe Catriona wider Willen nach Ückelitz

Ich verbringe die schlimmste Nacht meines Lebens, erwache aber recht angenehm

Ich richte mich häuslich auf Ückelitz ein, werde gequält und getröstet. Ein Blitz aus heiterem Himmel

Ich kämpfe gegen Major von Brandau, erhalte einen wichtigen Auftrag und werde durch Mama überlistet. Meine Verzweiflung

Ich kühle mich ab, Bessy und Meister Licht helfen, und ich gehe auf meine Reise ins Ungewisse

Ich reise mit Gregor und werde bestohlen. Mein Glück und meine schreckliche Niederlage. Alles verloren!

Es kommt alles zu einem Ende – und geht weiter, wie es sich gehört

Ich fahre mit vierhundert Zentnern Weizen nach Stralsund und komme ohne ein Pfund dort an

Es war ganz feierlich. Auf dem Hof hielten hintereinander die zwanzig vierzölligen Ackerwagen, jeder bis oben beladen mit prallen Weizensäcken und jeder bespannt mit vier Füchsen, mit jenen prachtvollen Füchsen, die unser Familiengut Strammin weit über Pommern hinaus berühmt gemacht haben. Auf der Freitreppe aber stand mein lieber Papa und hatte eben vor lauter Rührung und Aufgeregtheit zum dritten Mal sein Einglas verloren. Und hinter Papa stand Mama, rückte ihr Häubchen noch schiefer und murmelte immer wieder: »Oh quel grand moment! Mademoiselle Thibaut, mon cachenez!«

Während Madeleine Thibaut der Mama das Taschentuch aus dem großen Pompadour reichte, warf sie, nämlich die kleine Thibaut, mir einen ihrer raschen verführerischen Blicke zu und feuchtete dabei schnell ihre Lippen mit der spitzesten Zunge an – als dürfe sie sich heute früh erlauben, was ich ihr schon zehnmal verboten hatte, nämlich das Poussieren mit mir, dem Jungherrn von Strammin.

Nein, es war wirklich schon gar zu albern und gar nicht mehr feierlich! Es stimmte wohl: auf den Wagen waren unsere letzten vierhundert Zentner Weizen, und wir brauchten den Erlös dafür recht nötig. Und es stimmte weiter, wir hatten bis zum Stralsunder Hafen achtundzwanzig Kilometer zu fahren, und unser Käufer, der Käptn Ole Pedersen der kleinen schwedischen Brigg Svionia, war trotz seiner silbernen Ohrringe ein höchst zweifelhafter Bursche und würde alles versuchen, mich um den Kaufpreis zu prellen. Und zum dritten war es richtig, daß ich zum erstenmal in meinem Leben eine derartige Aufgabe zu erfüllen hatte, weil nämlich unser Inspektor Hoffmann mit einem gebrochenen Bein im Bett lag.

Aber dies war mir nun doch zu viel! Schließlich war ich kein barer Säugling mehr, sondern schier dreiundzwanzig Jahre alt, Erbherr auf, zu und von Strammin, so gut wie verlobt und Besitzer eines vielversprechenden rotblonden Bärtchens (und verdammt vieler Sommersprossen). Außerdem war unser liebes Stralsund kein Ort, wo die Ottern und der Rost hausen, oder wie es sonst in der Schrift heißt, sondern eine gute, alte, ehrbare Hafenstadt, voll tugendsamer Bürger, die einem Strammin in jeder Not beistehen würden.

So rief ich denn mit gewaltiger Stimme über den Hof: »Junghanns, abfahren!«, und der Vorspänner Junghanns knallte mit der Peitsche, seine Füchse warfen die Köpfe und legten sich in die Sielen: knarrend setzte sich der Vierzöller in Bewegung. Und der nächste Knecht knallte mit seiner Peitsche und der dritte, der siebente, der zehnte, der fünfzehnte: donnernd fuhr ein Gespann nach dem anderen durch die gewölbte Torfahrt, achtzig Füchse, einer wie der andere. Und alle Knechte fuhren vom Sattel aus und sahen genauso stattlich und zuverlässig aus wie ihre Gäule. Stolz erfüllte wieder einmal mein Herz auf unser Rittergut Strammin, und ich wußte, die Knechte waren ebenso stolz wie ich, und ich bin überzeugt, selbst die Füchse waren stolz darauf, die schweren Weizenwagen für ein solches Gut ziehen zu dürfen.

»Wenn es euch recht ist, Mama, Papa«, sagte ich und machte eine kleine, scherzhafte Verbeugung, »so wird sich euer Aushilfsinspektor jetzt auf die Strümpfe machen.« Und ich winkte mit den Augen dem Stallburschen, der meinen Reitfuchs Alex am Fuß der Freitreppe auf und ab führte.

»Du hast völlig Zeit, noch eine Tasse Tee mit uns zu trinken, Lutz«, sagte Mama.

»Und noch mehr Ermahnungen anzuhören, nein, ich danke schön!« rief ich. Aber als ich ihr Gesicht sah, bereute ich, was ich eben gesagt. »Oh, verzeihe mir, Mama«, sagte ich schnell, »das war eben sehr ungezogen von mir. Aber ich glaube, ich mache mich jetzt wirklich auf meine Reise. Alex wird schon recht unruhig. Aber ich verspreche dir, ich werde nur im ›Halben Mond‹ am Markt logieren, ich werde mit keinem Unbekannten trinken, kein junges Mädchen anschauen. Ich werde das Geld keine Minute von mir lassen –«

»Ich weiß, ich weiß«, antwortete Mama, schon wieder ganz versöhnt. »Den besten Willen hast du. Wenn du nur nicht gar so sehr ein Strammin wärest –«

»Und was fehlt den Strammins?« fragte Papa kampflustig. »Was hast du an den Strammins auszusetzen, Amélie?«

»Daß sie sich in jedes Abenteuer stürzen, daß sie den Morgen schon über dem Vormittag vergessen, das fehlt den Strammins, Herr von Strammin«, antwortete Mama mit einiger Strenge. »Daß sie keinem Mädchengesicht und keiner Spielkarte widerstehen können. – Nun, nun, Benno«, meinte sie, als Papa sehr rot wurde und Blitze durch sein Einglas schoß, »du hast wohl doch kaum Ursache, dich über diese Bemerkungen zu erregen. Wer hat diesen Winter von Cannes abgeraten? Wer hat gesagt: Monte liegt gar zu nahe? Und wer hat geantwortet: keinen Fuß setze ich in diese Spielhölle, keine Karte rühre ich dort an? Und nun? Warum fahren wir denn unsern letzten Weizen vom Hof und verkaufen ihn an einen Schuft von Kapitän statt an unsern ehrenerprobten Kalander –?«

»Der Schwede zahlt dreißig Mark für die Tonne mehr«, murmelte Papa nun doch sehr betreten.

»Er wird sie nie zahlen«, erklärte Mama. »Er wird überhaupt nicht zahlen. Er wird unsern Jungen begaunern und ihn in tausend Verlegenheiten stürzen. Aber, Lutz«, wandte sich Mama wieder an mich, der bei dieser Auseinandersetzung wie auf Kohlen gestanden hatte, denn diese Person, die Thibaut, hatte das alles mit der spitzbübischsten Miene angehört, ein wahrer Gamin ... »Aber, Lutz«, sagte Mama, »ich weiß, du wirst lieber ohne einen Pfennig Geld zurückkehren als mit dem kleinsten Flecken auf deiner Ehre.«

»Liebste Mama«, sagte ich und bückte mich, um ihr die Hand zu küssen.

Aber sie zog mich an sich und küßte feierlich meine Stirn. »Was man auch gegen die Strammins einwenden kann«, sagte sie dann, »in schwierigen Lagen hat ein Strammin immer gewußt, was ihm seine Ehre gebot. Und ein Lassenthin auch«, setzte sie hinzu, denn Mama ist eine geborene Lassenthin, woran ich in den nächsten Tagen noch mehrfach eindringlich erinnert werden sollte.

»Und nun«, fuhr Mama mit einem jener plötzlichen Übergänge fort, die sie so liebt, und zog mich direkt vor Fräulein Thibaut, »sehen Sie nach, Madeleine, ob Lutz auch völlig comme il faut ist. Ich will doch, daß er in Stralsund gute Figur macht.«

Ich fühlte, daß ich unter dem hellen, musternden Blick der »Eidechse« rot wurde. Dieses Frauenzimmer hat lange, geschlitzte Augen, und sie kann mich damit so schamlos ansehen, daß ich einfach rot werden muß. Jetzt sah sie mich von unten bis oben an, als sei ich nur ein Haubenstock, kein junger Mann. Ich trug lacklederne Reitstiefel vom besten Schuster in Berlin, die wie angegossen saßen, eine schwarz-weiß-karierte Reithose und eine Joppe aus blaugenoppter schottischer Wolle – ich sah wie ein Prinz aus.

»Gestatten Sie, junger Herr«, sagte die Thibaut, stellte sich auf die Zehen und fing an, meinen Schlips aufzubinden. »Ich würde binden die Scarf un peux plus légère.«

 

Ich bin überzeugt, die Schleife saß völlig richtig, sie wollte mir nur am Halse herumfummeln, so nahe an mir stehen, daß sie mich berührte. Nun hatte sie noch die Frechheit, mir zwischen den Lippen geschwind ihre Eidechsenzunge zu zeigen. Kein Mensch weiß, was ein junger Mann von Familie auch auf dem Lande für Nachstellungen zu erdulden hat. »Machen Sie endlich Schluss mit dem Gefummel!« rief ich zornig und machte mich los. »Meine Schleife saß ausgezeichnet.«

»Comme il est ravissant!« rief Madeleine und klatschte in die Hände. »Le vrai Parsival! Toutes les jeunes filles à Stralsund sick werden verlieben.«

»Jawohl, in meine Sommersprossen!« rief ich ärgerlich, und dann nahm ich endgültig Abschied von Mama. Sie küßte mich noch einmal, diesmal auf den Mund; ich weiß, Mama ist stolzer auf mich, als es je ein Mensch auf der ganzen Welt sein kann.

Papa brachte mich noch einige Schritte. Ich hatte die Zügel des Alex über meinen Arm gestreift und hörte mit einiger Ungeduld seine neuerlichen Ermahnungen an: Ich solle keinesfalls den Weizen auf das Schiff lassen, ehe ich nicht das Geld für ihn in der Tasche hätte. Ich solle nicht unter Deck gehen und mit dem Kapitän trinken. Ich solle, wenn mir irgend etwas zweifelhaft erschiene, lieber dreißig Mark Mehrgewinn pro Tonne schießen lassen und zu unserm alten Getreidehändler Kalander gehen: »Obwohl wir jede Mark so nötig wie das liebe Brot brauchen.«

»Lieber Papa«, sagte ich energisch, löste meinen Arm aus dem seinen und stieg auf den Alex, »seit ich lebe, höre ich dies Gerede von der unentbehrlichen Mark. Und dabei haben wir noch immer recht hübsch gelebt, wir und unsere Leute auch. Ich werde die Sache so gut regeln, wie ich kann, und wird doch was falsch, so werden wir genauso weiterleben wie vorher. Du wirst abends deinen Rotsporn trinken und über die schlechten Zeiten stöhnen. Gott befohlen, und grüß die Mama noch schönstens.«

Damit gab ich Alex den Kopf frei und ließ Papa stehen, wo er stand. Die Wahrheit zu sagen, ich hatte jetzt allmählich den Bauch voll Zorn von all diesem Geschwätz. War der Handel mit dem schwedischen Käptn wirklich so gefährlich, so hätte ihn Papa nicht abschließen dürfen, jedenfalls hätte er selber mitreiten können. Aber so war Papa immer: am liebsten setzte er alles auf eine Karte, und ging es dann schief, weinte er allen Leuten die Ohren voll.

Natürlich konnte nicht die Rede davon sein, daß ich ernstlich auf Papa böse war. In ganz Vorpommern einschließlich Insel Rügen gab es keinen besseren und großzügigeren Papa. Aber er hatte eben auch die Schattenseiten der Großzügigkeit, er war, was man so »leichtes Tuch« nennt, und da ich von Mama her ziemlich viel von den Lassenthins abbekommen habe, die sehr genaue Leute sind (wie genau, sollte ich noch heute erfahren), ärgerte mich das manchmal.

Aber der schöne, junge Junimorgen, die Vögel, die noch so eifrig in meines Vaters Park lärmten, der Himmel voller Sonne – all dies und am allermeisten meine frische Jugend vertrieben diesen kleinen Ärger sofort. Ich rückte mich behaglich im Sattel zurecht und wollte eben den Alex zu einem munteren Trabe ausgreifen lassen, als ganz überraschend aus einem Busch eine Gestalt mir in den Weg trat. Der Alex machte einen Satz. »Hoho, Alex!« rief ich und klopfte ihm beruhigend auf den Hals. Und zu Madeleine Thibaut: »Schon wieder Sie! Ich begreife nicht, wie Sie so schnell hierhergelaufen sein können. Aber ganz egal – ich habe genug von Ihnen, von Ihrem Schleiferichten und Zungezüngeln. Fort mit dir, Alex!«

Und ich gab dem Gaul die Sporen, aber nur sachte.

»Jungherr!« rief die Thibaut hinter mir. »Lutz, ich brauche Ihre Hilfe!«

Auf diesen in ganz richtigem Deutsch gerufenen Notschrei parierte ich den Alex noch einmal. Denn die Madeleine beherrscht die deutsche Sprache vollkommen, und nur in ihren übermütigen Stunden gefällt sie sich in einem Radebrechen, das Mama höchlich amüsiert, mich aber gar nicht.

»Meine Hilfe?« fragte ich erstaunt. »Worin kann ich Ihnen wohl helfen, Madeleine?«

»Indem Sie dieses Päckchen in die Hände von Professor Arland vom Königlichen Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium in Stralsund geben«, sagte Madeleine und gab mir ein weiß eingewickeltes Paketchen, das mit einem himmelblauen Bande umschlungen war. Ich nahm es unwillkürlich. »Sie müssen es ihm aber selbst geben, keiner darf zugegen sein, und Sie müssen erreichen, daß er es noch in Ihrer Gegenwart öffnet.«

»Das ist ein seltsamer Auftrag, Madeleine«, sagte ich unschlüssig und befühlte das Paketchen. Es war leicht, es fühlte sich an, als seien Papiere darin, Briefe. »Ich kenne Professor Arland gar nicht.«

»Er aber kennt Sie. Oder er glaubt Sie zu kennen!« rief Madeleine heftig. »Und er glaubt, ein Recht zu haben, eifersüchtig auf Sie zu sein. Sehen Sie, Lutz, in diesem Päckchen sind alle Briefe, die er mir geschrieben hat, und wenn ich sie ihm nun durch Sie zurückschicke und er sieht Sie selbst, Sie verstehen mich, Lutz –?«

Ich dachte, das Päckchen noch immer in Händen, nach. »Wenn ich aber Ihren Boten in dieser seltsamen Sache abgebe, Madeleine«, sagte ich dann, »so stehe ich doch gewissermaßen für Sie ein. Und wenn Herr Professor Arland auch unrecht tut, mir zu mißtrauen, so werden Sie doch zugeben müssen, daß Sie manchmal etwas freigebig mit den Blicken Ihrer Augen, mit Ihrem Eidechsenzüngeln und – vielleicht – auch mit Ihren Küssen sind, Madeleine?«

»So, bin ich das?« rief Mademoiselle Thibaut, jetzt wirklich zornig. »Aber wir sind, gottlob, nicht alle trockene, pedantische pommersche Jungherren mit Fischblut in den Adern. Wir freuen uns an der Welt und an jeder guten Stunde und sehen einen Kuss für keine Sünde an. Aber, Lutz«, fuhr sie ruhiger und doch viel ernsthafter fort, und das elfenbeinfarbene Gesicht mit den geschlitzten Augen sah jetzt beinahe schön aus, »ich bin gar nicht sicher, daß nicht auch einmal Ihre Stunde schlägt, und dann werden Sie froh sein, wenn es nur mit einem Augenblitz und einem Kuss abgegangen ist. Da werden Sie verstehen, daß ein Herz treu sein kann, auch wenn der Mund einmal untreu ist.«

»Nun schön, Madeleine«, antwortete ich, nur halb überzeugt. »Ich kenne Sie nun fast drei Jahre, und ich weiß, daß Sie trotz allem welschen Firlefanzes ein gutes Mädchen sind.«

»Kommen Sie her, Lutz!« rief sie. »Bücken Sie sich ein wenig.« Und als ich ihr ganz überrascht den Willen tat, warf sie mir die Arme um den Nacken und küßte mich drei-, viermal auf den Mund. »So, und nun reiten Sie los, Lutz, und erzählen Sie dies dem Marcellin Arland, und wenn ihn das nicht von Ihrer Harmlosigkeit überzeugt, so soll ihn der Teufel holen und in der hintersten und heißesten Hölle mit der ältesten Hexe verkuppeln.«

»Welch eine Sprache im Munde eines jungen Mädchens!« rief ich empört, kaum war ich wieder zu Atem gekommen. »Und welch unglaubliches Benehmen!«

»Und welch langweiliger, hölzerner Landjunker!« rief sie lachend zurück. »Welch tumber, sittenreiner Parsifal! Was für einen trefflichen Schulmeister Sie abgegeben hätten, Lutz!«

Damit lief sie durch die Büsche zurück zum Haus, ich aber hielt da mit meinem braven Alexius, das ominöse Päckchen mit dem noch viel ominöseren Auftrag noch immer in der Hand. Da ich aber unmöglich zurückreiten und es vor Papa und Mama dem schlimmen Mädchen zurückgeben konnte, verwahrte ich es seufzend in der Satteltasche und überließ es dem Schicksal, wie es mich mit Professor Arland zusammenbringen würde.

Ich überholte meine Vierzöller kurz hinter Strietz, das denen von Belau gehörig ist, nicht sonderlich wegen seiner Wirtschaftsführung berühmt. Dort waren sie aber schon bei der Heuernte, und ich unterhielt mich eine Weile mit unserm Großspänner Junghanns über die Wetteraussichten und ob wohl die Belaus recht hatten, die jetzt schon mähten, oder wir, die erst nach meiner Rückkehr aus Stralsund anfangen wollten. Meiner Ansicht nach hatte das Wetter noch keinen rechten Bestand.

Junghanns war aber nicht bei der Sache, er wollte gern erfahren, wohin sie den Weizen fahren sollten, doch sicher wieder zu Kalander? Grade das aber sollte auf Papas Wunsch nicht erzählt werden. Papa wollte, ich sollte erst noch einmal mit dem schwedischen Käptn reden. So sagte ich nur, ich würde sie unbedingt kurz vor Stralsund abfassen, dort sollten sie auf mich warten, aber ich würde schon bestimmt vor ihnen da sein. In Nipperow sollten sie zwei Stunden füttern, ein Fässchen Bier würde dort für sie aufliegen.

Während sich Junghanns noch bedankte, ritt ich schon los, und ich ritt in einem schlanken Trab bis Nipperow durch, wo ich gegen elf Uhr am Kruge haltmachte. Hier beging ich den ersten schweren Fehler an diesem Tage: in meiner guten Stimmung bestellte ich nicht nur ein Fässchen Bier für meine Leute, sondern auch vier Flaschen Stralsunder Korn, immer für fünf Mann eine. Das ist an sich nicht viel, aber ich hatte nicht bedacht, daß wenig Korn Durst auf mehr Korn macht und daß die Leute bei solcher Fahrt alle eigen Geld bei sich in den Taschen führten. Die Folgen sollte ich noch erleben, vorläufig war ich aber in bester Stimmung. Warum aber das? Weil mich ein Mädel schon am frühen Morgen geküßt hatte. Ich war in dieser Hinsicht nicht verwöhnt worden, einmal, weil Mama, die das leichte Stramminer Blut fürchtete, immer ein Auge auf mich gehalten hatte, zum andern, weil ich wirklich ein etwas schwerfälliger Knabe bin. Die Wahrheit zu sagen, unter all meiner guten Kinderstube steckte ein Großteil Schüchternheit: ich hatte ein bißchen Angst vor den jungen Mädchen. So sicher ich tat, ich wäre maßlos verlegen geworden, hätte eine in meinem Arm gelegen. Kurz und gut, ich war an diesem Morgen noch das, was ich schon durch dreiundzwanzig Jahre gewesen war: ein echtes Muttersöhnchen.

Ich glaubte, Madeleines Küsse noch auf meinen Lippen zu spüren, und in dieser Stimmung behagte mir weder das Geschwätz des Gastwirts, noch gefielen mir die vielen Fliegen in seiner Gaststube. Wieder stieg ich auf meinen Alex und ritt von neuem los. Wohin aber? Für Stralsund war es noch viel zu früh, mein Gespräch mit dem schwedischen Käptn dort war in zehn Minuten abgetan, und im Hotel »Halber Mond« würde ich heute Abend noch lange genug sitzen müssen. Eine Mittagspause aber würde auch ich machen müssen, schon des Alexius wegen. So ritt ich denn von der Landstraße ab und auf kleinen Nebenwegen und Feldrainen der See zu. Strammin ist ein herrliches Gut, ich wünsche mir keine schönere Heimat, aber wir liegen ein wenig fern von der See, mehr als zehn Kilometer. Wir haben die Wolken von der See und den Wind von der See und oft die Möwen und den Geruch der See, aber wir haben ihren Anblick nicht. Drum sehnen wir uns wohl nach ihr.

Nun gibt es genug breite Wege zur See, aber eben die wollte ich vermeiden. Genau hier in der Gegend sind die Schalenbergs begütert, und Bessy ist auch eine Schalenberg. Ich habe es schon gesagt, ich bin so halb und halb verlobt – und zwar mit der Bessy. Wir haben nie ein Wort über die Sache gesprochen, aber wir wissen beide, so ist es zwischen unsern Eltern ausgemacht, und im Grunde haben wir auch nichts dagegen. Bessy ist ein ganz prachtvolles Mädel, groß, weizenblond, schön; wenn ich etwas gegen sie habe, ist es das, daß sie mich immer eine Spur aufzieht, sie kann mich einfach nicht ernst nehmen. Das ist für jemanden, der einmal den Ehemann abgeben soll, nicht sehr angenehm.

Das ist aber auch das einzige, was ich an Bessy auszusetzen habe, wir kommen immer glänzend miteinander aus. Sie versteht enorm viel von Pferden, reitet fast ebensogut wie ich, ist Jägerin – da kann einem der Gesprächsstoff nie knapp werden. Von einer himmelstürmenden Verliebtheit ist natürlich zwischen uns nicht die Rede. Wir kennen uns von Kindesbeinen an, wie man so sagt. Damals haben wir uns gegenseitig an den Haaren gerissen, und einmal habe ich sie auch ins Wasser gestoßen, sie aber gleich wieder 'rausgeholt. Heute sind wir die besten Kameraden, alles andere würde sich in der Ehe schon finden – dachte ich damals. Wir haben uns so eine Art dalbrige Sprache miteinander zurechtgemacht, die uns über jede Verlegenheit forthilft: verlobt und doch nicht richtig verlobt und vor allen Dingen nicht verliebt, nichts von Händedrücken und Küssen – ihr versteht mich schon. Da hilft so ein bißchen Dalbrigkeit über die stillen Minuten fort.

Nun, über den Grund und Boden dieser Schalenbergs ritt ich jetzt seewärts und hatte nicht den geringsten Wunsch, meine sogenannte Braut Bessy zu sehen. Ich hatte nicht etwa ein schlechtes Gewissen wegen der drei oder vier Küsse der Madeleine, ganz im Gegenteil, mit diesen Küssen hatte sie mich eigentlich überzeugt, daß man küssen kann, ohne untreu zu sein. Sondern ich wollte einfach allein sein. Ich wollte allein sein und die See anschauen. Wenn man noch jung ist, hat man solche Wünsche, später ist man sich selbst meist zur Last. Später kennt man sich selbst nur zu gut. Aber damals hatte ich noch keine Ahnung von mir und fand mich hochinteressant.

 

Nun, ich kam an die See, die hier natürlich nur »Bodden« heißt, gut zwei Kilometer ab hatte ich vor der Nase die gelbgrüne Küste Rügens. Ich hing dem Alex den Futterbeutel um, machte ihn mit langem Trensenzügel an einem Birkenbäumchen fest und warf mich selbst ins Gras. Zu essen hatte ich keine Lust. Ich lauschte auf den Seewind, ich hörte auf das Plätschern der Wellen, manchmal schrien die Möwen, dann schnaubte wieder Alex. »Jawohl, Alexius«, antwortete ich ihm. »Hier sind wir in Sonne und Wind und haben nichts auszustehen. Ich finde, wir haben es verdammt gut auf dieser schönen Erde.«

Aber das war nur so ein allgemeines Gerede, ich war eben einfach glücklich. An was Besonderes habe ich nicht gedacht, weder an Küsse noch an Weizen noch an sonst was. Einfach animalisch glücklich.

Nach einer Weile hatte ich aber dann doch keine Ruhe mehr, so gedankenlos dazuliegen. Ich kramte in meinen Taschen herum und suchte meine Mundharmonika hervor. Von Musik verstehe ich, wohlgemerkt, gar nichts, und was man gar klassische Musik nennt, die ödet mich zum Sterben an. Aber meine Mundharmonika liebe ich über alles, und ich exerziere immer auf ihr, wenn ich mich wohl fühle. Natürlich suche ich dazu die stillsten Plätze aus, denn es wäre wohl ein wenig lächerlich, wenn bekannt würde, daß der Jungherr von Strammin auf der Harmonika flötet wie der kleinste Pferdejunge. Aber hier war ich schön allein für mich; der Alex war solche Vorführungen schon gewöhnt, sie störten ihn nicht, er fraß ruhig weiter.

Ich geriet gleich in eines meiner damaligen Lieblingslieder. Ich hatte es einem Leutnant abgelauscht, der es sehr virtuos zur Zupfgeige einem Kreis von jungen Damen vorgeträllert hatte: das Lied von dem entlaufenen Hasen mit den vielen Laridah. Eigentlich ist es jammerschade, daß der Mundharmonikaspieler nicht auch zu seinem eigenen Spiel singen kann, aber ich hatte mich schon an diesen Nachteil meines Instrumentes gewöhnt und sang innerlich jeden Vers gefühlvoll mit. Ich war gerade bei jener Strophe, die da heißt:

Also, Herze, sei zufrieden,

Laridah!

Viele Hasen gibt's hienieden,

Laridah!

Ist der eine dir entlaufen,

Laridah!

Kannst du einen andern kaufen.

Laridah!

Da raschelte es hinter mir im Grase, Alex tat einen Schnober, ich sprang auf, und Bessy stand vor mir.

»Habe ich Euer Liebden in Dero Gefühlen gestört?« fragte sie lachend und amüsierte sich schon wieder über meine Verlegenheit und die Hast, mit der ich meine Harmonika zu verstecken suchte, wo doch jedes Verstecken längst unnütz geworden war. »Welcher Hase ist Euch denn entlaufen, Erbprinz? Oder waret Ihr schon wieder bei einem neuen Ankauf?« Und sie trällerte gefühlvoll:

»Einen schönen, weichen, weißen,

Laridah!

Mucki-Nucki soll er heißen,

Laridah!«

»Oh, höre auf, Bessy«, bat ich. »Wo in aller Welt kommst du überhaupt her? Ich finde es gemein von dir, mich so zu überraschen.«

Sie betrachtete meine Verwirrung mit etwas Nachdenklichkeit. »Also hat der Erbprinz von Strammin wirklich an einen andern Hasen gedacht. Lutz, Lutz, du entwickelst dich. Aus Knaben werden Männer.« Und sie setzte sich ins Gras.

Ich setzte mich neben sie. »Reden Dero Liebden bloß keinen Unsinn«, sagte ich, noch immer verwirrt. »Ich habe überhaupt an keinen Hasen gedacht. Weder an entlaufene noch an neue.«

»Komisch«, sagte die Bessy. »Wirklich komisch. Da reitet der hohe Herr fünfzehn Kilometer über Land, setzt sich ausgerechnet auf den Grund und Boden einer gewissen Prinzessin hin, spielt ein gefühlvolles Lied und behauptet, weder an die Prinzessin noch an andere Häschen gedacht zu haben. Wenn das nicht komisch ist!«

»Und doch ist es die reine Wahrheit«, widersprach ich eifrig. »Ich bin nämlich nicht extra hierhergeritten, sondern ich begleite unsere Wagen, die mit Weizen nach Stralsund fahren.«

Bessy setzte sich auf. »Wollt Ihr etwa Euren Weizen an den alten Schweden Ole Pedersen verkaufen?« fragte sie gespannt.

»Es soll eigentlich ein Geheimnis sein«, antwortete ich, »aber Dero Liebden dürfen es schon wissen; wir sind dessen willens.«

»Dann will ich dir was sagen, Lutz, der Alte wird dich bestimmt begaunern.«

Ich warf mich verdrossen zurück ins Gras. »Hör auf, Bessy. Diese Litanei höre ich nun schon alle Tage. Und überhaupt, was weißt du davon?«

»Genug, Erbprinz, mehr als genug. Weil wir ihm nämlich vorgestern sechshundert Zentner geliefert haben und weil Dero ergebenste Dienerin mit dem alten Schweden in seiner Kajüte gesessen und süßen Schwedenpunsch gesüffelt hat.«

»Bessy!« rief ich, setzte mich auf und starrte sie an. »Es ist doch nicht die Möglichkeit! Und er hat dich begaunert?«

»I wo!« lachte sie. »Ich habe unser Geld auf Heller und Pfennig bekommen, wir waren aber auch die Leimrute, mit der er euch andere ködern will. Und, ganz unter uns gesagt, Lutz, der Alte mit seinen Silberohrringen in den mäßig gewaschenen Ohren ist recht empfänglich für Mädchenlachen oder weiße Mädchenarme. Vielleicht zahlte er darum so willig.«

Ich fühlte, wie mir das Blut zu Kopf stieg. »Bessy –!« rief ich. Aber dann lachte ich. »Auch du singst heute eine andere Weise als sonst, Schalenbergerin. Dein Vater oder dein Bruder würde es nie zugelassen haben –«

»Es gab aber keinen Vater oder Bruder, ich war ganz allein. Glaubst du, daß man einer Bessy von Schalenberg nicht anvertrauen kann, was man einem Lutz von Strammin zutraut? Oder hast du euern alten Hoffmann dabei?«

Ich fühlte, unsere Unterhaltung geriet stark auf ein gefährliches Gleis, aber nun gab es schon kein Zurück mehr. »Und wenn dies auch alles so ist, Bessy«, sagte ich hitzig, »so werde ich doch nie glauben, daß du mit einem alten, schmierigen Segelschiffkapitän allein in seine Kajüte gestiegen bist, mit ihm getrunken hast und diese Arme –« Ich faßte sie und empfand trotz meines Zornes flüchtig, wie schön, kühl und lebendig sie sich anfaßten –, »und daß du diese Arme um seinen Hals gelegt hast, bloß um ein paar Mark mehr herauszuschinden.«

»Und wenn ich es getan hätte?« fragte Bessy sanft (ich hielt noch immer ihren Arm), »würde es Euer Liebden Kummer machen? Würde es Euer Liebden auch nur etwas angehen?«

Sie sah mich sehr ernst an, und ich hatte stärker denn je das Gefühl, daß sie mit mir Katze und Maus spielte. »Wegen Geld, Bessy!« rief ich mahnend. »Bedenke wohl, wegen ein paar schmieriger Taler!«

»Jawohl«, antwortete sie arglistig. »Wegen ein paar schmieriger Taler. Vielleicht aber auch darum, weil es mir Spaß machte, einen alten Gauner zu begaunern.«

»Und darum hast du deinen Arm um seinen Nacken gelegt, Bessy?«

»Darum! Und vielleicht habe ich darum sogar noch mehr getan, vielleicht habe ich ihm darum sogar noch einen Kuss gegeben. – Oh, nur einen Kuss auf die Backe!« rief sie eilig.

Aber ich hatte ihren Arm schon so hastig von mir gestoßen, als sei er eine giftige Schlange. »Ich danke Ihnen, mein Fräulein!« rief ich. »Sie brauchen mir nicht weiter zu erzählen. Dies ist genug!« Ich schüttelte die Hände und sah sie in maßloser Wut an. »Aber verstehst du gar nicht ...?« rief ich wieder. »Nein, ich sehe, Sie verstehen nichts! Aber dies ist wahrhaftig genug!« Ein anderer Gedanke überkam mich. Ich mußte lachen. »Weiß Gott, es trifft sich ausgezeichnet, daß mich heute am frühen Morgen schon ein schönes Mädchen abgeküßt hat. So bin doch wenigstens nicht ich der Betrogene!«

Damit ließ ich sie stehen, wo sie stand, und wandte mich meinem Alex zu. Aber ich war erst dabei, ihm seinen Futterbeutel abzunehmen, als sie mich an der Schulter berührte. »Lutz, was du eben gesagt hast, das war doch gelogen?«

»Es war so wenig gelogen wie deine Geschichte von dem Ole Pedersen«, antwortete ich und wechselte die Trense mit der Kandare aus.

Sie starrte mich nachdenklich an. »Ich glaube es nicht. Alle wissen, daß du mir bestimmt bist, und keine würde es wagen –«

»Wagen?« fragte ich und drehte mich scharf nach ihr um. »Es ist also ein Wagnis, mich zu küssen? Für Fräulein Bessy aber ist es kein Wagnis, einen alten, schmierigen Schiffskapitän abzuküssen?«

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