Junger Herr ganz groß

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Sie sah ihn mit einem seltsamen Lächeln an. »Es ist fast Mitternacht. Eine ungewöhnliche Stunde, eine Dame auf die Straße zu schicken, nicht wahr?«

Herr Ericke hatte schon den Koffer gefaßt. Ohne sie oder mich auch nur anzusehen, antwortete er mit einem gewissen Trotz: »Je weniger über diese Sache gesprochen wird, um so besser.« Er schickte sich an zu gehen.

Ich trat ihm in den Weg. »Einen Augenblick, Herr Ericke«, sagte ich. »Es ist Ihnen doch wohl klar, daß diese Dame nur mit mir Ihr Haus verläßt? Sie werden auch meine Sachen nach unten schaffen müssen.«

Herr Ericke atmete schwer. Dann hatte er sich entschlossen: »Ich würde es von Herzen bedauern, Herr von Strammin, aber auch in diesem Fall müßte meine Entscheidung unverändert bleiben.«

»Herr Ericke!« rief ich. »Besinnen Sie sich! Auf ein Geschwätz hin wollen Sie eine Dame um Mitternacht auf die Straße jagen? Nun, wenn Sie das tun, so wird es ein solches Geschwätz über Sie und Ihr Haus geben, daß Sie kaum noch jemanden auf die Straße zu setzen haben werden!«

»Das ist möglich«, antwortete Herr Ericke mit einem dünnen Lächeln. »Aber ich werde es auf diese Möglichkeit hin wagen.« Und er schickte sich an zu gehen.

»Herr von Strammin«, rief mich Frau von Lassenthin leise an. Ich trat zu ihr. Sie flüsterte: »Würden Sie die Güte haben, das Zimmer hier für mich zu bezahlen? Sie verstehen, ich will nicht aus diesem Hause gehen, ohne daß das Zimmer bezahlt ist.«

So zornig ich war, es kam mich beinahe ein Lachkrampf an. »Ich hoffe, es geht noch«, flüsterte ich zurück. »Ich habe nur noch ein paar Mark in der Tasche. Aber ich denke, sie werden reichen.«

Sie lächelte zurück. »Irrender Ritter«, flüsterte sie.

»Ganz so«, antwortete ich, und wir folgten Herrn Ericke, der von der Tür her mit mißtrauischen, mißbilligenden Blicken unser Geflüster beobachtet hatte. Es gab noch einen Aufenthalt an meiner Stubentür. Ich stopfte eilig alles herumliegende Zeug in meine beiden Satteltaschen, die ich über meinen Arm hing.

»Meinen Alex werde ich bis morgen früh in Ihrem Stall stehenlassen müssen, Herr Ericke«, sagte ich, wieder auf den Flur hinaustretend. »Ich hoffe, Sie erlauben mir wenigstens das.«

»Sie wissen sehr gut, Herr von Strammin, wie gern ich auch den Herrn des Alex als Gast behalten hätte«, antwortete Herr Ericke mit so aufrichtiger Trauer, daß ich meine boshaften Worte bedauerte.

Aber unten in der Halle gerieten wir beide dann doch wieder in Streit. Herr Ericke weigerte sich energisch, eine Rechnung für das Zimmer von Frau von Lassenthin auszufertigen. Es sei tatsächlich nicht benutzt und die besonderen Umstände ... Und ich, der ich ganz ungewiß über die Zahl der Markstücke in meiner Tasche war, mußte aufs entschiedenste auf diese Rechnung bestehen! Das sei eine neue Kränkung durch Herrn Ericke ...

Schließlich gab er nach. Sicher war es nicht Bosheit von ihm, sondern einfach Hotelroutine, daß er, nun einmal beim Schreiben, auch meine Rechnung ausfertigte. Ich sah sein Beginnen starr vor Schreck an. Ich hatte ungewöhnlich üppig zu Abend gegessen, die Bezahlung auch dieser Rechnung lag außerhalb jeder Möglichkeit! Aber konnte ich denn, nach allem Vorangegangenen, Herrn Ericke gestehen, daß weder Frau von Lassenthin noch ich im Besitz irgendwelcher nennenswerter Geldmittel waren? Was für ein neues, zweifelhaftes Licht wurde dadurch auf meine Dame geworfen! Gottlob merkte Frau von Lassenthin nichts von meinen Nöten. Sie besah, wie ich durch einen raschen Umblick feststellte, gerade die Fahrpläne der Rügendampfer.

So schob ich denn mit kurzem Entschluss die auf meinen Namen ausgefertigte Rechnung an Herrn Ericke zurück: »Dies ist Sache meines Vaters, in dessen Geschäften ich hier bin.« Dann fingerte ich aus meiner Tasche vier Markstücke – gottlob, es waren vier, nicht nur drei, wie ich gefürchtet hatte – und sagte: »Den Rest wollen Sie bitte Puttfarken geben. – Ist es Ihnen jetzt recht, gnädige Frau?«

Die Satteltaschen über dem Arm, ihren Koffer in der Hand, verließ ich hinter Frau von Lassenthin durch die Schwingtür den »Halben Mond«. Herr Ericke sah uns halb finster, halb traurig nach. Ich bin überzeugt, er war zehnmal verzweifelter als wir. So hatte er wohl noch nie Gäste aus seinem Haus gesandt. Das mußte ihm ja das Herz brechen!

Ich erfahre Catrionas Geschichte und setze sie auf einer Insel aus

Ich hatte unser Gepäck am Rande des Marktes abgesetzt. In der Zeit, die ich im Hotel verbracht hatte, war der Mond weitergewandelt, er stand nicht mehr hinter den spitzen Giebeln des Rathauses, sondern schon tief hinter Dächern: Wir waren im Schatten, ich sah Catrionas Gesicht nur wie einen grauen Schein.

»Das Geld hat also gereicht?« fragte Catriona. »Ich habe für uns gezittert, Lutz. Seltsame Menschen sind wir! Ich habe so viele Erniedrigungen in den letzten Monaten erlebt, daß ich oft denke, ich kann nichts mehr empfinden. Und doch habe ich schon bei dem Gedanken, Sie könnten die Rechnung nicht bezahlen, vor Scham gebebt.«

»Doch, es hat gereicht, Catriona«, sagte ich, aber ich verschwieg ihr, in welch schwieriger Lage ich gewesen war. »Aber was tun wir nun, wir irrenden Ritter?«

Ehe sie noch darauf antworten konnte, fing die Glocke von St. Nikolai gerade über uns zu schlagen an, mit einem tiefen Brummen, das immer stärker wurde: Mitternacht! Von den einzelnen hallenden Schlägen schien der Boden unter unseren Füßen zu zittern. Catriona hatte in einem plötzlichen Erschrecken nach meiner Hand gegriffen, und so standen wir beide auf dem Marktplatz, zählten gemeinsam die Schläge und sahen dabei nach den erhellten Fenstern der Konditorei Kahnert hinüber. Es war ein seltsames Gefühl, hier mitten in der Nacht zu stehen und nicht zu wissen, wohin wir gehen sollten.

»Mitternacht!« sagte Catriona, nach dem letzten Schlag tief aufatmend. »Mitternacht! Ach, es ist doch gut, Lutz, daß ich hier jetzt nicht allein stehen muß, sondern daß ich dich neben mir habe.«

Sie hatte das »Du«, das mich freudig erzittern ließ, so selbstverständlich gebraucht: Dies sanft leuchtende Monddunkel, in dem wir standen, begünstigte wohl die vertraute Anrede.

Ich drückte ihre Hand leise zum Dank und fragte: »Und was befiehlt meine schöne Herrin?«

»Das muß der Ritter bestimmen. In die Hände der Ritter ist stets das Geschick der schönen Frauen gegeben.«

Etwas zaghaft schlug ich vor: »Vielleicht gehen wir in irgendein Hotel am Bahnhof. Dort kennt man weder – Sie noch mich. Und morgen früh kann ich mir beliebig viel Geld verschaffen.«

Sie schauderte. »O nein, Lutz, nicht wieder in ein Hotel! Dies möchte ich nicht noch einmal erleben! Können wir nicht eine Weile auf und ab gehen, bis wir uns klargeworden sind, was wir zu tun haben? Die Nacht ist so schön – mußt du durchaus schlafen?«

»Ich war noch nie so wach. Also komm, Catriona, laß uns zum Hafen hinuntergehen. Dort ist es jetzt am stillsten, und man riecht die See.«

Ich griff nach unserm Gepäck, aber sie berührte leise meine Schulter. »Herr Ritter«, fragte sie, sehen Sie dort die hellen Fenster?«

»Ja«, antwortete ich. »Das ist die Konditorei Kahnert, das beliebteste Café Stralsunds.«

»Es liegt wohl nicht mehr im Bereich des Möglichen, daß wir dort einen Augenblick hineingehen und ein bißchen Kuchen und Schlagsahne essen? – Ich muß dir nämlich gestehen, Lutz«, setzte sie hinzu, »daß ich ziemlich lange nichts Rechtes gegessen habe. – Ach, Lutz!« rief sie reuig, als sie mein Zögern sah, »mache ich dir schreckliche Schwierigkeiten? Natürlich komme ich noch eine lange Zeit ohne Essen aus, eine sehr lange Zeit!«

»Davon kann nicht die Rede sein«, sagte ich entschlossen. »Ich denke doch, man kennt dort mein Gesicht und meinen Namen und wird anschreiben. Aber –«

»Aber, Lutz?«

»Ich fürchte, es wird uns gehen wie im ›Halben Mond‹. Wir werden angesehen werden, und wenn sie heute auch noch nicht wissen, wer du bist, morgen werden sie es erraten haben, daß ich mit dir dort saß.«

»Du hast recht, Lutz«, sagte sie entschlossen. »Laß uns zum Hafen gehen. Ich freue mich auf das Meer, ich habe euer nordisches Meer noch nie gesehen!«

»Nun«, sagte ich, war aber mit meinen Gedanken nicht bei der Sache, »es ist auch hier nicht das Meer, was du zu sehen bekommst, Catriona. Es ist nur der Sund, der Strelesund, weißt du, nach dem Stralsund seinen Namen hat.«

»Was ist ein Sund, Lutz?«

»Ein Sund ist eine Meerenge, Catriona.« Aber nun hatte ich es. »Und jetzt weiß ich auch, Catriona«, rief ich, »wo wir den Rest der Nacht bleiben und wie du etwas zu essen bekommst! Komm nur schnell, ich will gleich sehen, welcher Dampfer am Bollwerk liegt.«

Wir hatten Glück: es lagen alle drei Dampfer dort, als wir an den Hafen kamen, die beiden Rügendampfer und auch der uralte Raddampfer Tirpitz, der nach Hiddensee fuhr. Still und dunkel lagen sie dort, und kein Mensch war weit und breit zu sehen.

»Bleibe einen Augenblick hier stehen bei dem Gepäck, Catriona«, rief ich. »Ich will erst sehen, ob die Luft rein ist.«

»Aber was hast du denn nur vor, Lutz? Erzähl mir doch wenigstens –«

»Keine Zeit jetzt, Catriona! Je schneller du was zu essen bekommst, um so besser!«

Ich hatte mir die uralte Tirpitz ausgesucht. Die Tirpitz war das Gespött der Stralsunder und das Gelächter der andern Dampferbesatzungen. Sie war so alt, daß sie jeden zweiten oder dritten Tag Maschinenschaden hatte und irgendwo einen halben Tag hilflos liegenblieb, bis sie wieder notdürftig geflickt war. Auch an ihren besten Tagen brauchte sie für die Fahrt nach Hiddensee, die jeder andere Dampfer in drei Stunden machte, ihrer sechs. Das aber hatte den Vorteil, daß ihre Kombüse weit reichlicher versorgt war als die der andern Dampfer: Wenn sie schon so lange unterwegs war, mußte sie ihre Passagiere doch wenigstens ernähren!

 

Nun kam es darauf an, ob jemand an Bord war. Offiziell gab es natürlich immer eine Bordwache, aber sie nahm es mit ihren Pflichten nicht so genau und erteilte sich gern einen Extraurlaub zur Frau oder in eine Hafenschenke. Die Brücke war natürlich eingezogen, aber die Tirpitz lag nahe genug am Bollwerk, daß ich mit einem kleinen Sprung an Deck war. Zuerst schlich ich vorsichtig in die Kajüte erster Klasse hinunter, sie hatte Samtsitze, deshalb schlief die Bordwache dort am liebsten. Einen Augenblick stand ich lauschend, als ich aber kein Schnarchen, nicht einmal Atmen hörte, brannte ich ein Streichholz an: Die Kajüte war leer. So steckte ich denn zuerst einmal die große Petroleumlampe über dem kreisrunden Eichentisch an und stieß auch gleich noch ein Bullauge auf: Es roch ziemlich muffig in diesem alten Kasten.

Eine Bleibe bis zum frühen Morgen, bis zum sehr frühen Morgen hatten wir, nun kam es darauf an, ob ich auch etwas zu essen fand. Die Kombüse war mittschiffs, Steuerbord, direkt bei dem großen Radkasten. Die Tür war nicht verschlossen, sie konnte nicht verschlossen ein, das wußte ich, schon seit Jahren war das Schloss entzwei. Aber der Schrank konnte abgeschlossen sein, und so ernst ich auch über Catrionas Hunger dachte, aufgebrochen hätte ich ihn nicht gern.

Gottlob hatte ich es nicht nötig, er war offen – wer hätte denn auch auf der alten Tirpitz je etwas Mitnehmenswertes gesucht? Es gab Semmeln da, ein bißchen alt und trocken fühlten sie sich wohl an, aber wir waren nicht in der Lage, wählerisch zu sein. Und es gab ein paar Reste Wurst, etwas Butter, es gab sogar gemahlenen Kaffee in einer Blechdose. Ich steckte den Spirituskocher an, setzte den Topf mit Wasser auf, und nun machte ich mich erst einmal daran, Catriona, die da noch immer einsam und verlassen am Kai stand, an Bord zu holen.

»Komm, Catriona, ich habe ein wunderbares Zimmer für dich, und Frühstück oder Abendessen, oder wie du es nennen willst, wirst du auch gleich bekommen. Das Kaffeewasser muß bald kochen.«

»Oh, Lutz, daß ich dich habe! Was machte ich jetzt ohne dich? Werde ich wirklich etwas zu essen bekommen?«

»Aber natürlich! Die Semmeln sind schon ein bißchen alt, und ich fürchte, Moder Rickmersch hat die böse Angewohnheit, ihren gemahlenen Kaffee von vornherein mit Zichorie zu versetzen ...«

»Ist ja alles gleich! Ach, Lutz, mir war schon ganz elend vor Hunger! Wie ich da eben so allein mit dem Gepäck stand, fiel mir plötzlich ein, daß in den kleinen italienischen Häfen immer Apfelsinen am Bollwerk schwammen; wärest du drei Minuten später gekommen, du hättest mich auf einer schmählichen Apfelsinesuche gefunden!«

»Du hättest sie nicht essen können, sie wären gallenbitter gewesen vor Salz. Nein, ich habe Besseres für dich.«

Catriona starrte die Kajüte der Tirpitz mit großen, verwunderten Augen an. So etwas hatte sie wohl noch nie gesehen, so weit sie auch in der Welt herumgekommen sein mochte. Die Kajüte der Tirpitz ist auch so uralt eingerichtet, daß man sie direkt in ein Museum überführen möchte: mit ihrem riesigen kreisrunden Eichentisch, in den Hunderte von Fahrgästen ihre Namen oder auch ihrer Mädchen Namen eingeschnitten haben, und manchmal auch recht gewagte Sprüchlein, die gottlob meist in Platt ... Und mit ihrer langen Bank an allen Wänden entlang, dieser Bank, auf der ganz dünn gewordene rote Samtkissen lagen ... Und mit ihren niedrigen, grünlichen Spiegeln an allen Wänden, Spiegeln, die in gedrehte Goldleisten gefaßt waren, und in allen sah man wie ertrunken aus ... Und mit der ungeheuren messingnen Petroleumlampe über der Mitte des runden Tisches, deren Licht durch Hunderte von kleinen Spiegelstücken aufgefangen, widergestrahlt und hin und her geworfen wurde, als säße man hier im Kopf eines Leuchtturms und nicht im Bauch eines Schiffes.

Nein, so etwas hatte Catriona wohl noch nicht gesehen. Mit einem glücklichen Seufzer ließ sie sich schließlich auf eine der Samtbänke gleiten und sagte: »Du bist ein Hexenmeister, Lutz! So glücklich bin ich seit langer, langer Zeit nicht gewesen. Es ist, als wären wir beide in einem Zauberschloss, wir beide wie Kinder, und alles Böse wäre ganz, ganz fern, unwirklich, nur einmal vor langer, langer Zeit geträumt. Ach, sage es mir, Lutz, daß ich alles nur geträumt habe!« Sie sah mich an mit ganz glücklichen Augen. Jetzt funkelten alle Goldflitter auf ihrem Grunde, als hätte jede einzelne Spiegelscherbe des alten Blakers unter der Decke jedes einzelne Flitterchen darin entzündet. Gleich aber fuhr sie wieder zusammen: »Wir dürfen hier doch wirklich sein, Lutz? Es kann uns doch keiner von hier fortjagen?«

»Natürlich dürfen wir hier sein, Catriona«, sagte ich beruhigend. »Mach dir nur keine Sorgen! Und jetzt will ich schnell nach meinem Kaffeewasser sehen, und dann wirst du essen ...«

»Dann wirst du essen – es ist lange her, daß mir das jemand so gesagt hat. Früher habe ich nie über Essen nachgedacht, Lutz, es war so selbstverständlich, und nun ... Es ist so vieles ganz anders geworden in meinem Leben. Ich verstehe es oft wirklich nicht, und immer wieder denke ich: Das träumst du nur, es ist unmöglich, daß du dies erlebst, Catriona! Aber du mußt jetzt nicht denken, Lutz, daß ich Angst habe, ich habe vor nichts Angst. Es tut mir nur so gut, mich einmal ausruhen zu können, es braucht gar nicht lange zu sein, Lutz.«

»Ruhe dich aus, Catriona. Es kann auch lange sein, ruhe dich nur aus.«

»Ja. Und dann werden wir nach Ückelitz gehen, morgen schon, nein, heute noch. Ich weiß, Lutz, du willst es nicht, aber es muß unbedingt sein. Du weißt gar nicht, wie sehr es sein muß!«

»Ich muß jetzt wirklich nach dem Kaffeewasser sehen«, sagte ich und machte, daß ich davonkam. Ich wollte jetzt nicht mit ihr über Ückelitz reden. Wenn ich ihr auch versprochen hatte, sie hinzubringen, ich hoffte doch immer noch, irgend etwas würde dazwischenkommen. Vielleicht war Gumpel morgen wirklich wieder gesund oder doch so weit, daß er uns einen brauchbaren Rat geben konnte, denn einen solchen hatten wir dringend nötig.

Während ich den Kaffee aufgoß und Semmeln schmierte und belegte, dachte ich, wie es hier mit uns auf dem Dampfer gehen würde. Es war natürlich nicht wahr, daß wir hier sitzen und sogar die Vorräte aus dem Kombüsenschrank aufessen durften. Wenn wir jungen Leute von den Gütern zu einer Bockauktion oder einem Kreistag nach Stralsund kamen und hatten die halbe Nacht durchgefeiert und keiner mochte mehr in sein Hotel gehen, da waren wir manchmal hier zu den Dampfern hinuntergezogen und hatten es uns auf den Samtbänken bequem gemacht und wohl auch einmal einen Kaffee gebraut.

Es ist aber sehr ein ander Ding, ob man so etwas mit Geld in der Tasche oder ohne jeden Pfennig tut. Und es ist weiter ein ander Ding, ob man das mit fünf, sechs jungen, vergnügten Männern oder mit einer jungen Dame tut. Es war mir ganz klar, wir mußten mit dem Allerfrühesten fort, noch ehe die Nachtwache oder der Heizer an Bord kam, und der alten Moder Rickmersch mußte ich so schnell wie möglich ein paar Mark schicken, natürlich ohne Absender. Von Frau von Lassenthin durfte niemand hier etwas sehen, deren Aussichten standen schon schlimm genug. Erfuhren es die Leute, daß sie mit mir eine Nacht auf der Tirpitz verbracht hatte, so hätte kein Engel vom Himmel ihren Ruf mehr weißwaschen können. Hätte ich nur Zeit gehabt, richtig über unsere verfahrene Lage nachzudenken, ich wäre wohl ganz verzweifelt, aber so begnügte ich mich damit, für den Augenblick zu sorgen, und dachte nicht an die nächste Stunde.

Im Augenblick durfte ich Catriona, die müde und ein wenig mutlos war, nicht allein lassen, und ich mußte ihr zu essen geben. Ich räumte die Kombüse auf, so gut es gehen wollte, löschte das Licht und ging vorsichtig mit meinem Tablett über das jetzt fast dunkle Verdeck. Nur noch ein Nachleuchten des Mondes war am Himmel, es wurde schon frischer von Osten her, der Morgen war nicht mehr so fern.

Nach all dem Gerede von ihrem großen Hunger hatte ich schon gefürchtet, Catriona würde von den wenigen Semmeln ganz enttäuscht sein. Aber sie aß nur wie ein Spatz, vielleicht auch, weil sie so müde war oder weil sie an etwas anderes dachte. Ich verstand unter Hunger etwas Größeres, und obwohl ich vor nicht sehr vielen Stunden im »Halben Mond« recht ausgiebig gespeist hatte, machte es mir keine Mühe, die Teller hinter Catriona leerzufegen.

»So«, sagte ich dann zu ihr. »Das Tablett lassen wir jetzt hier ruhig auf dem Tisch stehen, und du legst dich lang auf die Bank, und ich decke dich mit ein paar Polstern zu. Du mußt müde sein, und du mußt auch Kräfte sammeln, für alles, was morgen kommt. Ich werde unterdes an Deck ein wenig auf und ab spazieren und Wache halten, wie es einem richtigen irrenden Ritter geziemt. Ich bin nämlich gar nicht müde.«

»Das will ich alles gern tun«, antwortete Catriona. »Aber ehe du hinaufgehst, setze dich erst neben mich und laß dir erzählen, wer ich eigentlich bin und warum ich hier hinaufgefahren bin; euch allen zur Unruhe.«

»Ach, Catriona«, sagte ich. »Das hat ja alles Zeit. Du bist so müde, und was mich angeht, so glaube ich einfach an dich, von der ersten Stunde an, da ich dich sah. Mir brauchst du nichts zu erzählen.«

»Es muß aber sein, Lutz«, antwortete sie, faßte nach meiner Hand und zog mich neben sich. »Wenn es nicht deinetwegen sein muß, so muß es meinetwegen sein. Du bist nun einmal mein Ritter geworden, und ein Ritter muß wissen, welche Farben er trägt und für wen er sich schlägt.«

»Was willst du mir erzählen, Catriona?« rief ich. »Ich kenne ihn doch und seine Art, ich habe ihn nie ausstehen können! Er hat dich belogen, wie ja alles Lüge und Betrug und Falschheit ist, was er tut. Warum willst du dir und mir das Herz schwer machen, indem du dich an alles erinnerst? Wir finden schon einen Weg aus alledem.«

Ich wollte wieder aufstehen. Die Wahrheit aber war, ich wollte wirklich nichts hören. Ich konnte es nicht ertragen, daß sie von ihm sprach. Der Gedanke war mir unerträglich, daß etwas so Reines und Schönes und Stolzes wie Catriona einmal einem Mann wie Gregor gehört hatte und daß er sie hatte kränken und beleidigen dürfen. Es war wohl Eifersucht, die aus mir sprach. Ich wollte ihn ausstreichen aus ihrem Leben, für mich – und sie sollte ihn auch ausstreichen!

»Nein, bleib sitzen, Lutz«, sagte sie wieder. »Eben hast du gesagt, du hast ihn nie ausstehen können. Aber ich, ich habe ihn doch einmal gern gemocht, so gern, daß ich seinetwegen aus meinem schönen Elternhaus fortgelaufen bin. Sieh, Lutz, das mußt du erst einmal verstehen, sonst verstehst du gar nichts, sonst denkst du womöglich, ich war schlecht oder leichtsinnig. Aber das war ich nie. Ich war nur sehr jung und unerfahren und maßlos verwöhnt. Ich bin auch auf einem großen Gut aufgewachsen, aber drunten im Österreichischen, und sie haben mir die richtige Komtessenerziehung gegeben. Von nichts habe ich recht gewußt, nur von Pferden und Hunden und von der Jagd. ›Plagen S' das Madel net mit all dem neumodschen Krimskrams‹, hat mein guter Papa immer zu meinen Erzieherinnen gesagt, ›geben S' ihr eine solide oberflächliche Erziehung.‹ So habe ich denn ein bißchen Klavierspielen gelernt und ein bißchen Französisch parlieren, und sonst bin ich aufgewachsen wie ein Baum auf dem Feldrain draußen. Ich hab nach allen Seiten wachsen dürfen, meinem Papa war alles recht. Wie ich erst Vierzehn war, da habe ich schon alle Jagden mitreiten dürfen, und mit Sechzehn haben mich die Eltern schon auf die Bälle geführt, und zum Fasching sind wir immer nach Wien gefahren ...

Und immer war ein Haufen junger Burschen um mich herum, draußen auf dem Gut und im Winter dann in Wien, aber die richtigen Burschen, gute Kameraden im Sattel und im Tanzsaal, nie ein schlechtes Wort, aber immer lustig und aufgedreht ... Ach Gott, Lutz, was haben wir da für ein Leben geführt, was haben wir für Streiche aufgestellt, aber immer in allen Ehren, nur Übermut, nie etwas Böses! Mein bester Freund aber war der Ferdl, der jüngste Sohn von einem Nachbargut. Der hat für mich alles getan, was ich nur mit den Augen gewünscht hab! Ich hab gewußt, er hat mich gern gehabt, aber wir haben nie ein Wort davon geredet. Es konnte ja nie etwas werden, er hatte gar nichts; mein Papa, so gut er war, das hätte er nie zugegeben. Und der Ferdl sah's ja auch ein. Was sollte solch ein verwöhntes Mädchen mit einem, der jedes Jahr nur ein paar silberne Ehrenpreise vom Rennen heimbrachte und der sich ein kleines Taschengeld damit verdiente, daß er ein bißchen mit Pferden handelte, natürlich nur so unter Kameraden, aus reiner Gefälligkeit, verstehst?

 

Ja, sieh, und gerade der Ferdl, der unter jeden meiner Schritte die Hände hätte legen mögen, der hat ihn einmal aus Wien mitgebracht, du weißt schon, welchen ich meine. Wie ich ihn gesehen habe, hab ich gleich gemerkt, er war ganz anders als all die jungen Burschen bei uns. Er hat von so viel zu reden gewußt, von dem wir nie eine Ahnung hatten, und überall in der Welt war er schon gewesen, oder doch beinahe überall. Zuerst hab ich ihm immer zuhören müssen, wenn er erzählt hat, und er war immer sehr höflich zu mir, ganz anders als die Jungen, nicht kameradschaftlich, sondern als wär ich eine Göttin – und ich war doch nur eine dumme Gans!

Dann habe ich langsam gemerkt, er hat mich gern gemocht, auf eine ganz andere Art wie meine Jungens dort unten. Ich bin ganz selig gewesen, daß solch ein großer, bedeutender Mann mich armes Pferdekomtesserl überhaupt hat anschauen mögen. Und doch habe ich Angst vor ihm gehabt und bin ihm ausgewichen, wo ich konnte. Die Nächte habe ich nicht mehr schlafen können, und wenn ich den Ferdl allein gehabt hab, hat er mir immer von seinem Freund, dem Gregor, erzählen müssen, es war ihm schon ganz zuwider!«

Catriona schwieg. Sie sah vor sich hin auf den zerschnitzelten Eichentisch, in den so viele Namen geschnitten waren, aus Liebe. Aber sie dachte wohl nicht an diese Namen, sie dachte zurück an ihr Heim, vielleicht an den getreuen Ferdl, der ihr die Hände unter die Füße hätte breiten mögen, und es hatte doch nichts genützt. Auch ich hätte es gern getan – würde ich aber mehr ausrichten können?

Ich sah mit Sorge und Liebe in ihr Gesicht. Je weiter sie erzählt hatte, um so fremder war's mir geworden. Wie ihre Sprache sich immer heimatlicher, immer österreichischer gefärbt hatte, so war sie ein ganz anderes Wesen geworden, nicht mehr die Catriona. Die Catriona meinte ich seit langem zu kennen, aber dies Mädchen, aus dem die Catriona doch geworden war, das kannte ich nicht! Unser Leben hatte angefangen, als sie in der Hotelhalle gestanden hatte, hilflos und ein wenig verzweifelt, eine schöne, ferne, geliebte Frau! Und wieder wäre es mir lieber gewesen, ich hätte von all ihrem Leben vorher nichts gewußt, auch nichts von dem getreuen Ferdl. Es ist ja immer und bei allen Liebenden so, daß sie das Leben mit der Geliebten neu beginnen und alles Vorherige aus dem großen Lebensbuch ausstreichen möchten. Daher kommen vielleicht die Irrtümer der Liebenden – aber davon verstand ich damals noch nichts.

Wenn ich aber auch nichts mehr hören wollte und nie etwas hatte hören wollen, so war mir doch, als müßte ich jetzt noch abwenden, was geschehen war, als könnte ich's jetzt noch hindern. Ich mußte in ihr versonnenes Schweigen hinein fragen: »Und dein Papa? Und der Ferdl? Hat denn keiner gemerkt, wie's um dich stand? Hat denn keiner geahnt, was für ein Mensch der Gregor war?«

»Ach, geh!« sagte sie. »Wer hätte denn so was merken sollen? Ich hab's dir doch erzählt, wie obenhin wir gelebt haben, wir all mit unserer guten oberflächlichen Erziehung! Wenn jemand sich nur gut benehmen konnte und ein bißchen geschickt parlieren und hat ein Geld gehabt, oder hat wenigstens so auftreten können, als hätte er eines, dann ist schon alles gut gewesen. Und als sie gemerkt haben, wie's um mich stand, da ist schon alles viel zu spät gewesen. Viel zu spät!«

Sie schwieg wieder einen Augenblick, aber diesmal mochte ich sie nichts fragen. Beinahe etwas wie Unmut empfand ich gegen sie, einen gekränkten Zorn, daß sie sich von Gregor hatte täuschen lassen. Ich kannte doch den Gregor, so manches Mal hatte ich gesehen, wie er sich vor Frauen und Mädchen aufspielte, es war mir immer vorgekommen, als balze ein Auerhahn! Und sie hatte sich blenden lassen! Ich konnte es nicht verstehen!

Gleich fiel mir doch ein, daß ich ein Mann war, daß der Gregor ein Onkel von mir war, von dem ich viele schlimme Geschichten seit eh und je wußte. Sie aber war ein junges Mädchen von siebzehn, achtzehn Jahren gewesen, sie hatte ihn mit ganz anderen Augen gesehen, ich würde ihn nie so sehen können. Ich mußte es einfach hinnehmen. Ich mußte versuchen, dies Gefühl zorniger Kränkung in meinem Herzen zu überwinden, ich hatte ihr nichts zu vergeben, ich verblendeter Narr.

»Ja«, sagte Catriona da, »gerade, daß sie merkten, wie es um mich stand, gerade daß sie nun alle gegen ihn waren, das hat mich erst in seine Arme getrieben. Mein guter Papa, der mir mein ganzes Leben den Willen gelassen hatte und der nun plötzlich unerbittlich bei seinem Nein blieb, und alle meine Freunde, die plötzlich zweifelhafte Geschichten von ihm wußten, die haben mir erst den Kopf verlieren lassen. Ich hatte doch immer noch in meinem Leben meinen Kopf durchgesetzt, und nun, in der allerwichtigsten Sache, sollte ich ihn nicht durchsetzen? Da hatte er's leicht, mir zuzureden, in heimlichen Briefen und in noch heimlicheren Zusammenkünften, daß ich zu ihm halten müsse, nun grade, und daß sie sich schon alle geben würden, käme ich erst als seine Frau mit ihm zurück. Hätten sie's nicht alle so schlimm mit mir getrieben und wären sie nicht plötzlich alle barsch und kalt zu mir gewesen, die sonst nie ein böses Wort gehört hatte, wie wäre ich unschuldiges, behütetes Ding denn auf die Idee gekommen, mit einem fremden Mann so mir nichts, dir nichts in die Welt zu laufen, fort von meinen guten Eltern und von meinem schönen Elternhaus und fort von den Pferden und von den Hunden?

Mehr im Zorn auf die anderen als aus Liebe zu ihm bin ich fortgeschlichen, mehr aus trotzköpfiger Rechthaberei, als weil ich nicht mehr ohne ihn leben konnte. Was wußte ich denn von ihm? Nicht mehr, als man in seinem Salon parliert, wo immer zehn Ohren zuhören; nicht mehr, als was sich im Tanzen zuflüstern läßt, wo stets zehn Augenpaare beobachten. Ach, die paar eiligen Küsse unter dem großen Tulpenbaum im Park mit seinen tiefhängenden Ästen – für mich war's mehr Abenteuer und Romantik als Verliebtheit oder gar Liebe!

Aber da war ich nun plötzlich mit einem fremden Mann allein auf der Welt, und statt guter Eltern hatte ich nur diesen einen, den Fremden. Zuerst ging's noch, da machten wir die eilige, abenteuerliche Reise, immer im Verborgenen bis tief ins Italienische hinein, wo er sich endlich sicher fühlte. Und zuerst hatte er mich auf seine Art auch noch gern gemocht, nur verstand ich's damals noch nicht, daß dies alles war, was er zu geben hatte, und daß dann nichts Besseres mehr kam, nur noch Schlimmeres.«

Sie stand plötzlich auf, streckte den Arm nach der Lampe aus und drehte den Docht zurück. Einen Augenblick schwelte er noch, dann verlosch das Licht mit einem leichten Seufzer. Erst war's in der Kajüte ganz dunkel, dann konnten wir die grauen Umrisse der Bullaugen erkennen, aber nicht mehr. In der plötzlichen Stille hörte ich das träge Hafenwasser gegen die Schiffswandung schlabbern, dann ächzten die Taue, die um die Poller des Bollwerks gezogen waren.

»Vielleicht sollte ich dir das alles nicht erzählen, Lutz?« sagte dann Catriona aus dem Dunkel. »Du bist noch so jung. Aber ich habe noch nie mit einem Menschen darüber reden können, ich muß es einmal sagen. Wird es dir sehr schwer, zuzuhören, Lutz?«

»Ach, Catriona, erzähle du nur, ich höre schon zu. Es ist mir, als sei das alles schon sehr lange her und ginge dich gar nichts mehr an.«

»Ja«, sagte sie, »du hast recht, Lutz, es ist sehr weit weg, aber es geht mich schon noch etwas an. Das ist wie die Erinnerung an eine schwere Krankheit, die Schmerzen fühlt man nicht mehr, und das Fieber ist vorbei, und doch ist man ein anderes dadurch geworden. Was für ein schreckliches Leben haben wir da geführt, immer an kleinen, abgelegenen Orten. Denn allmählich kam ich dahinter, daß er große Angst hatte, einen von meinen oder seinen Leuten zu treffen. Ich immer allein, mit niemandem konnte ich ein Wort reden als mit ihm, denn ich verstand kein Italienisch. Dann ging's mir allmählich auf, daß er gar nicht die Absicht hatte, mich zu heiraten, und er hatte mir's doch hundertmal geschworen! Nun begann der Kampf zwischen uns, von meiner Seite mit Trotzen und Tränen und von seiner Seite aalglatt, immer mit Lächeln und immer mit falschen Worten. Und setzte ich ihm gar zu sehr zu, so verschwand er einfach, ließ mich sitzen in solch einem kärglichen, verlassenen Albergo in den Bergen und war fort, drei, vier Tage. Da saß ich dann, und so weit kannte ich ihn jetzt auch schon, daß ich darum zitterte, er könne nie zurückkommen. Was hätte ich wohl anfangen sollen, ohne einen Pfennig Geld, mit meinen paar Kleidern und meinem bißchen Komtessenschmuck?

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»