Die Ahnungslosen

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Zwiebelschneiden

»Jens!«

Jolanda starrt mich völlig entgeistert an, und ich bin auch erschrocken über das, was ich gerade zu Lara gesagt habe. Aber das kann ich natürlich nicht zugeben. Also fahre ich Jolanda auch noch an. Manchmal gibt es einfach kein Zurück mehr, da will man die Wörter, die einem hochkommen, eigentlich schlucken – und was tut man, man schreit sie noch umso lauter heraus.

»Kleine Verräterin«, fahre ich sie an, dass sie heulend in ihr Zimmer abrauscht. Und jetzt stehe ich da, allein im leeren Flur und bin wie eingefroren von dem Schreck über mich selbst, und die eigene Stimme pocht mir wie ein Echo, das nicht leiser werden will, in den Ohren.

»Komm!«

Endlich ein Wort in meinem Kopf, das nicht von mir ist. Ich schaue mich um, wem das Komm gehört, und da steht die neue Putzfrau von Papa und Lara in der Küchentür.

»Was ist?«, frage ich und kann nicht verhindern, dass meine Stimme noch einmal aufflackert. Wie wenn der Wind in eine Flamme fährt. Obwohl sie mich gehört haben muss, sagt sie nichts, sondern schlurft zurück in die Küche in ihrem Kleid, das wie ein Vorhang aussieht, also nichts, was man von morgens bis abends an sich herunterhängen haben will.

Mir einfach keine Antwort geben, geht eigentlich gar nicht, denke ich, und folge ihr nur deshalb, weil ich ihr das auch sagen will, doch da dreht sie sich um, und ich schwöre, dieser Blick von ihr, so etwas habe ich noch nicht erlebt. Wie ein Alien im Kino, der einen einfriert mit seinem Starren. Als hätten ihre Augen Finger, die mich festhalten.

»Du bist traurig«, sagt sie und schaut dabei direkt in meinen Kopf. So fühlt es sich zumindest an, und ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen.

»Hilf mir, die Zwiebeln zu schneiden«, sagt sie, und für gewöhnlich setze ich keinen Fuß in die Küche, außer um etwas zu essen, aber die Zwiebeln sind einfach die einzige Ausrede, falls ich hier wirklich gleich losheule.

Sie hat schon alles vorbereitet. Zwei Schneidbretter liegen auf dem Tisch mit zwei Messern und dahinter das Netz mit den Zwiebeln. Nur um etwas zu sagen, will ich sie fragen, was wir eigentlich kochen, bekomme aber kein Wort heraus. Die Kehle ist zu, ich greife schnell nach dem Messer und schneide einfach mitten hinein in die erstbeste Zwiebel. Als ich das Brennen in den Augen spüre, ist das wie die Erlösung, und es bricht aus mir heraus. Wasserfälle aus Rotz und Tränen, und diese Martha, die mir mit einem riesengroßen Taschentuch ins Gesicht fährt. Mich schnäuzen wie ein Kleinkind, geht eigentlich gar nicht, aber das fühlt sich so gut an, dass ich es einfach geschehen lasse. Ich bin verschwunden hinter dem Riesenfetzen und will, so lange es geht, unsichtbar bleiben. Als sie das Taschentuch wieder wegnimmt, sehe ich, die heult genauso wie ich – und da heult es sich dann noch leichter. Das ist wie mit dem Lachen. Wenn sie in den Fernsehserien das Gelächter des Publikums einblenden, lacht man mit, egal ob man die Szene gerade komisch findet oder nicht. Wir nehmen die Messer in die Hand, und ohne dass einer von uns auch nur ein Wort sagt, heulen wir den ganzen Zwiebelberg weg.

»Deine Schwester könnte uns auch helfen«, sagt Martha und holt einen Sack Kartoffeln aus dem Küchenkasten. Ich lege das Messer hin und gehe zu Jolandas Zimmer. Leise drücke ich die Klinke herunter. Jolanda sitzt auf ihrem Bett. Sie hat rote Augen, heult aber nicht mehr, sondern starrt aus dem Fenster. Das soll also die Welt sein, sagt ihr Blick, und auch wenn ich nicht allein Schuld habe an ihrem Unglück, gehoben habe ich ihre Stimmung sicher nicht.

»Sorry«, sage ich und wundere mich, wie leicht mir das fällt. Noch vor einer Stunde hätte ich mir lieber die Zunge abgebissen als mich bei meiner kleinen Schwester zu entschuldigen. Sie ist genauso überrascht und schaut mich an wie einen Fremden. Ich lächle als Zeichen, dass ich es ernst meine, und da springt sie mir in die Arme, so plötzlich und mit so einem Schwung, dass ich nach hinten kippe, und dann kugeln wir über den Boden und halten uns einfach nur, und als wir uns so drehen und festhalten dabei, ist es auf einmal, als würde die Welt endlich auch wieder beginnen, sich zu drehen und die ganze Kacke der letzten Zeit, ganz langsam zwar, aber doch, hinter dem Horizont verschwinden. Wir schauen uns an, und ich merke an ihren Augen, dass es ihr genauso geht wie mir. Dann stehen wir auf, und ich ziehe sie hinter mir her zu Martha in die Küche.

Die Kartoffeln liegen da, zusammen mit zwei Schälern. Ich will mich gerade mit Jolanda ans Werk machen, da deutet Martha zum anderen Ende des Tisches, wo mein Handy liegt. Ich gehe hinüber und schaue auf das Display und keine Ahnung, warum sich Martha auch mit Handys auskennt, auf jeden Fall hat sie Laras Nummer eingegeben, und darunter blinkt der Cursor und wartet ungeduldig auf mein SMS.

Was schreibt man einer Frau, die man gerade »Schlampe« genannt hat? Warum gibt es auch diese verdammten kurzen Schimpfwörter, die einem so leicht über die Lippen gehen? »Prostituierte« heißt genau das Gleiche, das hätte ich aber nie zu ihr gesagt.

Eigentlich weiß ich gar nichts über Lara. Wenn Papa anfangen will, über sie zu erzählen, rausche ich sofort ab. Was will man auch wissen über eine, die unsere Familie zerstört hat?

»Schlampe« ging trotzdem nicht. Schon allein, weil das aus Papa einen … lassen wir das. Liebe Lara! Ist nicht sehr kreativ, aber ein Anfang. Sie hat auch gar keinen schlechten Musikgeschmack. Besser als Papa jedenfalls. Als sie uns heute abgeholt haben, waren sich die beiden nicht einig, welchen Sender sie hören wollen. Wie gewöhnlich liefen Papas zum Abwinken langweilige Songwriter, aber Lara hat einfach weitergedrückt, bis wir bei einer wirklich coolen Hip-Hop-Nummer gelandet sind. Und dann hat sie mitgeshaked vorne am Beifahrersitz, aber nicht so peinlich wie Erwachsene, die auf jugendlich machen wollen, sondern echt locker. Trotzdem habe ich zu Papa gehalten und mich vorgebeugt und zurückgedrückt zu den vollbärtigen Schnarchnasen mit ihren Westerngitarren.

Scheiße, was soll ich schreiben! Sorry ist zu wenig, von Sorry geht Schlampe nicht weg. Das ist, wie wenn man versucht, mit einem Radiergummi Kugelschreibertinte wegzubekommen. Die bleibt. Da reißt eher die Seite ein. Ich war vorher einfach nicht bei mir. Vielleicht schreib ich das einfach so. Liebe Lara! Ich war vorher nicht ganz bei mir. Hört sich scheiße an! Den Daumen auf die Löschtaste. Friss, Cursor, friss! Martha schaut nicht her. Die tuschelt mit Jolanda. Die beiden wüssten jetzt, was schreiben. Scheiße, wenn das ein Krach mit einem meiner Freunde wäre, würde ich einfach ein paar Emojis runterdrücken. Da gibt es so einen Heuler, dem die Tränen waagrecht aus den Augen schießen. Der bringt’s. Da ist alles drin, tut mir leid genauso wie war nur ein Scherz, damit das Ganze nicht so verjammert klingt. Verdammt, ohne diese blöden Emojis bin ich völlig aufgeschmissen. Sind doch praktisch. Einfach die richtige Fresse anklicken, und schon spart man sich eine Menge Herumgesülze. Ein Emoji sagt mehr als tausend Worte. Dafür gibt es sie ja.

Ich schaue zu Martha, die gerade einen Riesenblock Fleisch bearbeitet. Sie schneidet und schneidet und plötzlich zwinkert sie mir komplizenhaft zu, so als wäre der Fleischblock mein Problem und sie dabei, mein Problem kleinzukriegen. Auf einmal ist alles ganz einfach, mit jedem Stück, das Martha absäbelt, tippe ich ein Wort und als der Fleischblock weg ist, drücke ich auf Senden.

Dann brät sie die Zwiebeln an. Das riecht vielleicht gut. Lara hat das SMS vor zehn Minuten bekommen und noch nicht geantwortet. Scheiße, die ist noch immer sauer. Schlampe war einfach too much. Ist zwar ein kurzes Wort, hat aber eine Haltbarkeit wie eine verfickte Konservendose.

»Hi!«

Plötzlich steht Lara in der Tür. Weil die Zwiebeln so laut im Topf zischen, habe ich sie gar nicht gehört. Lara hat auch geheult, ich sehe es an ihren Augen. Ärger entdecke ich aber keinen, allerdings auch kein Ich-hab-dir-verziehen-und-alles-ist-gut-Lächeln wie in den Kinderserien kurz vor dem Abspann. Lara deutet stumm mit dem Kopf Richtung Wohnzimmer, und ich folge ihr. Sie setzt sich auf die Couch, und ich setze mich neben sie, aber mit Sicherheitsabstand. Eine Berührung wäre mir aber zu viel, nur nicht jetzt auf Mutter spielen. Sie scheint das zu kapieren und versucht gar nicht, zu mir herüberzugreifen. »Als du mir heute im Auto den Hip-Hop abgedreht hast und auf die sterbenslangweiligen Gitarrenfuzzis zurückgegangen bist«, sagt Lara, »da sind wir doch kurz bei dem Oldie-Sender hängen geblieben, wo sie diese furchtbare Kitsch-Nummer gespielt haben. Things can only get better. Ein Scheiß-Song, und ich kenne zum Glück nicht einmal die Band, aber als Motto für uns beide ist der Titel vielleicht gar nicht so schlecht.«

Papa kann es nicht glauben, als er nach Hause kommt und uns zusammen in der Küche findet. Nicht nur, dass ich mich freiwillig mit Lara im selben Raum aufhalte, wir reden auch normal miteinander. Papa steht mit offenem Mund in der Tür, und man spürt richtig, wie gut ihm das tut, uns so zu sehen. Lara wird Papa auch nichts von der Schlampe erzählen. Das hat sie mir versprochen, noch bevor ich sie darum bitten konnte.

Beim Essen sitzen wir zum ersten Mal alle beisammen. Papa und Lara haben auch darauf bestanden, dass Martha dableibt. Sie strahlen sie an, als wäre sie eine Heilige. Ist sie ja auch. Obwohl … Heilige …, ich weiß nicht, dafür ist sie mir fast zu unheimlich. Eher so etwas wie eine gute Hexe. Martha hat früher bei Flo gearbeitet, Papas bestem Freund, da muss aber vor kurzem etwas gewesen sein, anscheinend kommen sie gerade darauf zu sprechen.

 

»Wie ist das mit dem Schiff passiert, Martha?«, fragt Lara.

»Was?« Martha schaut, als hätte sie keinen Dunst, worum es geht.

»Das Schiff«, sagt Lara, »das Ihnen auf den Boden gefallen ist.«

»Mir ist kein Schiff runtergefallen«, sagt Martha.

»Warum haben Flo und Dio Ihnen dann gekündigt?«, fragt Papa.

Und da erzählt Martha, dass Dio gesagt hätte, es wäre wegen der Schwarzanstellung und dass sie Angst hätten deswegen und jetzt offiziell eine Reinigungsfirma engagieren würden. Für mich klingt das nicht weiter seltsam, aber Papa und Lara sehen sich an, als würden sie die Welt nicht verstehen.

Gastauftritt im Bademantel

Als sie lange nach Mitternacht auf dem kleinen Balkon ihrer Wohnung saß und in den Hinterhof mit ihrem rostigen Fahrrad hinuntersah, dachte Zora Gast, wie seltsam, dass sie in den letzten zwei Wochen auch nichts anderes getan hatte als die Jahre davor und doch alles anders geworden war. Ein großes Theater wollte sie engagieren, nicht nur für ein Stück, sondern als fixes Ensemblemitglied, eine Agentur wollte sie unter Vertrag nehmen, und vor zwanzig Minuten war sie von einer Lesung heimgekommen, die ihr mehr eingebracht hatte als früher ein ganzer Monat Kellertheaterspielen.

Fred tauchte mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern hinter ihr auf. Er schenkte ein und sie stießen an.

»Auf Zora Gast«, sagte er und nahm einen langen Schluck, und sie sah ihm zu, wie er da war und doch wieder nicht.

»Du warst gut heute Abend, Zora Gast, wirklich gut«, sagte Fred. Obwohl sie ihn schon oft gebeten hatte, sie nicht dauernd bei ihrem vollen Namen zu nennen, hörte er nicht auf damit. »Sei doch stolz auf deinen Namen«, hatte er einmal gesagt und sie danach lange und mit geschlossenen Augen geküsst, und während dieses Kusses war Zora eifersüchtig geworden, ohne sagen zu können warum.

Was sicher stimmte: Der Erfolg war genau zu dem Zeitpunkt gekommen, als sie Fred kennengelernt und er mit diesem seltsamen Namensspiel begonnen hatte.

Zoras Lesung war die Mitternachtsüberraschung auf einer privaten Geburtstagsfeier gewesen. Der alleinige Erbe einer großen Bierbrauerei, Ernst Münch, hatte mit Begeisterung eine Aufführung von Der Tag beginnt um Mitternacht gesehen und seine Frau hatte daraufhin ohne sein Wissen Zora für den Abend gebucht. Die Feier hatte in Münchs Penthouse stattgefunden, einer Dachgeschosswohnung mitten im Zentrum, mit Panoramascheiben auf die mächtige romanische Kuppel des benachbarten Doms.

»Du hast dir nach deinem Auftritt die Nase am Fenster platt gedrückt«, sagte Fred.

»Ich mag alte Kirchen.«

»Schau an. Zora Gast findet über ihren Erfolg zum Glauben«, ätzte Fred, und Zora stieß ihn an, dass ihm das Glas überschwappte und er sich nach vorn beugen musste, damit seine Hosen keinen Fleck abbekamen.

»Hey«, sagte Fred, stellte das Glas ab und schüttelte den Wein von seiner Hand.

»Man spürt einfach«, redete Zora an seiner tröpfelnden Beschwerde vorbei, »dass die nicht nur für Geld geschuftet haben, sondern dass es denen um alles gegangen ist.«

»Zora Gast – Es ging ihr um alles«, deklamierte Fred Leuchtbuchstaben in den Himmel über dem Hinterhof, ein Zirkusdirektor, der seine größte Attraktion ankündigte.

»So könntest du eigentlich deine Memoiren nennen«, fügte er hinzu und hielt ihr sein Glas hin.

»Jetzt lebe ich meine Memoiren erst einmal«, sagte Zora und trank, ohne mit ihm anzustoßen.

Als Zora aufwachte, war das Bett neben ihr leer und aus der Küche roch es nach Kaffee. Sie griff zu ihrem Handy. Gleich zehn Uhr und fünf Anrufe in Abwesenheit, drei der Anrufer hatten eine Nachricht hinterlassen. Zora wählte die Nummer der Sprachbox, ließ sich zurück auf ihr Polster sinken und hörte mit Blick an die Decke die Nachrichten ab. Das Theater wollte wissen, ob sie sich schon entschieden hätte, man würde sie nämlich gern gleich in der nächsten Premiere einsetzen. Der Intendant eines kleinen Theaters, an dem sie einmal ein halbes Jahr lang für nicht einmal einen Hungerlohn gespielt hatte, gratulierte ihr zu ihrem Erfolg, aber mit einer Stimme, als hätte sie den Erfolg ihm zu verdanken. »Melde dich mal, ich hätte da eine interessante Sache für dich«, sagte die Stimme mit klebriger Gönnerhaftigkeit, und Zora merkte, wie wenig sie den Mann mochte und wie froh sie war, seine Nachricht bedenkenlos löschen zu können. Der dritte Anrufer war der Mitarbeiter eines Hörbuchverlags, der wissen wollte, ob sie Zeit hätte, einen Roman einzulesen.

Zora schlüpfte in ihren Bademantel und ging in die Küche. Hier roch es außer nach frischem Kaffee auch nach Toast, und auf dem gedeckten Tisch standen ein Teller mit Käse, Weintrauben und Walnüssen und ein anderer mit Prosciutto, Salami und Oliven.

»Wow«, sagte Zora und drückte sich an Fred, der am Herd stand.

»Ein Ei?«, fragte er, und Zora nickte, den Kopf an seinem Rücken, sodass er das Nicken spüren konnte. Dann vibrierte das Smartphone in ihrer Bademanteltasche und Zora setzte sich an den Tisch, sah kurz auf das Display und drückte den Anrufer weg.

»Wenn das so weitergeht, nehme ich mir wirklich einen Agenten.«

Das Wasser begann mit diesem sich leise anschleichenden Insektensirren zu sieden. Fred nahm das Glas Orangensaft, das neben der Herdplatte stand, und drehte sich zu Zora.

»Ich könnte das übernehmen«, sagte er.

»Du?«

Zora sah ihn erstaunt an.

»Warum nicht?«

»Du bist Computerexperte«, sagte Zora.

»Ich kenne mich mit Netzwerken aus. Ich kann den Überblick bewahren. Überleg es dir«, sagte er.

»Ich weiß nicht«, sagte Zora.

Sie hatte gestern Abend länger mit der Frau gesprochen, die das Fest für Münch organisiert und auch sie engagiert hatte. Sie war ihr gleich am Telefon sympathisch gewesen. Ein Eindruck, der sich bestätigte, als sie ihr tatsächlich gegenüberstand. Kristine Matthis war eine, die wusste, was sie wollte, und gleichzeitig keine, die sich ihren Weg mit Ellbogen zu bahnen schien. Erfolg ja, aber nicht um jeden Preis. Entschlossen, aber nicht kalt. Gewitzt, aber nicht hinterhältig. So eine wie sie stellte sich Zora vor.

»Ich will eine Frau als Agentin«, sagte sie.

»Du machst einen Fehler.«

Fred hörte sich an, als würde er die Sache persönlich nehmen. Er sah Zora mit einem Blick an, der gleichzeitig Angst hatte und Angst machte.

»Lass es dir einfach noch einmal durch den Kopf gehen, Zora Gast, mehr will ich nicht, nur dass du dir die Sache gut überlegst. Ich bin das Beste für dich, weil ich an dich glaube, Zora Gast, so wie noch nie jemand an dich geglaubt hat, und weil ich weiß, wer du bist, wie es sonst keiner weiß.«

Die gelbe Gießkanne

Walt steht vor dem Geschäft seiner Schwester und tut, als sähe er sich das Schaufenster an. Tatsächlich schielt er immer wieder ins Ladeninnere und versucht, Raul zu entdecken. Was er aus Karoline über ihren Neuen herausbringen konnte, hat ihn neugierig gemacht: Gitarre, Übersee, Earl Darkgrey. Wenn nicht gut gelebt, dann zumindest gut erfunden. Jedenfalls nicht unsympathisch und vielleicht gar nicht so weit weg von seiner eigenen gloriosen Vita, denn Walt kommt als Künstler nur über die Runden, weil er an Volkshochschulen Zeichenkurse gibt. Bedenken hat Walt, weil seine Schwester bei der Auswahl ihrer Freunde nicht unbedingt das besitzt, was man ein sicheres Händchen nennt. Der vorletzte hat sie so offensichtlich ausgenutzt, dass Walt jedes Mal, wenn er sie gemeinsam gesehen hat, die Wände hinaufgegangen ist und danach den ganzen Heimweg gebraucht hat, um die Wände wieder herunterzukommen. Und was sie an dem letzten, diesem knapp am Wahnsinn vorbeischrammenden Nerd gefunden hat, ist ihm bis heute ein Rätsel. Zum Glück hat sich der rückstandlos aus dem Staub gemacht. Ist sang- und klanglos mit dem Sommer und dem Sommerfest verschwunden. Walt hat ihn beobachtet, wie er mit der anderen abgerauscht ist, und nichts gesagt. Eine tiefe innere Überzeugung hat seinem schlechten Gewissen den Mund zugehalten – und gut ist es gewesen. In Sachen Beziehung macht es durchaus Sinn, wenn Walt ein Auge auf seine Schwester hat. Besonders, weil Raul gleich bei ihr eingezogen ist. Das riecht nicht nur mit dem Wind nach Schmarotzer. Schaden tut es jedenfalls nicht, nach dem Rechten zu sehen, und deshalb steht Walt vor dem Laden seiner Schwester, lehnt am Schaufenster, die Hände links und rechts vom Gesicht, weil die Sonne herausgekommen ist und die Scheibe so spiegelt – der Spion, der seine Schwester liebte. Da taucht Raul auf, extrem plötzlich und unglaublich nah, und Walt rückt schnell weg von der Scheibe, schaut hinunter auf Schreibheft, Buntpapier und Block und spürt, wie Rauls Blick ihn an die Leine nimmt. Hebt er eben den Kopf und wundert sich gleich darauf, weil nicht nur über Rauls Gesicht vom einen Ohr zum anderen ein Grinsen zieht, sondern auch, weil Raul ihn gleich darauf hereinwinkt.

»Definitiv anders als die anderen«, denkt Walt, mehr Denken geht sich nicht aus während der fünf Schritte hinein.

»Walt«, sagt Raul, und da schwingt wenig, ja eigentlich gar keine Frage mit.

»Sehe ich meiner Schwester so ähnlich?«, fragt Walt und hält Rauls Hand, statt sie zu schütteln. Wie der Punkt unter seinem Fragezeichen stehen die Hände in der Luft.

»Karolines Kühlschrank.«

Walts Augen sagen mit Großbuchstaben: »JA, KLAR!«, denn Karoline hat ihre Kühlschranktür mit Fotos zugepflastert. Kindheit, Eltern, Reisen, und eben auch Walt. Das Mosaik ihres Lebens.

»Mitgekocht wird immer auch ein Happen Früher«, sagt Karoline zu jedem, der sie auf ihre Kühlschranktür anspricht, zurechtgelegt die Worte, fraglos, aber immer hingeschmunzelt, sodass das Zurechtgelegte nicht weiter stört.

»Sich beim Essen ein wenig über den Tellerrand hinaus erinnern«, hat sie auch einmal zu Raul gesagt, und sein Blick ist gewandert und hat die schon lange verstorbene Mutter kennengelernt, hat von Karolines erstem Rausch auf ihrer Maturareise erfahren oder von ihrer Reise an den Polarkreis.

»Das Foto von euch beiden im Schnee«, sagt Raul, »auf dem ihr die bunten Strickhauben tragt, die Nasen rot von der Kälte, und Wange an Wange wie aneinander festgefroren in die Kamera lacht.«

»Norwegen vor drei Jahren«, sagt Walt, und Raul nickt, als wäre er dabei gewesen.

»Eigentlich sind wir damals aus Verzweiflung losgefahren, andere flüchten in den Süden, wir in den hohen Norden. Karolines Geschäft ist überhaupt nicht gegangen und ich bin nicht zum ersten Mal von einer Galerie abgelehnt worden. Wir hocken also zusammen bei mir im Atelier, schon lange nicht mehr nüchtern, und da sagt sie auf einmal, ›jetzt heißt es kühlen Kopf bewahren‹, und am nächsten Tag steht sie mit zwei Flugtickets nach Oslo da.«

»Und von dort seid ihr wirklich per Anhalter weitergefahren?«

»War natürlich eine völlig durchgeknallte Idee, sich bei der Kälte am Straßenrand die Beine in den Bauch zu stehen. Aber unser Geld hat nicht gereicht, und Karoline hat keine Ruhe gegeben, bevor wir nicht wirklich am Polarkreis waren. Auf dem Foto stehen wir genau drauf. Beide mit beiden Beinen.«

»Karoline schwärmt von der Reise.«

»Kein Wunder«, sagt Walt, »danach lief bei ihr alles wie geschmiert. Plötzlich kamen die Kunden, und sie konnte gut leben von ihrem Laden. Bei mir hat der Polarkreis dagegen nicht gewirkt, ich hätte wahrscheinlich zum Wendekreis fahren müssen.«

»In zwanzig Minuten ist es sechs. Dann schließe ich den Laden«, sagt Raul. »Wir könnten uns in den Hof setzen.«

Walt geht zu Getränke Hoffmann, während Raul die Tagesabrechnung macht. Und um sechs Uhr eins sitzen sie mit dem Wein aus dem Wochenangebot unter der alten Kastanie, zwischen ihnen ein leerer Papierkarton, den Raul hochkant als Tisch aufgestellt hat.

»Du bist wirklich wegen Joni Mitchell nach Amerika gegangen?«

»Ich war Anfang zwanzig, wollte Songs schreiben wie sie und bildete mir ein, das ginge nur dort, wo sie ihre Songs schrieb. Dass ihre besten Sachen ausgerechnet während ihrer Zeit in Europa entstanden sind, wusste ich damals noch nicht.«

»Aber getroffen hast du sie auch einmal, hat Karoline erzählt.«

»Ich bin einmal neben ihr im Supermarkt gestanden«, sagt Raul und streckt den Arm aus, um anzuzeigen, wie nah er Joni Mitchell damals gekommen ist.

»Wie das?«, fragt Walt, und Raul erzählt, wie er durch einen befreundeten Musiker Mitchells Adresse herausgefunden hat.

 

»Ich war natürlich viel zu feig, um anzuläuten und habe einfach vor ihrem Haus gewartet. Irgendwann am späten Nachmittag ist sie tatsächlich herausgekommen, in ihren Wagen gestiegen und weggefahren. Ich bin ihr hinterher, eben bis zu diesem Supermarkt. Sie hat Bananen gekauft und Sojamilch, und eine Dose Ananas hat sie aus dem Regal genommen, in der Hand gedreht und dann zurückgestellt, und die Dose habe ich bis heute.«

»Ich habe eine ausgedämpfte Zigarette von David Hockney. Von einer Vernissage in London«, sagt Walt und schenkt ihnen nach.

»Wir haben neues Papier«, sagt Raul. »Karoline meint, die Oberfläche sei ziemlich besonders. Vielleicht ist das was für dich.«

»Erzähl mir lieber noch was von Kalifornien«, sagt Walt.

»Wie du willst: Also Folge zwei in der Serie Raul meets the Proms«, sagt Raul und erzählt, wie er wochenlang durch die Gegend gefahren ist, auf der Suche nach der Hühnerfarm von Tom Waits.

»Jedem Hinweis bin ich gefolgt. Hundert Meilen in jede Himmelsrichtung.«

»Und?«

»Ich habe einen Song geschrieben über Tom Waits und seine Hühner und wie er sie füttert im Abendrot: Die hagere Silhouette mit dem kleinen Hut, das heisere Gegacker und seine noch heiseren Lockrufe und die fliegenden Körner im Gegenlicht.«

Walt schaut schräg nach oben, dorthin, wo er in seinem Kopf das weiße Blatt liegen hat, und malt es mit schnellen Strichen voll.

»Aber getroffen hast du ihn nie?«, fragt er dann.

»Nicht auf seiner Hühnerfarm. Ich war auf einem Konzert von ihm in einer kleinen Bar in San Francisco. Danach ist er mit einem anderen an einem Tisch gesessen, sein Manager, der Barbesitzer oder ein Journalist, jedenfalls hat er so unnahbar ausgesehen, kein Gedanke, zu ihm hinzugehen. Ich habe aber aus der Ferne beobachtet, wie er neben dem Reden auf einer Serviette herumgekritzelt hat. Und als er aufgestanden ist, hat er sie zerknüllt und in den Aschenbecher geworfen.«

»Die hast du?«

Rauls Haut prickelt, weil der kindliche Stolz sich ins Erwachsenengesicht drängt.

»Zuerst war ich enttäuscht, weil Waits alles überkritzelt hat. Dann habe ich die Serviette aber draußen vor der Bar gegen das Licht der Straßenlaterne gehalten.«

Raul hält sein Glas in den Himmel wie damals die Serviette von Tom Waits und kippt seinen Kopf nach links und rechts und wieder links, als versuche er etwas zu erkennen.

»Eine Eistüte«, sagt er schließlich und nimmt einen langen Schluck, »Tom Waits hat eine Eistüte und darunter mit verschnörkelten Buchstaben, so wie ein verliebter Teenager den Namen seiner ersten Freundin schreiben würde, Vanilla hingegriffelt.«

Walt lacht. Zuerst über Waits und Speiseeis, das Lachen trägt aber weiter, lacht über Gott und die Welt und dann, schon merklich leiser, über sich selbst.

»Was wollen wir eigentlich?«, fragt Walt mit zurückgelegtem Kopf in die Äste der Kastanie und die einfallende Dämmerung hinein, und Raul nickt, statt zu wissen. In diesem Moment kommt der alte Mann in den Hof, der Alte, der Raul schon mehrmals aufgefallen ist, der mit der gelben Gießkanne, derjenige, der jeden Morgen und Abend den Kastanienbaum gießt. Er tut, als wären Raul und Walt gar nicht da, und die beiden rücken zur Seite, damit sie dem Alten, unsichtbar wie sie sind, nicht im Weg sitzen. Der geht gezählte sieben Mal um die alte Kastanie und gießt den Stamm so hoch hinauf, wie er mit seinen schwachen Armen und der schweren Gießkanne kommt. Mit beiden Händen und ganzer Kraft stemmt er die Gießkanne in die Höhe, dass Raul und Walt die Luft anhalten.

Als Walt heimwankt, fühlt er sich leichter. Leichter um eine halbe Flasche schweren Weins und leichter um die Stunden, die er mit Raul unter der Kastanie gesessen hat. Leichter um das, was sie einander erzählt haben, und leichter um die Pausen zwischen ihren Sätzen. Leichter um den alten Mann und seine gelbe Gießkanne und leichter auch um die zehn Bögen Papier, die er dann doch noch mitgenommen hat. Das neue Papier, das sich wirklich besonders anfühlt zwischen Daumen und Zeigefinger.

Am nächsten Morgen liegt es auf seinem Zeichentisch. So leicht wie eine neue Idee und so schwer, weil er diese neue Idee nicht hat.

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