Die Ahnungslosen

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Und das machen wir von da an ziemlich regelmäßig.

Wir sind beide eher spröde, haben aber eindeutig den gleichen Humor. Wenn wir lachen, dann zur gleichen Zeit und über die selben Dinge. Und dabei klingen wir auch so ähnlich, dass unser Lachen verschmilzt. Ich weiß nicht, ob irgendetwas mehr verbindet als so ein Moment, in dem man die eigene Stimme nicht mehr von der des anderen unterscheiden kann.

»Lachgemeinschaften?«, fragt Karoline.

»Ja«, sage ich, »kein Scherz. Hat es gegeben.«

Die Geschichte habe ich einmal gelesen und, weil sie so unglaublich war, auch behalten.

»Das waren Geheimgesellschaften«, sage ich, »mitten im Barock, die verbotene Texte gelesen und gemeinsam über sie gelacht haben. In den Texten wurden auf Teufel komm raus Gott und die Heiligen verspottet, und wenn man die Mitglieder bei diesem blasphemischen Treiben entdeckt hätte, wären sie allesamt auf dem Scheiterhaufen gelandet.«

Eine Woche später sind wir wieder gemeinsam aus. Wir trinken schneller als die Male zuvor und auch mehr und lachen auch lauter. Und da sagt Karoline plötzlich wie aus dem Nichts, das Lachen sogar noch in der Stimme: »Und vor drei Wochen hat mich mein Freund verlassen.«

»Das ist noch nicht lange her«, sage ich, mit vom Lachen noch feuchten Augen, meine Stimme aber ernst, von ihren Worten gegen die Wand gefahren.

»Lange genug«, sagt sie, schiebt einen Geldschein unter ihr noch nicht ganz leeres Glas, nimmt meine Hand und zieht mich hoch von meinem Stuhl, zieht mich quer durchs ganze Lokal und die Straße hinunter und sieht mich nicht mehr an und lässt mich nicht mehr los, bis ich bei ihr im Vorzimmer stehe und sie die Wohnungstür mit dem Fuß hinter uns zudrückt.

Der Chef von den Drei Giraffen hat mir damals nicht verraten, was es mit dem Namen seines Lokals auf sich hat. »Der Name hat dich neugierig gemacht, er ist bei dir hängengeblieben und du bist wiedergekommen. Also ist es ein guter Name«, hat er gesagt.

Ich stehe in Karolines Wohnzimmer, in den eigenen Boxershorts und einem Hemd von ihr, und dem Gefühl, wie das Fremde vertraut wird auf der Haut.

»Bedien dich«, hat sie gesagt, mich vor einen Servierwagen mit Hochprozentigem und ihr Bücherregal gestellt und ist im Bad verschwunden. Die Flasche gluckst beim Einschenken wie ein Täubchen, und ich sehe mir die Rücken an Rücken stehenden Bücher durch einen Fingerbreit Cognac an. Kenne ich – mag ich – interessiert mich – noch nie gehört – und ein Lexikon der Tiere: Giraffen sind die Säugetiere, die mit dem wenigsten Schlaf auskommen. Zwei Stunden täglich sind ausreichend, und die absolvieren sie im Stehen.

Barfliegen, wie sie im Buche stehen.

Gestern habe ich Karoline gefragt, warum sie mich angestellt hat. Eigentlich wollte ich ein Kompliment von ihr hören. Dass sie mich interessant gefunden hat, sympathisch oder zumindest ganz nett. Und was sagt sie? »Du hast den Job bekommen, weil du mich nicht nach deinem Gehalt gefragt hast.« Habe ich übrigens bis heute nicht. Aber morgen weiß ich es. Da ist der Monatsletzte.

23 Uhr 57

Lara

Fahr nicht so schnell.

Christian

Ist doch nichts mehr los um die Zeit.

Lara

Du hast ganz schön was intus. Wenn irgendwo die Polizei steht,

bist du dran.

Christian (wird langsamer)

Zufrieden?

Lara (legt ihm die Hand auf den Oberschenkel)

Sehr.

Lara

Flo war ganz schön fertig heute.

Christian

Wobei ich mir gar nicht sicher bin, was ihn mehr fertiggemacht

hat. Das kaputte Boot oder dass Dio Martha gefeuert hat.

Lara (holt etwas aus ihrer Hosentasche)

Schau, was ich hier habe.

Christian

Warte! Vorne an der roten Ampel.

Lara (hält ihm einen zerknitterten Zettel hin)

Christian

Was ist das?

Lara

Der ist zusammengeknüllt am Klo gelegen. Flo oder Dio wollten

ihn wahrscheinlich in die Muschel werfen und haben nicht gemerkt,

dass er daneben gelandet ist.

Christian

Ich kann’s ohne Brille nicht lesen. Was steht drauf?

Lara

Marthas Telefonnummer.

Christian

Und was willst du damit?

Lara

Na, Martha anrufen und fragen, ob sie bei uns anfangen will.

Christian

Hast du keine Angst, dass sie uns auch die Wohnung zerlegt?

Lara

Wir sind versichert und so heilige Gegenstände wie Flos Schiff

besitzen wir beide nicht.

Christian

Bist du dir sicher?

Lara

Du hast immer gesagt, eine gute Seele wie Martha wäre ein Traum.

Christian

Wie hast du den Abend sonst gefunden?

Lara

War nett wie immer. Aber jetzt auch nicht besonders. Du weißt ja, dass Dio nicht ganz so mein Fall ist. Ich rechne es ihr und Flo aber hoch an, dass sie mich von Anfang an akzeptiert haben. Sie hätten sich ja auch auf die Seite von Kri schlagen und mich als böse Ehebrecherin ablehnen können.

Christian

Flo ist mein ältester Freund. Das hätte er nicht getan. Übrigens scheinen er und Dio gerade ihren zweiten Frühling zu erleben. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich die beiden zuletzt so verliebt gesehen habe. Flo hat den halben Abend Dios Hand gehalten.

Lara

Christian

Warum sagst du nichts?

Lara

Ach, ich weiß nicht. Ich gebe dir recht, dass Flo verliebt gewirkt

hat, aber Dio ist mir seltsam vorgekommen. Irgendwie nervös.

Christian

Was dir immer auffällt.

Lara

Sie hat es gut überspielt.

Christian

Und was meinst du, ist los?

Lara

Weiß ich doch nicht.

Christian

Glaubst du, sie hat was laufen?

Lara (sieht zum Fenster hinaus)

Christian

Sag schon!

Lara

Was weiß ich, sie ist mir einfach komisch vorgekommen.

Christian

Mist, 23:57. Ich wollte um Mitternacht im Bett liegen.

Lara

Wir sind doch gleich da, liegst du eben um halb eins im Bett.

Christian

Ich möchte nur ausgeschlafen sein. Morgen habe ich das Treffen mit den neuen Getränkelieferanten, da muss ich einen guten Deal aushandeln, und anschließend kommen die Kinder zu uns.

Lara

Wie lange bleiben sie?

Christian

Wenn Jens nicht wieder die Krise bekommt, bis Sonntagabend.

Lara

Weißt du was? Ich frage Hexe Martha, ob sie nicht gleich morgen Zeit hat. So wie Flo und Dio sie immer beschrieben haben, scheint sie eine beruhigende Wirkung auf ihre Umgebung zu haben. Vielleicht kocht sie für uns, weil Jens ja nichts von mir isst.

Christian

Ha, ein Parkplatz direkt vor dem Haus.

Lara

Die Lücke ist zu klein.

Christian

Wart’s ab.

Lara

Saubere Leistung.

Christian

Dankeschön!

….

Okay, machen wir’s!

Lara

Was?

Christian

Martha fragen, ob sie morgen Zeit hat.

Zwischenluft und Zaubersprüche

Das Theater hatte sich über das feuerpolizeiliche Verbot hinweggesetzt und die Leuchtanzeigen über den Ausgängen abgeklebt. Die Dunkelheit war dadurch so vollkommen, dass sich kein noch so schwacher Schemen aus dem Schwarz löste. Und das wirkte. Die Zuschauer unterdrückten jedes Geräusch, niemand hüstelte, kramte in seiner Tasche oder griff nach seinem Handy. Es war, als würden alle gemeinsam die Luft anhalten – und mit der Luft auch die Zeit.

»Bis neunundneunzig«, hatte der Regisseur gesagt, und Zora zählte stumm ins Schwarz, ließ sich nicht hetzen von der Stille, türmte die Ziffern langsam auf, freute sich, wie der Turm aus Zeit vor ihr wuchs … siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig. Mit einem Knall, den nur sie hörte, stürzte der Zahlenturm in sich zusammen, und Zora begann:

Lötsch gibt an, beim Aufwachen das Gefühl zu haben, vom Tag hämisch angegrinst zu werden. So als würde der Tag ihm nicht das Geringste zutrauen.

Beim Wort angegrinst ging der Spot auf Zora an. Sie trug einen weißen Arztkittel und sprach in ein Diktaphon:

Das sei auch der Grund, so Lötsch weiter, warum er oft den ganzen Tag sein Bett nicht verlasse.

Zora zündete sich eine Zigarette an. Als sie den Rauch langsam Richtung Decke blies, die Kringel tanzten um ihre Gedanken im Licht des Spots, kam aus dem Dunkel plötzlich die Stimme eines Mannes:

Wenn der Tag mich nicht will, ich kann warten.

Nikolaus Kramer war eigentlich Filmregisseur, von der Kritik geschätzt, an den Kinokassen aber nur mäßig erfolgreich. Jetzt inszenierte er erstmals am Theater. Für sein Stück Der Tag beginnt um Mitternacht hatte er monatelang in Psychiatrien recherchiert: Vierundzwanzig Stunden im Leben eines Borderliners.

Lötsch gibt an, schon seit Jahren nur noch in seinem Fauteuil und bei laufendem Fernseher zu schlafen.

Zora hatte sich an ihren Schreibtisch gesetzt, in der Hand hielt sie noch immer das Diktaphon. Dann versank sie plötzlich im Schwarz, ein anderer Spot biss sich in die Dunkelheit, ein Mann saß auf dem Sessel vor Zoras Schreibtisch:

Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal in meinem Bett geschlafen habe. Es ist mir fremd, so unbenutzt, wie es dasteht. Wie in den Musterschlafzimmern eines Möbelhauses. Wo die Betten und die Nachtkästchen und sogar die Bettwäsche und Polster Namen haben, als würden sie leben.

Dieses Mal bleibt der Spot auf dem Darsteller des Lötsch, und Zoras Stimme kommt aus dem Dunkel:

 

Lötsch gibt an, seinem Bett den Namen René und seinem Nachtkästchen den Namen Kevin gegeben zu haben.

Der Mann sitzt da und sieht mit unbewegter Miene seiner Stimme hinterher, wie einem Kind, das zum ersten Mal alleine über die Straße geht. Erst wenn es ein Satz sicher auf die andere Seite schafft, kommt der nächste:

Alles unbrauchbare Namen für die nicht mehr gebrauchten Dinge.

Als Zora gehört hatte, dass Nikolaus Kramer am Theater inszenieren würde, bewarb sie sich sofort und ohne noch zu wissen, worum es in dem Stück ging. Sie hatte jeden seiner Filme zumindest zweimal gesehen und hätte noch die kleinste Nebenrolle angenommen, um mit ihm zusammenarbeiten zu können. Nur gab es in dem Stück keine Nebenrollen, sondern nur Psychiaterin oder Zuschauerraum. Zora ging zum Vorsprechen, im Rücken ein Jahr, in dem nichts funktioniert hatte, und dann ließ Kramer sie im Dunkeln stehen, und Zora, die nichts so sehr gewohnt war wie die Abwesenheit von Licht, fühlte sich auf Anhieb wohl im tiefen Schwarz, so wohl wie keine vor ihr, und nach ihr wollte Kramer gar keine andere mehr sehen.

Auf der Bühne taucht eine schwarze Katze auf und streift Lötsch um die Beine.

Lötsch erzählt häufig vom Kater seiner alten Nachbarin, der ihr immer wieder entwischt und dann durchs Stiegenhaus streift und an seiner Tür kratzt. Er gibt an, dass es ihm guttue, sich um das Tier zu kümmern. Offensichtlich hat es eine stabilisierende Wirkung auf ihn.

Der Spot wechselt auf Zora, aus der Dunkelheit heraus dringt Lötschs Stimme: Mein Glück kommt auf leisen Pfoten, hört gut und ist schwarz wie Pech.

Eine Zusammenarbeit wie die mit Nikolaus Kramer hatte Zora nicht gekannt. Andere Regisseure waren zur Premiere hin immer unsicherer und hektischer geworden, manche hatten sogar im letzten Moment ihr ganzes Konzept infrage gestellt und dann Tag und Nacht geprobt, um das Stück doch noch irgendwie auf die Bühne zu bekommen. Kramer hingegen war, je näher die Premiere rückte, immer ruhiger geworden. Und als er zufrieden war, hatte er die Proben beendet und Zora und ihrem Kollegen die fünf Tage bis zur Premiere freigegeben.

Zora war mittlerweile aufgestanden und ging hinter ihrem Schreibtisch auf und ab. Wer genau hinsah, merkte, dass sie das Diktaphon nicht mehr hielt, sondern sich festhielt an ihm:

Lötsch erzählt, dass er sich gerne an Orten mit Aussicht aufhält, weil er gerne hoch über oder weit weg von allem ist. Weil er es möge, so Lötsch weiter, wenn zwischen ihm und den Dingen Luft ist.

Und dann fiel ihr Lötsch aus dem Dunkel ins Wort:

Leider ist nicht immer Verlass auf diese Zwischenluft. Dann kommen die Dinge auf mich zu und immer näher und es gibt viel zu viel Welt auf einmal.

Lötschs Stimme machte den Raum eng, rückte näher wie die Dinge, und Zora ging dagegen an:

Die Gedanken, erklärt Lötsch, schauen nur noch kurz vorbei in seinem Kopf, bleiben aber nicht mehr.

Der Spot sprang zurück auf Lötsch, der mit unbewegter Miene dasaß. Seine zunehmend manischer werdende Stimme kam jetzt vom Band. Er nickte zu dem, was er sich sagen hörte. Langsam, als wäre er ein anderer.

Meine Gedanken laufen in alle Richtungen auseinander. Als wären sie auf der Flucht. Ich weiß aber nicht, wovor sie Angst haben. Vielleicht sind sie aber auch auf der Suche nach etwas. Aber was, aber was, aber was? Keine Ahnung. Weiß nicht. Nur weiter. Und weg.

Die Spannung zwischen dem lethargisch dasitzenden Lötsch und seiner sich überschlagenden Stimme war kaum auszuhalten. Die knisterte. Sprühte Funken. Stellte Haare auf. Und dann ging das Licht gleichzeitig mit Lötschs Anfall an, und das gesamte Publikum war offener Mund, große Augen, angehaltener Atem und Hände, die sich um Armlehnen krampften. Sekunden brauchten die Zuschauer, um zu sich zurückzufinden, dann brach der Applaus aus wie eine Explosion. Als wäre das Klatschen nicht Lob, das sein konnte, sondern Befreiung, die sein musste. Das Publikum schüttelte seine Gänsehaut ab, und Zora wusste zum ersten Mal, was Theater ist.

Treffen an der Borderline, betitelte das Tagblatt seinen Premierenbericht, den Fred am nächsten Morgen Zora entgegenhielt, als sie im Bademantel in die Küche kam. Sie versuchte, ihm die Zeitung aus der Hand zu reißen, er zog sie aber rechtzeitig zurück.

»Setz dich«, sagte er, schenkte ihr Kaffee ein und las ihr den Artikel von vorne bis hinten vor, wobei er die besten Stellen wiederholte und dabei die Silben dehnte, bis die Worte nicht mehr konnten.

Die Sache mit Fred hatte für Zora zu Beginn nichts Dauerhaftes gehabt. Sie wusste nicht einmal, warum sie bei dem Fest zu ihm hinübergegangen war. Als hätte sie das an etwas erinnert oder neugierig gemacht, der Mann, der aussah, als würde er sich hinter der alten Kastanie vor der Welt verstecken. Stehen geblieben war sie bei ihm, weil seine Überheblichkeit sie gereizt hatte, ihm Kontra zu geben. Dass sie dann mit ihm mitgegangen war, hing aber mit diesem merkwürdigen Moment zusammen, nachdem sie ihm ihren Namen gesagt hatte. Irgendetwas war da in seinem Gesicht passiert. Plötzlich sah er sie mit anderen Augen an. Mit einem Blick, der ihr Größe verlieh und gleichzeitig unheimlich war. Seine Augen hatten etwas entdeckt, von dem sie nichts wusste, und ihr war klar, dass sie diesen Mann nicht früher gehen lassen konnte, bevor sie nicht herausgefunden hatte, was das war.

Zora Gast legt ihre Psychiaterin unaufgeregt an, aber gerade dieser emotionale Minimalismus gibt der Figur eine eisige Intensität. Wirklich ungewöhnlich ist aber das breite Repertoire an fast unmerklichen Gesten und feinen stimmlichen Nuancen, auf das Gast zurückgreifen kann und das sie auch an den richtigen Stellen einzusetzen weiß. Die Entdeckung neuer Talente gehört zu den schönsten Momenten eines Theaterkritikers. Gestern Abend war so einer.

Zora fiel Fred zusammen mit der Zeitung und einem lauten Rascheln in die Arme. Sie verkroch sich in seinen Hals, und er legte die Wange auf ihre Stirn, den Mund ganz nah an ihrem Ohr und flüsterte: »Sag mir deinen Namen.« »Zora Gast«, sagte sie, genau wie sonst auch, wenn sie sich vorstellte, und Fred wiederholte ihren Namen, aber langsamer und getragener, und dann noch einmal und immer wieder, und er hörte nicht mehr auf damit, bis ihr Name sich anhörte, als würde ein mächtiger Magier einen Zauberspruch murmeln.

Unter Palmen

»Als wären sie Außerirdische.«

Sein schneeweißer Bart wucherte so dicht, dass, selbst wenn er sprach, nichts von seinem Mund zu sehen war. Alf hatte schon viel von Martin Walls gehört und gelesen – wer nicht, der sich mit Kraken beschäftigte? – und sich immer gewünscht, einen seiner legendären Vorträge zu besuchen. Walls galt als die Koryphäe, was Kraken betraf. Er war Brite, 80 Jahre alt – das hatte er zu Beginn seines Vortrags erwähnt, als er einen Witz über sein hohes Alter gemacht hatte – und trug einen Cowboyhut.

Alfs Sitznachbar stieß ihn an und fragte ihn in gebrochenem Englisch, was Walls gerade gesagt habe. »Dass das Genom der Kraken im Vergleich zu dem anderer Wirbelloser völlig durcheinander ist«, flüsterte Alf, »so, als hätte man es in einen Mixer gesteckt. Und dass es deshalb auch keine genetische Verwandtschaft mit irgendwelchen anderen Tieren gibt. Als wären Kraken Außerirdische.«

»Tenks«, sagte der Italiener.

»Non c’è di che!«, flüsterte Alf dem kleinen, schlanken Mann mit der eleganten schwarzen Brille zu. Alf und Paolo kannten sich seit dem Studium. Damals war Alf über ein Stipendium nach Neapel gekommen. Er hatte geplant, ein Semester am Ozeanischen Institut der Universitá Federico II. zu bleiben, geworden waren es schließlich zwei Jahre. Zum ersten Mal liefen sich Alf und Paolo in der Vorlesung von Rachel Caldwell über den Weg, und die war es auch, die ihr Interesse für Kraken weckte. Caldwell hatte erzählt, dass Kraken neben ihrem zentralen Gehirn noch voneinander unabhängige Untergehirne in jedem ihrer acht Fangarme besaßen.

»Wenn der Krake schwimmt, arbeiten die Arme perfekt zusammen, und wir versuchen herauszufinden, wie die Kommunikation zwischen diesen Untergehirnen abläuft«, hatte Caldwell gesagt. Dann hatte sie eine Pause gemacht, einen tiefen Atemzug lang und mit schmalen Augen Alf, Paolo und die anderen Studenten, einen nach dem anderen angesehen, als prüfe sie, ob sie ihnen vertrauen konnte.

»Was mich noch mehr interessiert«, sagte Caldwell dann, »ist aber die Frage: Gibt es Momente, in der sich die Arme übereinander wundern und der Krake sich selbst eine Überraschung ist?«

Alf und Paolo verstanden sich auf Anhieb, so wie sich Menschen mögen, die ein Interesse teilen. Und sie blieben auch, nachdem Alf Neapel wieder verlassen hatte, in engem Kontakt. Sie besuchten einander abwechselnd und reichten auch mehrmals gemeinsame Forschungsprojekte ein, die zweimal tatsächlich bewilligt wurden. Einmal verbrachten sie sechs Wochen in der indonesischen Celebessee, wo sie den Coconut Octopus beobachteten, und einmal acht Wochen im israelischen Eilat, wo sie Verhaltensexperimente mit den Männchen des Weißgefleckten Oktopus durchführten.

Nach dem Vortrag gingen Alf und Paolo zu Martin Walls und ließen sich ihre völlig zerlesenen Exemplare von Acht Arme für ein Halleluja signieren, das mittlerweile 25 Jahre alte Standardwerk über Kraken. Danach verließen sie das in die Jahre gekommene neoklassizistische Gebäude der Stazione Zoologica Anton Dohrn. Paolos Wohnung lag in Chiaia, keinen Kilometer entfernt, und sie machten sich zu Fuß auf den Heimweg. Unterwegs kehrten sie noch in einer Bar ein, tranken, an die Theke gelehnt, einen Campari Soda und kauften anschließend in einem Alimentari fürs Abendessen ein.

Paolo lebte seit seiner Studentenzeit in derselben Wohnung. Damals in einer WG, mittlerweile waren aber alle Mitbewohner ausgezogen und er hatte die drei Zimmer für sich allein. Von der alten Einrichtung hatte Paolo nur den großen Küchentisch behalten, ein altes Familienerbstück, an dem er mit Vorliebe kochte oder arbeitete. Beim Kochen mochte er es, wenn die aufgeschlagenen Bücher herumlagen, und beim Lesen, wenn es nach Knoblauch und Basilikum roch.

Als sie beim Essen saßen, leuchtete das Display von Alfs Smartphone auf. Er schmunzelte beim Lesen der eingegangenen SMS und tippte dann eine lange Antwort.

»Wem schreibst du?«

»Einer früheren Klassenkollegin«, sagte Alf. »Wir sind uns vor ein paar Tagen zufällig über den Weg gelaufen.«

Nach dem Essen räumten sie den Tisch ab und holten ihre Aufzeichnungen und Laptops. Seit gut zwei Jahren führten sie unabhängig voneinander ihre Experimente durch, verglichen regelmäßig ihre Ergebnisse und schrieben an einem wissenschaftlichen Artikel, der nur langsam länger, dafür aber immer spannender wurde. Es ging noch immer um Caldwell und ihren letzten Satz über den von sich selbst überraschten Tintenfisch. Beide hatten sie ihre Versuchstiere mit verschiedenen Reizen konfrontiert. Mit Nahrung, Bedrohung, grellen Farben oder Gegenständen, die das Interesse des Kraken wecken könnten. Mit dem gleichen Reiz hatten sie nacheinander jeden der acht Arme konfrontiert und beobachtet, ob sich das Tier unterschiedlich verhielt.

Sie saßen einander gegenüber, ihre Gesichter ins bläuliche Licht ihrer Displays getaucht, und diskutierten Ergebnisse und Formulierungen, Einschätzungen und Schlussfolgerungen. Als sie vielleicht eine Stunde später nach einem besonders langem Hin und Her einen Satz in ihre Computer getippt hatten, nickten sie einander mit einem schmalen Grinsen zu, schoben die Laptops zur Seite und liebten sich mitten auf den aufgeschlagenen Unterlagen. Viele ihrer Fachbücher konnten sie gar nicht mehr zur Hand nehmen, ohne an die eine und andere leidenschaftliche Vögelei zu denken, die Verquickung von Wissenschaft und Lust, von ihren Kraken und ihrer Leidenschaft, war so eng, dass sie sich schon lange nicht mehr das eine ohne das andere vorstellen konnten. Ihre Forschung auf andere Tierarten zu lenken, war für sie so undenkbar wie sich zu trennen.

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