Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 1 - Die Schlacht in Magnitogorsk

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Moskau 12. Juni

Artjom biss erbarmungslos auf seine struppige Zahnbürste. Er stand mit freiem Oberkörper vor jenem Bett, in dem normalerweise er schlief, falls er eine Nacht in seiner Absteige nahe der Seslavinskaya Ulitsa – fast mittig zwischen den Metrostationen Bagrationowskaya und Filjowski Park der Filjowskaya-Linie Nummer 4 – im Moskauer Stadtteil Filjowski Park, nur 500 Meter vom großen Fili-Park entfernt, verbrachte. Hier war Artjom bereits unzählige Male in einer selbst auferlegten Trainingseinheit eine lange, steile Treppe, die zum Moskwa-Ufer führte, wie ein Besessener, von Ruhe suchenden Moskauern begafft, hinauf und hinunter gerannt, um – nach ausgiebigen Streckübungen am blauweißen Treppengeländer – inmitten der rasant wachsenden Metropole Moskau unter einhundertjährigen Laubbäumen im Wald entlang der mitunter steilen Ufer der Moskwa seine Ausdauerlaufrunden zu drehen. Dabei war er sich nie dessen bewusst, dass genau hier vor Jahren Peter der Große, Katharina die Große und etliche andere adlige Persönlichkeiten im gleichen Park ihrem Jagdvergnügen nachgegangen waren. Von seiner engen Wohnung im Dachgeschoss eines betagten Hauses bis zum Moskauer Internationalen Handelszentrum, der besagten »Moskwa City«, und dem dort befindlichen vierunddreißigstöckigen Bürogebäude Tower 2000 war es nur ein Katzensprung – für Moskauer Verhältnisse.

»Aufstehen, Sergei, los, du Faulpelz!« Artjom rüttelte Sergei Michailowitsch Smirnow, mit dem er bis weit nach Mitternacht etliche Sto-Gramm-Gläser geleert hatte, derb an der Schulter. »Los, Sergei, aufstehen! Wie geht’s dir?«

Smirnow antwortete mit einem Stöhnen auf die Floskel und griff sich an den Kopf. »Dämliche Frage. Großer Gott, was haben wir nur getrunken?«

»Russen heilen damit ihre seelischen Wunden. Wenigstens hast du schlafen können. – Geh in mein Bad, mach dich frisch und dann iss etwas.« Der Hüne spuckte in ein mit Wasser gefülltes Wodkaglas, nahm einen Schluck, gurgelte ziemlich lange, lief zur Spüle in der offenen Küche, spuckte hinein, leerte anschließend das Glas, trocknete erst den Mund und dann das Glas mit einem Lappen ab und stellte es in einen Hängeschrank.

»In einer Stunde müssen wir los. Ich bestelle ein Taxi, Parkplätze gibt es dort so oder so nicht.« Plötzlich stampfte Artjom auf Smirnow zu, der schwankend im Zimmer stand, umarmte und herzte ihn. »Es tut mir so leid, Sergei, ich weiß, wie sehr du deinen Igor liebst. Es tut mir so leid. Ich wollte, ich hätte es verhindern können.«

Als würde ihm erst jetzt die Tragweite der Tragödie bewusst werden, schaute Smirnow auf, direkt in die Augen von Artjom. Er hielt dessen Kopf zwischen seinen Händen, während Tränen aus Smirnows Augen schossen. »Diese Schweine sollen das gleiche Schicksal erleiden. Versprichst du mir das, Artjom? Versprich es mir! Du bist jetzt alles, was ich noch habe.«

»Versprochen, alter Mann. Keine Gnade. Versprochen.« Noch einmal drückte Artjom den Geschäftsmann so fest, dass er ihn fast zerquetschte. »Nun geh und mach dich frisch!«

*

Kurze Zeit später saßen beide im Taxi. Smirnow – hinten sitzend – hielt die Aktentasche mit der linken Hand fest, während er mit der rechten telefonierte.

»Anatolij, mein Freund, tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, wir sind ein paar Stunden voraus. Hast du mit diesem Kommissar gesprochen?«

»Habe ich. Ich weiß nun, dass beiden aus nächster Nähe mit einer Beretta von hinten in den Kopf geschossen wurde zuerst dem Mädchen, dann dem Jungen – sie standen vor dem Kamin mit dem Rücken zum Mörder. Sie sagen, der Schütze war zwischen ein Meter siebzig und ein Meter neunzig groß. Mehr wissen oder sagen sie nicht. Ich bleibe dran. Pass auf dich auf, Sergei. Pass gut auf dich auf.«

»Ich habe einen förderlichen Schutz. Artjom, du weißt schon. Er ist bei mir.«

»Okay, Sergei. Ich melde mich, wenn ...«

»Artjom? Sag, hast du ihn gesehen? Hast du meinen kleinen Igor noch mal gesehen, als er ...«

»Ja. Ich habe deinen Jungen gesehen. Wenigstens musste er keine Schmerzen leiden. Wenigstens das.«

»Ich habe die Eintrittskarten«, Smirnow schluckte, »ich hatte sie schon gekauft. Wir wollten nächste Woche einen ganzen Tag ... Ich hatte viel zu selten Zeit für ihn. Und auch jetzt war ich nicht da für Igor, vielleicht hätte ich ...«

»Sergei, Moskau glaubt den Tränen nicht. Die Deutschen sagen: Jammern hilft nichts. Alle hier tun ihr Bestes. Das solltest auch du tun.«

Das Taxi hatte längst die Moskwa überquert und bog über einen großen Kreisverkehr in die Testovskaya Ulitsa ein, die im südwestlichen Bogen wieder an der Wolga entlang zum Tower 2000 führte, der unmittelbar an der daran angeschlossenen überdachten und zweigeschossigen Bagrationbrücke stand, in der sich mehrere Dutzend Geschäfte und eine Aussichtsplattform befanden.

»Gut, Anatolij, du kennst diese Wunden. Dir muss ich es nicht erklären. Wir sind jetzt gleich da. Ruf mich an.«

»Natürlich. Sobald ich etwas weiß.«

Artjom, der vorn neben dem Fahrer saß, hatte sich umgedreht. »Eine Beretta?«, fragte er.

»Ja«, sagte Smirnow. »Doch mehr scheinen sie nicht rausbekommen zu haben.«

»Die Beretta besagt gar nichts. Das könnte auch eine PA MAS G1 der Franzosen sein. Die Beretta ist in Russland eher wenig verbreitet. In Italien und bei den Amis kommt sie zum Einsatz. Ein paar Nachbauten gibt es in Südafrika und Frankreich.« Nach einer kurzen Pause fuhr Artjom fort: »Also eine Beretta.«

Den Taxifahrer interessierte das Gespräch seiner Kunden nicht. Er pöbelte unablässig über die anderen Verkehrsteilnehmer und ganz besonders die Fußgänger, die zu seinem Ärgernis alles verkehrt machten. Dabei verwendete er den kompletten Moskauer Schimpfwortschatz, obwohl er selbst eher aus dem asiatischen Teil Russlands zu stammen schien.

Leipzig 12. Juni

Als Fedor schlaftrunken aus dem Bett gekrochen war und sich ohne Hilfsmittel Richtung Badezimmer bewegte, stieß er mit Katie zusammen, die den Jungen glatt übersehen hatte, die zudem an ihrem schlanken Körper lediglich einen winzigen weißen Slip trug und auf dem Rückzug vom Bad ins Schlafzimmer war. Fedor erschrak etwas, denn mit diesem nach Duschbad riechenden Hindernis auf einer gewöhnlich freien Bahn hatte er am frühen Morgen nicht gerechnet.

Katie hielt sich schützend die Hände vor die straffen Brüste, obwohl Fedor die unmöglich sehen konnte. »Oh, guten Morgen, du bist es, Fedor, Verzeihung.«

Gewohnheitsgemäß erfühlten Fedors Finger zunächst, was sich ihm da in den Weg gestellt hatte. Als die über Katies Bauch fuhren, sagte er: »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Schließlich bin ich derjenige, der nichts sieht. Wohnen Sie jetzt bei uns? – Wissen Sie, was ich glaube, Katie?«

»Was denn?«

»Sie sind bestimmt auch eine sehr hübsche Frau.«

»Na!« Katie löste Fedors Hände von ihrem Körper. »Du kleiner arglistiger Charmeur!«

Im Hintergrund lachte Sorokin laut auf.

»Er nutzt seine Blindheit aus, um mich zu befummeln!«, sagte Katie und lachte gleichfalls.

»Gar nicht!«, wehrte sich Fedor. »Tu ich nicht!«, fuhr er fort und verschwand im Badezimmer.

Sorokin umarmte das Mädchen. »Er sieht mit den Fingern. Nur was Fedor berühren kann, kann er sich auch vorstellen. Du musst dich nicht grämen.«

Katie – auf Zehenspitzen stehend – küsste Sorokin intensiv, der nun seinerseits die Hände über den fast nackten Körper des Mädchens gleiten ließ. »Grämen? Das war ein Spaß.« Und wieder lachten sie.

Fünf Minuten später huschte Fedor in sein Zimmer und Katie folgte ihm. »Das war eben nicht so gemeint«, sagte sie. »Alles okay?« Die Kriminalassistentin sah sich im äußerst aufgeräumten Kinderzimmer um. Auf dem Schreibtisch stand eine kleine Stahlkassette. »Was ist, Fedor, hast du da deine Millionen versteckt?«

»Wo?«

»In diesem kleinen Tresor, der auf deinem Schreibtisch steht.«

Zielgerichtet lief Fedor zum Schreibtisch. Sofort ergriff er die Kassette, drehte den winzigen Schlüssel um und öffnete sie. Alles, was darin lag, war ein Babyschnuller. Und der sah wirklich nicht mehr sehr schön aus. Das gelbe Plastikgestell wirkte schmutzig und der Nuckelgummi zerkaut. »Mama hat ihn gekauft. Er ist das Einzige, was ich noch von ihr besitze. Deshalb ist er eingesperrt.« Fedor nahm den Schnuller in den Mund und nuckelte daran wie ein Baby.

Nach dem Frühstück brachte Sorokin die Assistentin zu ihrem Auto. Als er in die Wohnung zurückkam, saß Fedor im Schneidersitz vor dem Rechner des Vaters und hörte Musik.

Sorokin wartete, bis das Lied zu Ende war, dann legte er seine Hände auf Fedors Schultern und fragte: »Und, alles klar?«

»Katie lacht bestimmt wie Mama«, flüsterte Fedor. Mehr sagte er nicht.

»Was hast du heute vor?«, fragte Sorokin und Fedor zuckte mit den Schultern. »Hausaufgaben vielleicht.«

»Ich fahr zur Tankstelle, meine Zigaretten sind alle, jemand hat sie mir weggeraucht.«

Fedor stach dem Vater zielsicher mit dem Zeigefinger der rechten Hand in den Bauch und lachte auf. »Na klar, Papa. Weggeraucht! Dass ich nicht lache!«

»He, lass das!« Nun kitzelte Sorokin dem Sohn die Rippen, so dass der lachend aufschrie und fast keine Luft mehr bekam. Als sich Fedor wieder beruhigt hatte, fragte der Vater: »Wie findest du Katie sonst so?«

Grinsend spitzte Fedor die Lippen. »Geht so.«

»Geht so?«

»Ja. Geht so. Sie riecht gut und lacht ein bisschen wie Mama. Viel mehr weiß ich auch nicht. Sie raucht nur, wenn sie mit dir im Bett war. Und im Schlaf stöhnt sie ganz schön laut.«

Einen Moment lang schwieg Sorokin. »Du Halunke!«, rief er schließlich. »Du hast uns belauscht!«

 

Das Grienen in Fedors Gesicht breitete sich aus.

Sorokin lenkte sicherheitshalber ab: »Kommst du nun mit?«

»Ich mach das Auto auf!«, rief Fedor, rannte in den Flur, schlüpfte in seine Sportschuhe, holte den Schlüssel aus dem Jackett des Vaters und lief eine schmale Innentreppe hinunter in die Garage, die ein Teil des Kellers war. Als er die Tür zum Garagenraum geöffnet hatte, blieb Fedor wie angewurzelt stehen. Wieder einmal bebten seine Nasenflügel.

Sorokin stand plötzlich hinter seinem Sohn, erst mit einem Arm in der Lederjacke. »He, was ist los mit dir?«, fragte er.

Fedor rührte sich nicht von der Stelle. »Es riecht komisch. Und etwas tropft«, flüsterte er.

Sein Vater roch nichts, abgesehen von abgestandenen Auspuffabgasen, und hören konnte er gleich gar nichts. »Woher kommt denn das Tropfen?« Auch er flüsterte.

Ganz langsam bewegte sich Fedor auf den BMW zu und ging in die Knie. Er sog die Gerüche in sich ein und zeigte unter den Z4 Coupé. Sorokin kniete sofort neben dem Jungen, lag schließlich fast auf dem Boden. Er schüttelte den Kopf. »So eine Sauerei!«

Beide Bremsschläuche hingen lose über der Vorderachse, unter dem Sportwagen hatte sich eine Pfütze gebildet und die letzten Tropfen der Bremsflüssigkeit fielen lautlos aus den Schläuchen.

»Du bist ein Schatz, Fedor«, flüsterte Sorokin, stand auf und zog den Jungen mit hoch. Dann drückte er Fedor fest an sich. »Vielleicht hast du uns beiden gerade das Leben gerettet.«

Die asphaltierte Ausfahrt vom Grundstück führte auf dem letzten Stück steil bergab und endete als Einmündung in einer dicht befahrenen, vierspurigen Schnellstraße, auf der in diesem Abschnitt zwar nur siebzig Stundenkilometer erlaubt waren, doch hielten sich nur wenige Verkehrsteilnehmer daran. Sorokin malte sich das Szenario aus, das hätte wahr werden können, wäre der flache BMW ungebremst auf die Bundesstraße gerollt und von einem Lkw erfasst worden.

»Zigarettenkaufen fällt aus. Ich muss telefonieren.« Während er das Handy benutzte, schaute sich Sorokin in der Garage und im angrenzenden Keller um. Die Nebeneingangstür war brachial aufgehebelt worden. Er ging hinaus auf den Hof und erfasste die gesamte Umgebung. Niemand war zu sehen. Fedor blieb in seiner unmittelbaren Nähe.

»Frau Rattner? Ist Ihr Mann zu sprechen?«

»Momentchen bitte, ich hole ihn«, antwortete Rattners Frau, die eine gewisse Dringlichkeit in Sorokins Stimme erkannt hatte.

»Ja, ich warte.« Und kurz darauf: »Hans? Ich brauche dich unbedingt.«

»Heute ist Sonntag und meine Frau erschlägt mich. Egal. Wo? Bei dir am Haus?«

»Ja, bei mir am Haus. Erreichst du jemanden von der Spurensicherung?«

»Ich gebe mir Mühe. Was ist denn los? Ist was Ernstes passiert?«

»Nein, dank Fedor ist uns nichts passiert. – Bringst du mir bitte eine Schachtel Zigaretten mit?«

*

Zuallererst tauchte Kriminalkommissar Rattner auf. Er wuschelte Fedor den schwarzen Schopf. »Na, mein Theaterheld? Wann drehst du deinen ersten großen Film?«

Fedor lächelte. »Mich nimmt ja doch keiner«, raunte er, Selbstmitleid heuchelnd.

»Sei dir da bloß nicht so sicher. Und, wie geht’s deiner Freundin?«

»Laura ist nicht meine ...«, protestierte Fedor.

Rattner drückte den Jungen an sich. »Nein, klar, ist sie nicht. Aber du magst sie, oder? Hast du Laura im Schultheater kennengelernt?«

»Hm.«

»Hast du das Gefühl, dass Laura deine Augen stören?«

»Nein.«

»Also nimmt sie dich so, wie du bist? Ganz ohne Vorurteil?«

»Ja.«

»Das ist gut, Fedor, das ist sogar sehr gut.« Er beugte sich zu Fedors rechtem Ohr und flüsterte: »Halt sie dir warm, mein Junge. – Hallo Anatolij, was machst du da für Sachen?«, fragte er Sorokin laut, der zur Begrüßung erschien.

»Ich weiß lediglich, dass ich deine Frage nicht beantworten kann, Hans. Irgendetwas geschieht hier. Aber was? Ich hatte gehofft, dass du mir helfen wirst.«

Glanz plötzlich herrschte in Sorokins Keller – wie auch vor dem Häuschen – Hochbetrieb. Katie tauchte zehn Minuten nach der Spurensicherung auf, obwohl ihr der Sonntag heilig war. Auch sie fuhr Fedor, der mittlerweile draußen lauschend auf einer Treppe saß, durch den Haarschopf.

»Na, alles klar, junger Mann?«

»So richtig nicht«, flüsterte Fedor.

»Und warum?«

Der Junge druckste herum. »Darf man den Freund eines Freundes verraten?«, flüsterte er.

»Wenn es dem Freund hilft, dann muss man ihn sogar verraten. Sonst leidet man vielleicht an Gewissensbissen, die einen umbringen können. Betrifft es einen Freund von dir?«

Fedor zuckte mit den Schultern und Katie spürte, dass das Gespräch beendet war.

Die Assistentin rief nach Rücksprache mit Kommissar Rattner einen Hundeführer an, der in der Nähe wohnte und kurz darauf mit einem Polizeihund aufkreuzte. Fedor freundete sich sogleich mit diesem Mann und vor allem mit dem Hund an.

»Dann wollen wir mal sehen, ob Neus eine Spur aufnehmen kann«, sagte der Polizeihundeführer. »Willst du mitkommen? Ich nehme dich an die Hand, damit wir keine Spuren kaputt machen und Neus nicht stören. Okay?« Er führte den dreizehnjährigen Jungen hinaus vor die Tür. »Such!«, befahl er dem Schäferhund, der zunächst im Umfeld der zerstörten Tür Witterung aufzunehmen versuchte.

»Was bedeutet sein Name ›Neus‹?«

»Obwohl Neus ein deutscher Schäferhund ist, stammt er aus einem holländischen Wurf. ›Neus‹ ist Niederländisch und heißt ›Nase‹.« Der Hund zog den Führer und den Jungen mit sich. Sie liefen über kurzen Wildwuchs den Berg hinab zur Bundesstraße, jedoch abseits der offiziellen Auffahrt.

»Die haben den Hund einfach ›Nase‹ genannt?«, fragte Fedor erstaunt.

Unmittelbar neben dem Straßengraben der Bundesstraße stoppte Neus und machte Platz.

»Immerhin, die Nase ist sein bestes Stück. Neus hat uns schon oft geholfen und entscheidende Spuren gefunden. Schauen wir mal, was er hier entdeckt hat.« Der Hundeführer kommentierte jeden Handgriff für Fedor.

»Ich würde auch gern so eine Nase haben wollen«, flüsterte der Junge gespannt.

»Dann müsstest du aber auch die stinkenden Sachen intensiver riechen. Und das ist bestimmt nicht immer angenehm. Hier, halte mal kurz die Leine.« Der Hundeführer legte die Schlaufe der Lederleine über Fedors rechtes Handgelenk und zog sich mühsam einen Gummihandschuh über die schwitzenden Finger der rechten Hand. Dann entnahm er seiner Umhängetasche einen wiederverschließbaren Beutel und eine Pinzette.

»Was hat Neus denn entdeckt?«, fragte Fedor neugierig und hielt die Leine etwas verkrampft in seiner Hand, obwohl sich Neus keinen Millimeter bewegte.

Der Beamte hob mit der Pinzette einen braunen Zigarrenstummel ohne Banderole auf. »Offenbar hat unser Täter Zigarren geraucht. Die Banderole ist zwar ab, aber vielleicht hat uns der Täter damit seinen genetischen Fingerabdruck hinterlassen. Du weißt, was das ist?«

»Natürlich. Über einen Gentest könnte der Mann gefunden werden, weil seine DNA ermittelt wird.«

»Warum bist du dir so sicher, dass es ein Mann ist?«

»Haben Sie schon mal eine Frau Zigarre rauchen sehen?«, fragte Fedor altklug.

»Hm. Nicht allzu oft. Wo du recht hast, hast du eben recht. In der kleinen Einfahrt dort vorn wird er das Fahrzeug versteckt haben. – Pass gut auf: Du bleibst genau hier stehen und bewegst dich nicht vom Fleck. Okay? Auf der Straße ist es zu gefährlich für dich.«

»Okay.« Fedor übergab die Leine. »Darf ich mal an der Zigarre riechen? So wie Neus es getan hat?«

»Klar doch.« Der Mann hielt dem Jungen den Zigarrenstummel unter die Nase.

Fedors Nasenlöcher weiteten sich einige Male. Dann sagte er äußerst selbstbewusst: »Kein Zweifel. Das ist die Zigarrensorte ›Independence Xtreme Vanilla‹.«

Zunächst schaute der Polizeihundeführer sehr ernst drein, dann aber lachte er. »Du veralberst mich! Die Sorten hat uns Neus jedenfalls noch nie verraten. Du bist schon eine Nase ... Also warte hier, ich bin gleich wieder da.« Er ließ Neus erneut schnüffeln, folgte dem Hund bis zu der kleinen, links und rechts zugewachsenen Einfahrt, die landwirtschaftlichen Fahrzeugen zum Erreichen des benachbarten Feldes diente, und kam kurze Zeit später zurück. Fedor hatte sich tatsächlich nicht vom Fleck gerührt.

»Wie vermutet«, sagte der Mann. »Die Spur endet in der Einfahrt.«

*

Nachdem sich Fedor ausgiebig von Neus verabschiedet hatte und die Spurensicherung verschwunden war, trafen sich Sorokin, Rattner und Katie im Wohnzimmer. Fedor verschwand im Kinderzimmer, ließ die Tür jedoch angelehnt und lauschte. Er wagte es nicht, Laura anzurufen. Ein Gefühl sagte ihm, dass Lauras Vater das letzte Telefongespräch mitgehört haben könnte.

»Definitiv wurden beide Bremsschläuche säuberlich abgeschnitten, nutzbare Spuren fanden wir aber keine.« Kommissar Rattner öffnete seine Aktentasche und holte einige geheftete Papierblätter hervor, die er über den Tisch gleiten ließ. »Und dann noch das hier«, sagte er mit einem vorwurfsvollen Unterton.

Katie runzelte die Stirn. Auf dem ersten Blatt prangte ein kyrillisches »Interpol«.

»Was ist das nun wieder?«, fragte sie.

»Wurde mir heute, zum Sonntag, zehn Minuten vor Anatolijs Anruf von einem wichtigtuenden Kurier zugestellt.«

Sorokin griff als Erster zu dem zweisprachig gedruckten Dokument. »Ein Auslieferungsantrag?«, flüsterte er.

»Ein völlig obskurer Vorgang«, sagte Rattner und hüstelte etwas unbeholfen.

Stille herrschte, bis Sorokin das Dokument gelesen hatte. »Aber das ist doch ...«, sagte er schließlich.

Über Interpol verlangte die russische Justiz die sofortige Auslieferung von Anatolij Sorokin mit der Begründung, man wäre davon überzeugt, dass Sorokin den Sohn des Wirtschaftsfunktionärs Sergei Michailowitsch Smirnow vorsätzlich getötet habe. Zudem nahm man an, dass Sorokin weitere Anschläge gegen die Russische Föderation plane. In einem zusätzlichen Antrag bestand man zudem auf die Überführung des Leichnams von Igor Smirnow zum Zwecke der Obduktion durch russische Behörden.

Rattner starrte Sorokin zwei Minuten lang an. »Ich glaube diesen Schwachsinn wirklich nicht, aber ich muss trotz allem irgendeine Reaktion zeigen. Und zwar bald.«

Sorokin erhob sich und ging zur Balkontür. »Kann mir bitte jemand erklären, was hier abgeht?«, sagte er plötzlich. »Man versucht mich umzubringen, man behauptet haarsträubende Dinge ... Irgendetwas stinkt gewaltig.« Er setzte sich wieder hin. »Aber was? Ich habe doch absolut nichts mit diesen Dingen zu tun! Ich war ja noch nicht einmal in Moskau! Und Sergei ist mein Freund!« Er klopfte nervös mit den Fingerspitzen auf den Wohnzimmertisch.

Katie schwieg.

Sorokin blätterte erneut in dem Dokument.

Rattner meldete sich: »Das Schreiben ist – ganz offiziell – eine Red Notice. Also ein Ersuchen um Festnahme oder vorläufige Festnahme mit dem Ziel der Auslieferung. Und unser BKA hat, als nationales Büro von Interpol, dem Ersuchen zugestimmt. Und zwar verdammt schnell, was eher ungewöhnlich ist. Also ...«

»Warte bitte mal«, unterbrach Sorokin Rattners Redeschwall. »Hier! Lies das!«

Kommissar Rattner schob sich die Brille zurecht. »Das ist Russisch«, sagte er. »Nicht gerade meine Stärke.«

Sorokin riss Rattner das Blatt aus der Hand. »Russisch. Richtig! Dieser Teil wurde nicht übersetzt. Hier unten, ganz winzig und etwas verwischt, steht der Hinweis einer russischen Behörde: Interne Antragsteller sind Michail Lebedev und Alexander Komsomolzev, Schrägstrich, Federalnaja sluschba besopasnosti Rossijskoj Federazii oder auch Bundesagentur für Sicherheit der Russischen Föderation! Euch vielleicht besser bekannt unter der Abkürzung FSB oder als russischer Inlandsgeheimdienst! Alexander Komsomolzev! – Das kann unmöglich ein Zufall sein!«

Zunächst wischte sich Rattner Schweiß von der Stirn. »Ist das nicht dein Freund Sascha aus Magnitogorsk, von dem du mir erzählt hast?«

Sorokins Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Dann schlug er auf den Tisch. »Irgendetwas in mir hat es stets vermutet. Doch etwas anderes hat es immer wieder verdrängt.« Erneut stand er auf und lief Kreise im Raum. »Als das mit Galina passierte, habe ich mich an meinen ehemaligen Schulfreund Sascha gewandt. Er sollte mir helfen, den angeblichen Unfall aufzuklären. Kurz darauf wollten sie mich fertigmachen. Erst wollten sie Fedor in ein Heim stecken, dann bekam ich Drohbriefe vom Konzern und wurde ständig beschattet. Alexander Komsomolzev meldete sich nie. Aber dieser andere Typ, der mich mehrmals verhört hat und mir den Unfall einreden wollte ... Lebedev ... Michail Lebedev ... Ein schmalbrüstiges Kerlchen mit Zickenbart. Ich bin mir ganz sicher. Der Typ damals hieß Michail Lebedev.« Sorokin redete wie im Selbstgespräch, schlug hin und wieder auf den Tisch und sah nur selten auf. »Es ist ein Komplott! Angenommen, die Direktion vom Stahlkonzern in Magnitogorsk hat den FSB beauftragt, etwas gegen uns Umweltaktivisten zu unternehmen, dann schickt doch der FSB liebend gern einen Mann, der in Magnitogorsk aufgewachsen ist und sich dort auskennt. Oder sehe ich das falsch? Komsomolzev ... Es ist also durchaus möglich, dass mein bester Schulfreund so loyal gegenüber seinem Arbeitgeber war, dass er Galina töten ließ oder sie gar selbst tötete! Das Mädchen, das er ebenfalls kannte, denn wir gingen in Magnitogorsk zusammen in eine Schulklasse. Mich bekam er nicht zu fassen, weil ich mit Fedor geflüchtet war. Und nun, als Sergei Michailowitsch mich anrief und ich ihm den Tod seines Jungen bestätigen sollte, da erwähnte er am Telefon meinen Namen. Er sagte auch, zwei vom FSB wären bei ihm und hätten die Nachricht überbracht. Ratet mal, wer die beiden waren!«

 

»Alexander Komsomolzev und Michail Lebedev?«, flüsterte Katie. »Komsomolzev wittert die Chance, dich zu beseitigen, hat vielleicht sogar Leute hier, die dir heute an den Kragen sollten und ...«

»Das mit Papas Auto hat nichts damit zu tun!« Es war Fedor, der plötzlich im Raum stand, sich zu seinem Vater vorarbeitete und hinter ihm stehen blieb.

Sorokin ergriff die Hände des Sohnes, denn der körperliche ersetzte bei Vater und Sohn den Blickkontakt. Fedors Hände zitterten ebenso wie die des Vaters.

»Das klingt sehr selbstsicher, was du da behauptest, Fedor.« Katie schaute den Jungen an, der ihren Blick nicht erwidern konnte, sondern ihn nur erahnte. »Und warum denkst du das?«

»Ich bin noch nicht so weit, dass ich etwas sagen will«, meinte Fedor und legte sein Kinn auf die rechte Schulter des Vaters. »Aber ich weiß, dass das mit Papas Auto etwas mit Igors Tod zu tun hat. Das mit diesem Alexander Komsomolzev aber nicht.«

Im Wald herrschte Schweigen.

Rattner zerstörte die Ruhe schließlich. »Und nun?«

Sorokin drückte Fedor ein wenig zur Seite. »Hans, hast du an die Zigaretten gedacht?«

»Oh, Mist!« Der Kommissar tat verlegen. »Die habe ich vergessen.« Dann griff er aber in die Jackettasche, nahm eine neue Schachtel von Sorokins Sorte heraus und warf sie ihm zu. »Hier, bevor du stiften gehst.«

»Danke.« Sorokin verzog sich auf den Balkon und ließ die Tür offen. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, draußen herrschte völlige Ruhe. Nur ein fast gleichmäßiges Rauschen flog von der Bundesstraße herüber.

Plötzlich stand Katie neben ihm. »Gib mir mal eine.«

Sorokin zündete zwei Zigaretten an und steckte der jungen Frau eine davon zwischen die Lippen. »Denkst du, was ich denke?«, fragte er.

»Ich hätte dann große Angst um dich«, flüsterte Katie.

»Ich muss es beenden. Sonst fühle ich mich ewig verfolgt«, flüsterte Sorokin. »Und vor allem ... Ich habe Angst um ihn.« Er deutete mit dem Kopf auf Fedor, der sich im Wohnzimmer mit Hans Rattner unterhielt.

»Ich versteh dich schon. Und würde es auch akzeptieren, Anatolij. – Da ist aber noch etwas ...« Sie schmiegte sich an den großen Mann.

»Noch etwas?«, fragte er.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, deshalb habe ich es für mich behalten. Als ich heute hier weggefahren bin ... Ich glaube, ich habe den Typen und sein Auto gesehen. Aber sicher bin ich mir nicht. Unten, an der Straße. Ich bilde mir ein, es war ein Mann, der gerade einstieg, und das Auto war ein dunkler Kombi. Aber ich ...«

Sorokin drückte das Mädchen an sich. »Immerhin wäre das eine Spur. – Jetzt muss ich mit Hans reden.«

Sie machten gleichzeitig die Zigaretten aus und gingen ins Wohnzimmer zurück.

»Fedor, du verschwindest mal bitte in deinem Zimmer«, befahl Sorokin, »und hörst dir so laut Musik an, dass du nichts von uns verstehen kannst. Okay?«

Fedor verschwand, ohne zu diskutieren.

Sorokin und Katie nahmen wieder Platz. »Hans«, sagte Sorokin. »Es gibt nur einen Weg. Ich werde nach Moskau gehen und mich um meine Dinge kümmern. Vielleicht erfahre ich auch etwas in der Mordsache. Ein Visum habe ich für mich und Fedor.« Er stockte kurz. »Es wäre jedoch günstig, wenn du noch etwas wartest, was Interpol und das BKA angeht, sonst hängt mein Bild in jedem Flughafen.«

»Das ist Selbstjustiz. Die kann ich auf keinen Fall unterstützen«, raunte Rattner.

Für kurze Zeit blickte Sorokin dem Kommissar in die Augen, um zu erkennen, ob dessen Spruch ernst gemeint war. »Du musst mich nicht unterstützen. Du sollst mir nur den Rücken freihalten.«

»Was wird aus Fedor?«, fragte Katie, bevor Rattner etwas sagen konnte.

»Fedor kommt mit mir. Er öffnet mir Türen und wird mich unterstützen. Außerdem ist er bei seinem Vater völlig sicher.« Sorokin schaute zur Zimmertür des Kinderzimmers, die nicht angelehnt, sondern tatsächlich geschlossen war. »Ihr behauptet einfach, ihr habt mich nicht finden können. Das ist doch khorosho.«

»Khorosho?« Rattner schüttelte den Kopf. »Das ist nicht khorosho. Das ist der blanke Wahnsinn! Dich haben heute fünf Leute von der Spurensicherung und ein Hundeführer gesehen.«

»Die werden alle einen Tag lang schweigen können. Es sind doch deine Leute. Ich werde mich mit Sergei in Moskau treffen. Vielleicht weiß ich dann mehr.«

*

Fedor war komplett unter die Bettdecke gekrochen. Er sendete eine SMS an Laura Sonberg: »Was hat dein P. für ein Auto? War er heute schon weg?«

Die Antwort der monotonen Frauenstimme kam sofort: »War Tennisspielen. Mercedes.«

»Farbe?«

»Schwarz.«

»Kombi?«

»Ja.«

»Danke!«

»Was soll das?«

»Nur so. Küsschen!«

»Selber Küsschen! D. u. d. F.!«

»?«

»Du und deine Fragen!«

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