Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 1 - Die Schlacht in Magnitogorsk

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*

»Wer hat die Morde gemeldet?« Endlich, nach dem vierten Glas Wodka, hatte Sorokin über eine spezielle Nummer bei Rattner angerufen.

»Es war ein anonymer Anruf in der Notrufzentrale. Männliche, elektronisch entstellte Stimme. Die Spezialisten arbeiten daran.«

»Schicken Sie mir den Mitschnitt?«

»Sie werden mich lynchen, wenn das rauskommt. Trinken Sie gerade?«

»Es wird nicht rauskommen. – Ich trinke Wodka. Fedor hat auch Wodka getrunken. Jetzt schläft er endlich.«

»Sie sollten dem Kind keinen Alkohol geben. – Ich saufe gerade Whisky. Und da wir beide ein Glas halten, sollten wir uns endlich duzen. Okay?«

»Hans, du bist der alte Mann, der das Recht dazu hat, so etwas vorzuschlagen. Habt ihr Sergei informiert?«

»Man sagt nicht ›der alte‹, sondern ›der ältere Mann‹, Anatolij. – Wir haben es mehrfach probiert, konnten ihn jedoch nicht erreichen. Interpol versucht momentan Sergei Michailowitsch Smirnow ausfindig zu machen.«

»Sergei hat oft vom Russia Tower in Moskau City gesprochen. Er sagte, das wäre eine einmalige Chance für deutsche Bauunternehmen.«

»Moskau City?«

Sorokin goss sein Glas erneut voll und prüfte mit einem Blick, wie viel Wodka noch in der Flasche war. »Das Moskauer Internationale Handelszentrum. Der Bau an Moskwa City wurde 1992 begonnen. Es entstand direkt an der Moskwa. Riesige Luxus-Tower, einer neben dem anderen. Das zweithöchste Bauwerk der Welt sollte der Russia Tower werden, ein absolutes Prestige-Projekt, einhundertachtzehn Stockwerke, über sechshundert Meter Höhe, Kosten anderthalb Milliarden US-Dollar, mehr als hundert Fahrstühle wollte man einbauen. 2007 wurde mit dem Bau offiziell begonnen, sie schafften nicht mal das Fundament, dann zerschlug die Finanzkrise das Konsortium der Geldgeber. 2012 beschloss die Moskauer Regierung, den Bau in einer abgemagerten Form fortzusetzen. Wir haben viel darüber philosophiert.«

»Ich verstehe. Also vertritt Smirnow die deutschen Anbieter?«

»Es hat den Anschein, als wäre das so. Ich wage mich jedoch daran zu erinnern, dass das Konsortium eher einen internationalen Anstrich hat.«

»Also ein Wirtschaftskrieg der Bau-Mafiosi?«

»Das wäre nicht mehr als eine treffende Vermutung.«

Moskau 10. Juni

»Sergei Michailowitsch Smirnow?«

Der kräftige Mann im Hotelzimmer betrachtete den kindlichen Pagen, der mit seiner bunten Kappe auf dem Kopf wie ein frecher Ersatzclown aus einem mittelprächtigen russischen Zirkus wirkte. »Ja. Was willst du?«

Aus sicherer Entfernung überreichte der Page dem Geschäftsmann einen verschlossenen Umschlag. »Der ist für Sie. Ich soll ihn nur abgeben.«

Smirnow nahm den Brief an sich. Der Page rührte sich nicht von der Stelle. Er hielt stattdessen die Hand auf. Was blieb Smirnow, als dem Jungen ein paar Rubel zu übergeben, damit er endlich verschwinden würde? »So leicht möchte ich auch mal mein Geld verdienen«, raunte er.

Sogleich steckte der Page das Geld ein. »Glauben Sie, mein Herr, leicht ist es nicht. Ich muss ein Jahr für den Hotelbesitzer arbeiten, ohne dass ich auch nur eine Kopeke kriege.« Er schickte sich an zu gehen.

»Und warum musst du das tun?«, fragte Smirnow mit faltiger Stirn.

»Mein Vater schuldet dem Hotelbesitzer Geld aus nicht gezahlten Mieten«, sprach der Page. Dann lächelte er. »Aber was soll’s. Hier ist es trocken und im Winter wärmer als auf der Straße. Und fast jeden Tag gibt’s was zu futtern.« Der Junge verschwand in einem Aufzug.

Smirnow ging bedächtig langsam in sein Zimmer zurück. Er hätte den Jungen fragen können, wer ihm den Brief gegeben hatte. Doch dazu war es jetzt zu spät. In diesem riesigen Hotelkomplex würde er den Pagen wahrscheinlich niemals wiederfinden.

Ganz offiziell nannte sich Smirnows Einmannunternehmen »Deutsch-Russische Wirtschaftsagentur SMS«, wobei SMS die Initialen seines Namens verkörperten. Eine Frau Smirnowa hatte sich vor knapp sieben Jahren von ihm scheiden lassen, den damals dreijährigen Igor musste sie beim Exgatten zurücklassen, die beiden älteren Mädchen behielt sie.

Smirnow ließ sich in einem urigen Sessel nieder und öffnete den Brief, nachdem er mehrmals die Fingerkuppen mit der Zungenspitze befeuchtet hatte.

Erwartungsgemäß war der Inhalt in russischer Sprache verfasst. Kurz und knapp. »Ich empfehle Ihnen, dass Sie vor dem Ausschuss zur Fortführung der Baumaßnahmen am ›Башня Россия‹ das deutsche Angebot als unhaltbar einschätzen und zurückziehen. Ich warne Sie nur einmal.« Und unten stand in großen kyrillischen Lettern:

»ВОЛКОВ БОЯТЬСЯ – В ЛЕС НЕ ХОДИТЬ!«

»Fürchtest du die Wölfe, dann geh lieber nicht in den Wald«, flüsterte Smirnow unbeeindruckt. Dann kratzte er sich am Kinn. Schließlich nahm er sein Handy und wählte eine Nummer. Er sprach deutsch mit dem Mädchen am anderen Ende, per Luftlinie 1.730 Kilometer entfernt. »Anja? Ich hatte versprochen anzurufen. Hier ist alles in Ordnung. Bei euch auch? Du musst heute Nacht nicht bei Igor bleiben.«

»Aber Herr Smirnow, ich ...«

Smirnow äußerte sich in kurzen Sätzen: »Gib meinem Jungen einen Kuss und grüß ihn ganz lieb von seinem Vater. Das Gespräch kostet viel Geld. Du hast alles verstanden, Anja?«

»Ja, Herr Smirnow, aber ...«

»Dann ist ja gut.« Er unterbrach die Verbindung und wählte sogleich eine andere Nummer in Moskau. »Artjom? Ich brauche dich hier. Baltschug Hotel. Sofort.«

*

Siebenundfünfzig Minuten später. Artjom stand in der Zimmertür.

Ein unbeschreiblicher Hüne. Auch er arbeitete als Einmannunternehmen, nannte sich selbst »Der Unschlagbare« und hatte einst seine Kraft dem KGB gespendet. Als man jedoch den sowjetischen Geheimdienst 1991 zerschlug und die beiden »lächerlichen Vereine« – wie sich Artjom auszudrücken pflegte – FSB und SWR gründete, weil der KGB angeblich den gesamten Sowjetstaat übernehmen wollte, sollte Artjom im »Sluschba Wnechney Raßwedki« integriert werden, dem neuen Auslandsnachrichtendienst der Russen, was dem SWR jedoch nicht gelang, denn Artjom hatte als damals Vierundzwanzigjähriger seine ganz ureigenen Vorstellungen von der persönlichen Zukunft, und die deckten sich nicht einmal ansatzweise mit denen eines russischen Auslandsnachrichtendienstes. Also gründete er sein eigenes Unternehmen, in dem er sich und seine Kraft anderen zur Verfügung stellte. Er war niemals nur mit Muskeln bewaffnet und konzentrierte sich auf drei Dienstleistungen, die da waren privater Personenschutz, Einschüchterungsarbeit, die er liebevoll »Obraßowanie Taktiki« nannte, sollte heißen »taktische Erziehung«, und schlussendlich sein teuerstes Angebot »Taktitscheskowo Liquidazii«, also die Liquidierung. Selbstverständlich gab es in Artjoms Umfeld keinen Preiskatalog und er arbeitete häufig allein und in einem klar abgesteckten Rahmen. Doch all seine Aufträge bewerkstelligte er so geschickt, dass die beiden Herren vom FSB, die ihn im Auftrag des Inlandgeheimdiensts beschatteten, bereits seit Jahren ein Phantom ohne jeden Beweis jagten. Einen Nachnamen benutzte Artjom, dessen Herkunft völlig unklar war, übrigens niemals.

»Bitte tritt ein.« Smirnow umarmte den Hünen und gab ihm die gewöhnlichen Freundschaftsküsschen auf die Wangen. Er hatte Artjom in der Vergangenheit bereits viel Geld zahlen müssen, wobei es ausschließlich um sehr subtile Aufträge gegangen war, Diese hatte der Hüne stets zur vollsten Zufriedenheit seines Auftraggebers erledigt. Gemeinsame Umtrünke sorgten derweil für eine innige und bleibende Freundschaft. Artjom trug auch heute praktische militärische Kleidung und halbhohe Fallschirmspringerstiefel. Einer Gesinnung folgte er angeblich nicht.

Der Zweimetermann Artjom ging zielstrebig zur Bar des noblen Hotelzimmers und goss sich einen kristallklaren Wodka ein. »Du solltest auch einen trinken, Sergei. Du siehst verdammt beschissen aus.«

»Ich danke deiner Ehrlichkeit. Was glaubst du, was ich die ganze Zeit tue?« Ohne zu zögern reichte ihm Smirnow den anonymen Brief. »Lies das bitte.«

Mehrmals überflog Artjom den Zettel. »Hast du eine Vermutung, wer hinter diesem Schwachsinn stecken könnte?«, fragte der Hüne schließlich, goss teuren Wodka in ein weiteres Glas und reichte es dem Geschäftsmann.

Der trank das Glas in einem Zug aus. »Wie soll ich es sagen. Im Grunde genommen habe ich mehrere Vermutungen.«

Beide setzten sich, Artjom legte die Füße samt Tretern auf ein hochglanzpoliertes kleines, güldenes Tischchen, das als Beistelltisch für Getränke dienen sollte. »Und die wären?«

»Hier, schau dir das an.« Smirnow nahm ein buntes Prospekt zur Hand, ließ es auf den Tisch zwischen beide Herren gleiten und lehnte sich zurück. »Ich schulde dir ein paar Erklärungen. Sollte ich dich langweilen, dann sag es einfach.«

Lächelnd gab Artjom von sich: »Da ich für meine Zeit bezahlt werde, würde ich ein Dummes tun, dich zu unterbrechen, Sergei.«

Ausführlich erklärte ihm der Geschäftsmann die Situation und dass er ein von deutschen Unternehmen geleitetes internationales Konsortium vertrete, dass es noch zwei russische und einen internationalen Anbieter gebe, die alle behaupten, die Bauarbeiten am Russia Tower ordentlich beenden zu können, wobei das deutsche Angebot für die Moskauer Verwaltung wahrscheinlich das interessanteste sein könne, da es vorsehe, den Tower in die ursprünglich geplante Höhe wachsen zu lassen.

Artjom holte tief Luft. »Einer der Anbieter will das deutsche Angebot also sabotieren. Das leuchtet mir ein. Aber welcher?«

»Wahrscheinlich werden wir das erst nach der Angebotsübergabe erfahren.«

»Wann und wo?«

»Im Tower 2000 in Moskau City.« Smirnow schob ein Blatt Papier zu Artjom hinüber. »Am 12. Juni, 12:00 Uhr bin ich geladen. Der Moskauer Bürgermeister wird anwesend sein und die halbe Stadtverwaltung. Es ist ein formeller Akt mit ausgewählten Presseleuten, die praktisch nicht berichten dürfen, bis der Deal in Sack und Tüten ist. Mir werden zwanzig Minuten gewährt, um das Angebot zu übergeben. Der deutsche Architekt Prof. Dr. Helge Grollmann wird mit anwesend sein, falls die Fragen zu speziell werden.«

 

»Wer ist das?«

»Er wurde mir von BDI und Bund zur Seite gestellt. Wir kennen uns seit Langem. Ein erfahrener Sesselquetscher aus dem Institut für angewandte Hochbautechnologie Potsdam. Wir hatten nur zwei Mal telefonischen Kontakt, er hat auch die Unterlagen auf sachliche Richtigkeit geprüft.«

»Wann triffst du diesen Grollmann?«

»11:45 Uhr im Foyer des Towers 2000.«

»Okay. Ich werde mir ein Zimmer nebenan besorgen und mich ein wenig umhören. Mehr können wir im Moment nicht tun.«

Leipzig 11. Juni

»Fedor?«

Es war Samstag, 10:30 Uhr. Sorokin war bereits um 6:00 Uhr von seinem Wecker aus dem Schlaf gerissen worden. Nun war auch Fedor aus dem Tiefschlaf erwacht. Selbst wenn er sich durchaus einer pädagogischen Untat bewusst gewesen war, hatte Sorokin seinen Sohn in der Nacht mit reichlich Wodka ruhiggestellt. Fedor hatte es im Heulen fast zerrissen, als er sich im Bett liegend der Tragweite des grauenvollen Doppelmordes bewusst wurde.

»Papa?« Der Junge stand im Schlafanzug hinter dem Bürostuhl des Vaters und hielt sich an der hohen Lehne fest. »Was ist?«

»Bitte hör dir das an.« Sorokin zog den Sohn herum, der sich auf seinem Oberschenkel niederließ, und setzte ihm Kopfhörer auf.

Fedor lauschte. Ein Rauschen ertönte. Und dann die hässlich verzerrte Stimme: »Ich wollte nur sagen, es gab eine Schießerei. In der Südallee 17.« Wieder ein kurzes Rauschen. »Ich wollte nur sagen, es gab eine Schießerei. In der Südallee 17.« Mehrmals folgte der gleiche Wortlaut.

Dann nahm Sorokin dem Jungen die Kopfhörer ab. »Kennst du zufällig die Stimme?«, flüsterte er.

»Nein«, antwortete Fedor. »Muss ich sie kennen?«

Sorokin drückte den Jungen an sich. »Musst du nicht, mein Schatz.« Er dachte kurz nach. »Was meinst du, was für ein Mensch steckt hinter dieser Stimme?«

Nun setzte sich Fedor die Kopfhörer selbst auf und lauschte lange.

»Ich wollte nur sagen, es gab eine Schießerei. In der Südallee 17.«

Sorokin wartete geduldig. Als Fedor die Kopfhörer wieder absetzte, flüsterte er: »Ein Mann, ein Deutscher, schon etwas älter.«

»Sehr alt?«

»Nein.«

»Um die dreißig?«

»Älter.«

»Vierzig?«

»Vielleicht.«

»Hast du einen Dialekt erkannt?«

»Ich weiß nicht. Nur ... Ja. Der neue Bürgermeister redet so.«

»Der neue Bürgermeister? Welcher neue Bürgermeister?«

»Ein Grüner. Es kam in den Nachrichten.«

»Ein grüner Bürgermeister? Du meinst den Stuttgarter? Meinst du den Bürgermeister in Stuttgart?«

»Ja. Der ist doch von den Grünen?«

»Ist er. Und er redet schwäbisch. Der Anrufer hat also einen schwäbischen Dialekt?« Sorokin setzte sich selbst die Kopfhörer auf. So sehr er seine Ohren auch bemühte, er konnte weder das Alter des Anrufers nachvollziehen noch irgendeinen Dialekt in der Stimme erkennen.

»Ganz sicher?«

»Hm.« Der Junge blickte geradeaus, als könne er den Bildschirm des Computers sehen, vor dem beide saßen.

»Fedor, bist du dir ganz sicher?«

»Ja. Bin ich.«

»Okay.« Sorokin ließ den Sohn vom Schoß rutschen. »Zieh dich jetzt an und komm dann frühstücken.«

»Ich will duschen. Denkst du daran? In vier Stunden und zweiundzwanzig Minuten musst du mich bei Laura abgeben.«

»He, kleiner Mann«, Sorokin lachte und hielt den Jungen fest. »Du zählst die Zeit rückwärts?«

Fedors Gesicht errötete wieder einmal. »Natürlich nicht«, sagte er. »Ich will nur nicht, dass wir zu spät kommen.«

»Ich weiß, das wäre dir peinlich. Du bist eine richtige kleine Maus. Wir werden pünktlich sein. Versprochen!«

Während Fedor selbstsicher das Haus durchquerte und im Bad verschwand, telefonierte Sorokin erneut mit Hauptkommissar Hans Rattner.

»Es war definitiv kein Russe, der angerufen hat«, erklärte Sorokin. »Fedor würde das sofort hören.«

»Anatolij, hör zu, so weit sind unsere Techniker auch gekommen. Sie sagen, es wäre ein Sachse ...«

»Sie irren, er ist ein Schwabe!«, warf Sorokin ein.

»... zirka fünfzig Jahre ...«

»Nein. Um die vierzig!«

»Das hat dein Junge alles gehört? Unsere Spezialisten haben die ganze Nacht dazu gebraucht.«

»Habt ihr Smirnow ausfindig gemacht?«

»Ja, die russischen Behörden sprechen mit ihm. Wir wissen nur, dass er sich morgen mit dem Moskauer Bürgermeister trifft und dann zurückfliegt.«

»Er kommt nicht sofort?«

»Scheint so. Vielleicht hat er seine Gründe. Vielleicht will er Stärke beweisen?«

»›Vielleicht‹ ist weder ›Ja‹ noch ›Nein‹. – Gibt es neue Hinweise?«

»Nichts. Wir haben absolut nichts. Wir wissen ja nicht mal, ob der Anrufer überhaupt etwas mit der Tötung zu tun hatte. Die Schlösser im Haus waren ganz, keine Spur rings um das Haus. Selbst die Patronen, die bei beiden Opfern ausgetreten waren, sind verschwunden.«

»Er war es«, sagte Sorokin selbstsicher.

»Woher ...?«

»Der Anrufer war es. Ich fühle es. Und es war definitiv kein Russe, der angerufen hat. Das wissen wir jetzt.«

»Hat Smirnow Feinde? Hier?«

»Ich kenne Sergei, doch er ist keinesfalls mein Bruder. Das soll heißen, dass Sergei nicht all seine Geheimnisse mit mir teilen wird.« Zorn schwang in Sorokins Stimme mit. »Jedoch egal wer es war, der Junge und das Mädchen – sie haben nichts mit Sergeis beruflichen Aktivitäten zu tun. Wer immer das war, ich will ihn finden.« Eine kurze Pause entstand. »Warum nur gerade diese zwei jungen, wehrlosen und gutmütigen Menschen?«, brüllte er plötzlich.

Fedor stand in der Badtür. Er zitterte am ganzen Körper.

*

»Ich will allein hochgehen.« Fedor drückte fest die Hand des Vaters und schüttelte sie dann ab.

»Schick eine Nachricht, wann ich dich holen soll. Viel Spaß und bleib anständig.« Wie immer beim Abschied gab Sorokin seinem Sohn zwei Küsse auf die Wangen. Dann beobachtete er, dass der Junge den Blindenstock bis zur ersten Stufe einsetzte, das Geländer ergriff und von da an mit der Echoortung arbeitete. Auf dem ersten Treppenabsatz hielt Fedor inne und sagte: »Du kannst jetzt bitte gehen, Papa. Ich brauche keinen Babysitter.«

»Okay. Bin schon weg.« Sorokin machte kehrt. An der gläsernen Haustür standen die Namen der Bewohner. Es waren nur drei, wahrscheinlich sehr große Etagenwohnungen in diesem recht neu und kalt wirkenden Haus. In der dritten Etage wohnte Laura. Am oberen Namensschild stand der Name »Frank Sonberg«.

Auf dem Weg zum Wagen – Sorokin hatte sich gerade eine Zigarette angezündet – meldete sich sein Handy. Sergei!

*

Fedor stand unschlüssig vor der Wohnungstür. Er schnalzte so lange, bis er die Umrisse der Türzarge verinnerlicht hatte. Zeitig, in frühester Kindheit, hatte der Junge die aktive menschliche Echoortung, Klicksonar genannt, erlernt, wobei mit der Zunge ein dezenter Klicklaut einen Schall aussendete. Das von Gegenständen oder Hindernissen ausgehende Echo des Klicklautes wurde im visuellen Kortex seines Gehirns ausgewertet. Durch jahrelanges Training und aufgrund einer hohen Begabung war es Fedor gelungen, diese Echosignale von anderen akustischen Quellen zu unterscheiden. Sein Gehirn erzeugte durch die Echos einfache, jedoch brauchbare Bilder seiner Umgebung. Im Alter von neun Jahren hatte er dieses Verfahren bereits so verinnerlicht, dass er auch Echos fremder passiver Schallquellen intellektuell verarbeiten konnte. Diese vervollständigten das Gesamtbild seiner Umgebung. Mitunter sah der Junge eine ganze Straße bildlich vor sich, nur weil reichlich Lärm herrschte.

Nun tastete er die Tür ab. Sie war glatt und kühl, die Türklinke war aus Guss und verziert. Direkt darunter befanden sich gleich zwei Schlösser für schmale Schlüssel. An der rechten Türzarge fand er den Klingelknopf, rund, mit einem Druckknopf in der Mitte, alles verhältnismäßig hoch angebracht. Darüber ein flaches glattes Schild, in das ein Name eingraviert war. Mit den Fingern las Fedor die Gravur einer geschwungenen Schrift: »Frank Sonberg«.

Fedor zog die Hose zurecht und holte tief Luft, dann drückte er kurz auf den Klingelknopf. Ein sanftes Gong-Gong-Läuten erklang.

An den Schritten hinter der Tür erkannte der Junge, dass sich die Mutter von Laura näherte, die Tür von innen zweimal aufschloss und diese anschließend erst ein Stückchen und dann ganz öffnete.

»Ah, da ist ja unser kleiner Star!« Sie hielt Fedor die rechte Hand hin, der seine gleichsam anhob und nach der ersten Berührung zugriff.

»Guten Tag, Frau Sonberg«, sagte Fedor mit einer leichten Verbeugung. »Vielen Dank für die Einladung.«

»Komm doch rein. – Aber pass auf, da ist eine Stufe.«

Lächelnd betrat Fedor den Flur. »Ich weiß, dass da eine flache Stufe ist.« Es machte fast den Eindruck, als würde sich Fedor umsehen. »Sie haben eine sehr schöne, große Wohnung.«

Ein wenig staunte die Dame. »Woher weißt du das? Ich denke, du bist ...«

»... blind. Natürlich bin ich blind. Wissen Sie, Fledermäuse sind auch ziemlich blind. Und trotzdem fliegen sie nie gegen eine Wand. Ich sehe so, wie es die Fledermäuse tun. Oder die Delfine, die machen das auch so. Soll ich es beweisen?« Fedors Zunge klickte einige Male. »Dort steht ein großer Schrank.« Er zeigte auf einen Kleiderschrank. »Da ist ein Kleiderständer. – Dort eine Tür, dort eine schmalere Tür und ... Hallo Laura, da bist du ja.« Zielgerichtet ging Fedor auf die Stelle zu, von der er glaubte, dass Laura dort stehen würde. Er hörte ihren Atem, kannte ihren dezenten Parfümgeruch und wusste, wie groß sie war.

»He Fedor.« Laura warf der Mutter einen jener Teenie-Blicke zu, die Eltern verschwinden lassen konnten, ergriff Fedors Hand und zog ihn mit sich. »Soll ich dich in der Wohnung rumführen?« Bevor der Junge etwas sagen konnte, begann die Führung. »Also: Hier ist die erste Toilette mit dem einen Bad. Auf der anderen Seite die zweite. – Das ist unser Wohnzimmer. Wir haben einen riesigen Fernseher. Hier geht es zum Balkon, der um das ganze Haus führt. – Da ist mein Zimmer, da gehen wir gleich hin. Hier ist ein Gästezimmer für die bucklige Verwandtschaft. Und hier«, Laura öffnete eine Tür und schob Fedor in ein Zimmer, »ist das Arbeitszimmer meines Vaters. Eigentlich darf ich hier nicht rein. Er kommt gleich, hatte noch einen Termin.«

Fedor wollte das Zimmer bereits verlassen, als er plötzlich innehielt. Er sog die Luft in sich ein. »Was riecht hier so?«, flüsterte er.

»Riecht? Ich rieche nichts«, antwortete Laura. »Vielleicht meinst du seine Zigarren? Manchmal raucht er hier Zigarre.«

»Ich rieche das. Vanille. Also Tabak und Vanille«, flüsterte Fedor. Ein Schaudern ging durch seinen Körper. »Welche Sorte raucht er denn?«

»Es sind immer die gleichen Zigarren. Warte mal.« Laura ging zum Schreibtisch des Vaters. »Hier ist eine Schachtel. Die Dinger heißen ›Independence‹ und dann steht da noch ›Xtreme Vanilla‹.« Sie lief rasch zurück zur Tür und schnüffelte. »Stimmt. Vanille ist mit drin. Los, komm, wir gehen in mein Zimmer.«

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