Gefallener Mond

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»Du kannst jederzeit zurückkehren«, sagte Anna, »aber ich helfe dir kein zweites Mal heraus.«

Mimi schüttelte sich vor Lachen und sprang vom Tisch. »Ich wäre reif für den Gerichtssaal. Mimi, die Anwältin. Bluffen könnte ich ausgezeichnet.« Sie nahm Annas Oberarme und drückte sie sanft. »Du weißt, dass ich alles für dich täte.«

»Jemand ist mir gefolgt.«

»Warum?«, fragte Mimi, »und wer?«

Anna zuckte mit den Schultern.

»Macht dir dein Verfolger Angst?«

Anna schüttelte den Kopf. »Ich mag es nicht, wenn ich Situationen nicht analysieren kann.«

»Jetzt bluffst du schon wieder.«

»Warum sollte ich?«

Mimi schüttelte den Kopf. »Manchmal glaube ich, dich zu kennen, um im nächsten Moment vor Augen geführt zu bekommen, dass ich das ebenso wenig tue wie irgendjemand sonst. Trotzdem machst du nichts ohne Grund. Warum bist du tatsächlich gekommen?«

»Du bist mir noch einen Gefallen schuldig«, sagte Anna.

»Einen?«, fragte Mimi lächelnd. »Eher tausend. Hilft dir das Kennzeichen?«

»Natürlich«, antwortete Anna.

»Vielleicht wartet dein Schatten in der Nähe. Was für ein Wagen war es?«

»Ich tippe auf Touareg.«

»Ich werde jemanden losschicken«, sagte Mimi, »vielleicht ist dein Verfolger so unvorsichtig und parkt in der Nähe. Ein Wort von mir und einer unserer Aufpasser nimmt sich deinen Stalker zur Brust. Wenn er ein wenig nachhilft, weiß ich noch heute Nacht seinen Namen.«

»Ich arbeite nicht mit solchen Mitteln.«

»Auch Anwälte überschreiten Grenzen. Der einzige Unterschied zwischen euch Rechtsverdrehern und uns Sterblichen ist doch, dass ihr immer wisst, wann ihr sie überschreitet.«

»Das ist nicht meine Art, Probleme zu lösen.«

»Manchmal ist es aber einfacher, ein wenig nachzuhelfen.«

»Da gebe ich dir Recht. Aber vorerst muss ich lediglich wissen, ob mir tatsächlich jemand folgt.«

»Und wie willst du das anstellen?«

»Warum bin ich wohl ausgerechnet zu dir gekommen?«, fragte Anna.

Mimi grinste. »Ich soll wieder einmal Anna spielen?«

Anna nickte.

»Was hättest du gemacht, wenn ich mir die Haare abgeschnitten und zwanzig Kilo zugenommen hätte?«, fragte Mimi, »wir haben uns seit einem halben Jahr nicht gesehen.«

»Ich hätte eine andere Lösung gefunden.«

»Führst du andere gerne hinters Licht?«

»Von Zeit zu Zeit greifen wir Anwälte auf Blendung und Täuschung zurück, um unsere Ziele zu erreichen.«

Mimi runzelte die Stirn. »Von Zeit zu Zeit?«

»Welche Vorstellung hast du von meinem Beruf?«

»Du hast mir ein ziemlich klares Bild vermittelt«, sagte Mimi, »wo steht dein Auto?«

»Halte dich links, keine hundert Meter entfernt.«

»Fährst du noch immer die alte Schüssel?«

»Ein Auto muss nicht mehr als fahren.«

Mimi schüttelte den Kopf. »Wenn Alex zu alt für mich ist, ist dein Albtraumauto zu alt für dich. Was außer deiner Arbeit hat für dich einen Stellenwert?«

»Ist das nicht genug?«

Mimi verdrehte die Augen. »Life is fun, echt.«

»Nicht immer und nicht für jeden.«

»Die Jahre auf der Straße waren wirklich scheiße und sonst gar nichts. Dank dir habe ich es geschafft, von dort wegzukommen. Wie vielen außer mir hast du schon geholfen? Du hättest dir ab und zu ein wenig Spaß verdient.«

»Auch Arbeit kann Spaß machen.«

»Aber doch nicht deine«, sagte Mimi und zündete sich die nächste Zigarette an. »Auch ich liebe das Tel Aviv. Aber manchmal finde ich die Typen, die hier aufkreuzen, einfach nur zum Kotzen. Vor allem, wenn ich sie morgens um vier betrunken aus dem Lokal schleppen muss.«

Anna warf einen Blick auf ihre Uhr. »Ich bin schon zu lange weg. Nimm einen letzten Drink an der Bar. Dann setz dich in mein Auto und fahr zu dir. Ich nehme den Hinterausgang und deinen Wagen. Ich hole mein Auto morgen mit dem Taxi. Versteck die Schlüssel am gewohnten Ort. Du weißt, wie du in meine Garage kommst.«

»Du willst offenbar um jeden Preis verhindern, dass dein Verfolger weiß, wo du wohnst«, stellte Mimi fest.

»Nach wie vor ist meine Wohnung für viele meiner Klientinnen der einzig sichere Ort. Solange ich nicht weiß, warum mir jemand folgt und wer es ist, gehe ich kein Risiko ein.«

Mimi nickte. »Gut, dass sich unsere Fahrweisen nicht gleichen. Bis ich bei meiner Wohnung bin, habe ich deinen Verfolger längst abgeschüttelt.«

»Ich weiß«, antwortete Anna lächelnd, »ein weiterer Grund, genau dich um Hilfe zu bitten.«

Mimi grinste und zog ihr rückenfreies Shirt über den Kopf.

»Ich habe ein Tonic bestellt. Dein zukünftiger Nachbar hat schon ein paar Bier intus«, sagte Anna.

»Glaubst du, da draußen passiert etwas, ohne dass ich es weiß?«

»Du solltest ihn nicht mehr warten lassen«, sagte Anna. »Wir sind übrigens schon per Du.«

»Widerlich«, sagte Mimi.

»Aufdringlich trifft es besser«, sagte Anna.

»Wenn er seine Hand auf mein Knie legt, war er das letzte Mal im Tel Aviv«, sagte Mimi und schlüpfte in Annas Hose. Sie passte wie angegossen. »Fahr los. Wahrscheinlich wartet morgen wieder ein Sechzehn-Stunden-Tag auf dich.«

»Eher achtzehn«, antwortete Anna, während sie sich im Spiegel betrachtete. Sie musste sich eingestehen, dass schwarze Latexhosen und ein rückenfreies Top durchaus ihren Reiz hatten. »Danke«, sagte Anna und umarmte Mimi zum Abschied.

»So schnell wird man Anwältin«, sagte Mimi, bevor sie ihr Büro verließ.

7
DIENSTAG

Die roten Punkte der Tasse leuchteten im Neonlicht. Als der Kessel pfiff, griff Anna danach und übergoss die Teeblätter mit kochendem Wasser. Das Aroma von schwarzem Darjeeling füllte ihre Nase, während sie ihre Handflächen am aufsteigenden Dampf wärmte. Das Thermometer vor dem Küchenfenster zeigte drei Grad über Null. Die kahlen Äste der japanischen Kirschbäume bewegten sich rhythmisch im Wind. Zu ihren Füßen drückte ein einzelner Fußgänger seinen Hut auf den Kopf und umschlang den Kragen seines Mantels. Nachdem Anna vergeblich die Straße nach parkenden Geländewagen abgesucht hatte, stellte sie die halb geleerte Tasse neben die Spüle und wischte Krümel ihres gestrigen Abendessens von der Arbeitsfläche. Wenn sie sich weiter von Knäckebrot mit Butter ernährte, würde sie in Kürze neue Hosen besorgen müssen.

Am Weg zur Wohnungstür flocht sie ihre Haare zu einem Zopf, stülpte ein rotes Gummiband über das Ende und fischte ihre Jacke vom Garderobenhaken. Während sie die Laufschuhe schnürte, drangen die Goldberg-Variationen aus ihren Kopfhörern. Anna zog den Reißverschluss bis unter das Kinn und Handschuhe über und lief die Stiegen fast geräuschlos nach unten. Als sie das Haustor öffnete, riss der Wind an ihrer Mütze. Anna zog sie tiefer in die Stirn, trocknete ihre tränenden Augen und legte die wenigen Straßen bis zum Radweg am Ufer des Donaukanales in lockerem Trab zurück. Ohne den Schutz der Häuser verstärkte sich der Wind zum Sturm und sie hatte Mühe, ihren gewohnten Rhythmus zu finden. Ihre Freundinnen verstanden nicht, warum sie sich jeden Morgen aus dem Bett quälte, um eine Stunde durch das verschlafene Wien zu laufen. Ihr Vater sorgte sich, ob sie unbeschadet zurückkäme und hätte ihr am liebsten einen Hund geschenkt. Doch Anna brauchte diese Stunde der Einsamkeit, in der ihre Fälle weit hinter ihr blieben. Nur in dieser Stunde hatte sie die Möglichkeit, die Jahreszeiten zu verfolgen. Es war die einzige Stunde des Tages, in der sie nur an sich denken konnte. Oder nicht denken konnte. Es war ihre ganz persönliche Stunde.

Als Anna sich vom Stadtzentrum entfernte, kam ihr ein einsamer Läufer entgegen. Stumm nickten sich die beiden zu und Anna schaute auf ihre Armbanduhr. Ihr blieben fünf Minuten, bevor sie ihren gewohnten Wendepunkt erreichte. Da ihre Lungen von der ungewohnt kalten Luft schmerzten und ihre Haut brannte, entschied sie, früher umzukehren, zumal sie den Umweg über Mimis Wohnung einberechnen musste. Noch in der Nacht hatte ihre Freundin ihr mitgeteilt, dass ihr kein Wagen gefolgt war. Hatte sie sich alles nur eingebildet? Hatte der Fahrer einfach dieselbe Route genommen? Mimi hatte nach dem Warum gefragt. Lag der Grund in einem lange zurückliegenden Fall, oder ließ Tolstunov sie beschatten? War es möglich, dass er bereits wusste, dass Julia sie aufgesucht hatte?

Anna bemerkte den entgegenkommenden Läufer erst, als sie mit ihm zusammenprallte. Zu spät versuchte sie, ihren Kopf zu heben, doch da drückte sein Schlüsselbein bereits gegen ihren Hinterkopf. Er hielt sie an den Oberarmen, um sie beide am Fallen zu hindern.

»Ich habe nicht aufgepasst«, sagte Anna.

Der Wind war zu laut um seine Antwort zu verstehen.

»Es tut mir leid«, rief sie einem Rücken in einer dunklen Jacke zu, die in der Dunkelheit verschwand. Als Anna den ersten Schritt machte, fuhr der Wind ungeschützt über ihren Kopf. Ihre Mütze lag am Wegrand auf einem Haufen Laub und sie bückte sich danach. Der Stoff war feucht und nasse Blätter klebten daran. Als Anna sie überzog, bemerkte sie, dass sich auch ihr Zopf gelöst hatte. Sie suchte den Boden nach dem roten Gummiband ab, doch sie konnte es nicht entdecken. Nachdenklich drehte sie sich noch einmal um. Der andere Läufer war verschwunden und Kälte drang durch den Stoff ihrer Laufhose. Anna setzte sich in Bewegung und wechselte von den Goldberg-Variationen zu Michael Jackson. Sie musste sich beeilen, wenn sie es pünktlich ins Büro schaffen wollte.

8

Anna trat aus der Tiefgarage ins Freie. Noch zwei Querstraßen bis zur Kanzlei, noch eine halbe Stunde bis zu ihrem ersten Termin. Der Wind hatte an Stärke zugenommen und wirbelte Blätter auf. Am Horizont färbte ein fahler Streifen den Himmel. Anna bedauerte, dass sie den Lauf der Sonne nicht auf einem hohen Berg über der Baumgrenze verfolgen konnte. Untertags leuchtete das Gelb durch die verspiegelten Scheiben ihrer Bürofenster kraftlos und trüb, während das Abendlila matt statt zärtlich schimmerte. Am Ende eines Arbeitstages verhinderten die Dächer der umliegenden Hochhäuser, dass sie die Sonne als rot glühenden Ball versinken sah. Statt tausender Sterne erhellten Neonbuchstaben den Nachthimmel. Anna hätte viel dafür gegeben, für einen Tag auszubrechen und auf einem warmen Stein den Geräuschen des Waldes zu lauschen. Stattdessen hielt sie wie jeden Morgen an dem kleinen Kiosk, den ein Inder mit seiner Frau betrieb.

 

»Sie kommen heute spät«, sagte er und streckte ihr einen Becher entgegen.

»Ich wurde aufgehalten«, antwortete Anna.

»Ein Mann?« Als er lächelte, hoben sich seine weißen Zähne deutlich von der braunen Haut ab.

Anna nickte und reichte ihm die Münzen, die sie sich zurechtgelegt hatte.

»Er tut Ihnen nicht gut«, sagte er.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sie sehen nicht glücklich aus«, sagte der Inder.

»Ein Croissant«, sagte Anna und durchsuchte ihre Handtasche nach weiteren Münzen.

»Geht aufs Haus«, sagte der Inder. »Das ist das erste Mal seit ich eröffnet habe, dass Sie mehr als einen Kaffee möchten. Lassen Sie es sich schmecken. Die Croissants sind gut. Der Kuchen ist noch besser. Meine Frau bäckt ihn frisch. Seit drei Jahren macht sie das jede Nacht. Nächste Woche ist ihr Geburtstag, da gibt es den Kaffee zum halben Preis und gratis Kuchen für alle.«

»Ich kann mich noch an den Tag der Eröffnung erinnern«, sagte Anna. »Sie haben zehn Minuten mit der Maschine gekämpft.«

»Trotzdem sind Sie wiedergekommen. Sie waren meine zweite Kundin«, antwortete er, »auch ich kann mich gut erinnern. Damals waren Ihre Haare kürzer und Sie waren nicht so dünn wie jetzt. Zu wenig Croissants«, fügte er lächelnd hinzu.

»Haben Sie jemals daran gedacht, ein Restaurant zu eröffnen?«, fragte Anna und nippte an der Flüssigkeit. Sie war heiß und süß.

»Ich denke jeden Tag daran, aber es wird immer ein Traum bleiben.«

»Wenn Sie etwas Passendes finden, sagen Sie Bescheid«, meinte Anna. »Ich helfe gerne.«

»Ich weiß nicht, ob ich mir Ihr Honorar leisten kann«, gab der Inder zu Bedenken.

»Anwälte können auch in Naturalien bezahlt werden.«

»Sie meinen, die Rechtsanwältin Anna kann in Naturalien bezahlt werden?«, fragte er lächelnd.

Anna lächelte zurück. »Einen schönen Tag noch«, sagte sie, während sie sich umdrehte. Der Inder kannte seine Träume. Hätte jemand sie nach ihren gefragt, hätte sie keine Antwort geben können. In einem renovierten Bauernhaus Kinder im Grünen aufwachsen sehen, wie Lukas vorgeschlagen hatte? Wohl kaum. Skifahren an einem einsamen Ort in den Alpen? Ebenso wenig. Lena Hofstetters Vergewaltiger vor Gericht sehen? Wahrscheinlich hätte ihre Antwort so ähnlich gelautet. Sie blieb nachdenklich vor einem Bürogebäude stehen und nippte an ihrem Kaffee. Er war erkaltet und sie warf den Becher in einen Abfalleimer. Warum musste sie ständig an das Mädchen denken? Auf dem Papier unterschied sich der Fall nicht von anderen, die sie in den vergangenen zehn Jahren übernommen hatte. Sie hatte wenige Anhaltspunkte, doch das war keine Seltenheit. Der Fall warf eine Menge Fragen auf, doch das taten viele und es war Annas Aufgabe, sie zu beantworten. Waren es die Begleitumstände, die sie irritierten? War der Zusammenstoß heute Morgen auf der Laufrunde kein Zufall gewesen? Hatte der andere Läufer auf sie gewartet? Hatte er absichtlich ihre Mütze vom Kopf gezogen? Anna wischte ein Blatt von der Stirn und fuhr sich durch die Haare. War es ein Reflex oder liebte sie es, die Strähnen durch die Finger gleiten zu lassen? Welche Bedeutung spielten Lenas Haare für den Täter? Behielt er sie als Schmuck oder waren sie seine Trophäe? Waren sie eine Spur, der Anna bloß zu folgen brauchte? Sie betrat das Gebäude. Es war Zeit, in den sechsten Stock zu fahren und offene Fragen zu beantworten.

9

Ihre Haare sind heller als meine und flattern, als sie aufsteht und auf uns zukommt. Mama hat mir gerne Zöpfe geflochten. Ich habe sie lieber offen getragen.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagt die Frau und lächelt Mama an. Sie steckt eine Strähne hinters Ohr, wie ich das oft gemacht habe. Sie lutscht sicher nicht an ihren Haaren, wenn sie Angst hat. Vielleicht wickelt sie die Strähnen auch um den Finger, wenn sie nachdenkt. Ich habe meine jeden Tag gewaschen. Nun sind meine langen Haare fort.

»Es war die richtige Entscheidung, Lena mitzubringen.«

»Es war keine leichte Entscheidung«, sagt Mama.

Ich wollte nicht hierher kommen. Ich habe mich unter der Decke versteckt. Mama hat gesagt, dass wir zu Frau Doktor Walter gehen. Sie sei Anwältin. Weil ich mich nicht anziehen und im Bett bleiben wollte, hatte Mama keine Zeit mehr, mir zu erklären, was eine Anwältin macht. Ich habe verstanden, dass sie mir irgendwie helfen will. Ist sie so etwas wie eine Ärztin? Muss ich mich hier ausziehen? Ich will das nicht. Vielleicht muss ich ja nur die Zunge weit hinausstrecken und sie hält diese Metallknöpfe an meine Brust.

»Ich bin Anna«, sagt sie und streckt mir die Hand entgegen.

Ich schaue Mama an. Muss ich der Frau die Hand geben? Sie wirkt nett, aber ich will niemanden berühren. Ich will auch nicht, dass jemand mich berührt. Bei Mama ist das ok. Aber auch erst jetzt. Am Anfang hatte ich sogar vor ihr Angst. Mama sagt nichts. Ich verschränke die Arme hinter dem Rücken und gehe einen Schritt zurück.

»Das ist mein Büro«, sagt Anna.

Ich bin froh, dass sie nicht böse ist, weil ich ihre Hand nicht nehmen wollte. Ich möchte nach Hause gehen und wieder unter meine Bettdecke kriechen. Dort bin ich sicher. Anna schaut mich an. Ihre Augen sind grün und obwohl sie lächelt, machen sie mir irgendwie Angst. Ich kann nicht erklären, warum. Omas Katze schaut mich manchmal ähnlich an, aber ihre Augen sind bernsteinfarben. Als würden mich die beiden verstehen. Als wüssten sie, was ich denke.

»Du würdest jetzt sicher lieber zu Hause sein …«, sagt Anna.

Kann sie tatsächlich meine Gedanken lesen? Ich gehe noch einen Schritt zurück.

»… aber es wird nicht lange dauern. Ich möchte mich gerne mit deiner Mutter und dir unterhalten.«

Unterhalten tut nicht weh. Unterhalten ist in Ordnung. Aber ich werde nichts sagen.

»Ich möchte Ihnen noch ein paar Fragen stellen, bevor ich mit Lena spreche.« Anna deutet auf die Couch. Mama setzt sich und klopft auf das Sofa. Es wirkt bequem, trotzdem bleibe ich stehen. Ich muss abwarten, was passiert, bevor ich entscheide, ob ich mich setze.

»Meine Sekretärin heißt Susanne«, sagt Anna, »möchtest du vielleicht draußen warten und mit ihr etwas zeichnen?«

Ich schüttle den Kopf. Ich will nicht bei Susanne bleiben. Ich kenne sie nicht. Bei Susanne bleiben ist auch nicht besser als alleine bleiben. Ich will nie mehr alleine bleiben. Es macht mir Angst.

»Komm zu mir«, sagt Mama.

Ich setzte mich auf den Boden. Ich werde nie wieder das machen, was andere von mir wollen. Ich habe alles getan, was er von mir wollte. Trotzdem hat er mir wehgetan.

Anna holt einen Block von ihrem Schreibtisch. Die hübschen Frauen in den Zeitschriften tragen manchmal Hosenanzüge wie die Anwältin. Elegant nennt Mama das. Als sie wieder näher kommt, sehe ich, dass sie keinen Block, sondern eine Art Mappe hält. Vorne stehen zwei Worte darauf, aber ich kann sie nicht lesen. Anna setzt sich und legt die Mappe auf den Glastisch vor sich. Mama zupft an ihrem Strickkleid, als hätte sie tausend Fusseln darauf. Papa hat es ihr geschenkt. Vorne am Bauch ist ein Fleck, genau auf Mamas Nabel. Ich habe Mama gestoßen und sie hat Kaffee verschüttet. Der Fleck lässt sich nicht mehr auswaschen. Aber Mama will das Kleid behalten, weil es sie an Papa erinnert.

»Ich brauche mehr Informationen über Maxim«, sagt Anna.

»Ich weiß nicht viel«, antwortet Mama.

Ich kaue an der Haut auf meinen Fingerkuppen. Meine Nägel sind schon so klein, dass ich sie mit meinen Zähnen nicht mehr erreichen kann. Als ich fest zubeiße, kommt ein wenig Blut heraus. Ich lecke daran.

»Wie haben Sie Maxim kennengelernt?«, fragt Anna.

»Er ist ab und zu in das Lokal gekommen, in dem ich arbeite. Wir haben ein paar Worte gewechselt. Manchmal hat er mich auf ein Getränk eingeladen.«

Warum reden Anna und Mama über Maxim? Anna kann keine Ärztin sein. Ärzte stellen andere Fragen. Und die Räume bei Ärzten sehen anders aus.

»Wann und wie hat sich Ihre Beziehung verändert?«

»Es war Sommer, Ende August oder Anfang September. Ich hatte Pause und habe im Schatten eines Baumes eine Zigarette geraucht. Er hat sich einfach neben mich gestellt, mir zugesehen und von seiner Tochter erzählt. Sie hatte ihren ersten Tag im Kindergarten. Er hat mir das Kleid beschrieben, das er ihr gekauft hat und die Kindergartentante imitiert. Eine richtige alte Jungfer. Er hat mich zum Lachen gebracht.«

Wieso hat Mama nie erzählt, dass Maxim eine Tochter hat? Ich hätte ihn doch fragen können, ob ich mit ihr spielen darf. Sie hat sicher ein Zimmer voller Puppen und einen kleinen Herd und ein Bett voller Stofftiere und ganz viele Bücher. Maxim hat mir einen Hasen geschenkt, ich habe ihn Bernard getauft. Eigentlich ist Bernard eine Maus, aber der Name war genau richtig. Weil auch der Hase einen dicken Bauch und große Augen hat. Ich schlafe jede Nacht mit Bernard ein. Jetzt schläft er in Mamas Tasche. Ich wollte ihn nicht alleine lassen. Vielleicht hat ja auch er Angst, wenn niemand bei ihm ist.

»Was wissen Sie über seine Tochter?«

»Das war das einzige Mal, dass er sie erwähnt hat. Ich weiß nichts Näheres über sie. In seiner Brieftasche war nicht einmal ein Foto von ihr. Nur eines von seiner Frau. Sie hat Mandelaugen und hohe Wangenknochen.«

»Eine Asiatin?«

Mama schüttelt den Kopf. »Sie heißt Sascha und kommt aus Sibirien. Er hat mir erzählt, dass sie ihm gehört.«

»Was hat er damit gemeint?«, fragt Anna.

Wer ist Sascha? Wo liegt Sibirien? Mama zupft noch immer an ihrem Kleid. Wenn sie nicht bald aufhört, ist es kaputt. Ich robbe am Sofa entlang und setzte mich neben sie.

»Was macht Maxim beruflich?«

»Zwei Stammkunden im Lokal haben sich über ihn unterhalten. Er macht große Geschäfte. Irgendetwas mit dem ehemaligen Osten. Russland, glaube ich.«

»Wissen Sie Näheres?«

»Er selbst hat nie darüber gesprochen.«

Das Gespräch macht müde. Ich will nach Hause. Ich ziehe an Mamas Kleid, aber sie klopft mir auf die Finger und zischt. Das macht sie nur, wenn sie schrecklich ärgerlich ist. Jetzt würde ich doch lieber etwas malen.

»Siehst du den Stapel Papier auf meinem Schreibtisch?«, fragt Anna, »nimm dir ein Blatt. Such dir Stifte aus. Du darfst jeden verwenden.«

Sie kann wirklich meine Gedanken lesen. Wie macht sie das? Weiß sie alles, was in meinem Kopf ist? Weiß sie auch, was er mit mir gemacht hat?

»Bleib ruhig sitzen«, sagt Mama. Anna schüttelt den Kopf und schaut Mama streng an. Auch Mama scheint von ihren Augen beeindruckt zu sein. Vielleicht kann Anna mir wirklich helfen. Ich glaube, sie bekommt, was sie will. Das würde ich auch gerne können. Bei mir klappt das fast nie. Ich stehe auf und suche mir einen blauen Filzstift aus. Anna lächelt, als ich ihn ihr zeige.

»Wann haben Sie ihm von Lena erzählt?«, fragt Anna.

»Kenne Sie diese Tage, an denen einfach alles schief geht?«, fragt Mama.

Ich lege mich auf den Boden. Der Teppich ist weich und riecht nach Zitrone. Nicht wie der alte Teppich in unserem Wohnzimmer. Ich lege meine Wange darauf.

»Lena war krank«, sagt Mama, »ich musste ständig an sie denken und habe mich bei Bestellungen geirrt. Mein Chef hatte mich verwarnt. Ich war verzweifelt. Maxim hat mir zugehört, als wäre er tatsächlich interessiert. Ich habe ihm ein Foto gezeigt.«

»Wie ist daraus mehr geworden?«, fragt Anna.

»Es war ein paar Tage später. Ich hatte Dienstschluss. Er stand mit einem Strauß Rosen vor dem Lokal. Wir fuhren zu mir. Er hatte für Lena diesen Stoffhasen gekauft. Sie schläft seither nicht mehr ohne ihn.«

»Hat er Lena regelmäßig Geschenke gemacht?«

»Er hat ihr oft etwas mitgebracht. Eine Puppe, um die sie ihn gebeten hatte. Halsketten. Malsachen. Er war ihr Held.«

 

Ist das schlecht? Mama hat so viel von Maxim geredet. Sie hat gesagt, ich müsste ganz brav sein, dann würde er wiederkommen. Er war jede Woche bei uns. Warum erzählt Mama der Anwältin nicht, dass er wiedergekommen ist, weil ich ein braves Mädchen war?

»Hat er ihr Kleidung geschenkt? Unterwäsche? Schminksachen?«, fragt Anna.

»Ich glaube nicht. Aber manche Dinge habe ich erst später gefunden. Lena hat sie unter ihrem Bett versteckt. Ich kann mich an ein Kleid aus echter Seide erinnern. Er war wunderschön, wenn auch viel zu teuer für ein Kind.«

Ich höre zu und male. Eigentlich höre ich mehr zu. Ich verstehe nicht, warum Anna so viele Fragen stellt. Warum reden sie über das Kleid, das Maxim mir geschenkt hat? Das ist doch schon so lange her. Endlich hat Mama aufgehört, an ihrem Kleid zu zupfen. Stattdessen streicht sie mit ihrer Hand über die Couch. Vor und zurück. Vor und zurück. Ich schaue auf meine Zeichnung. Das Auge fehlt noch.

»War er jemals alleine mit Lena in der Wohnung?«

»Das habe ich Ihnen doch schon beantwortet«, höre ich Mama sagen.

Ich will nicht mehr an diesen Abend denken. Maxim war in Mamas Schlafzimmer und hat etwas in der Kommode gesucht. Ich darf dort nichts anfassen. Maxim hat geglaubt, ich würde schlafen. Aber ich wollte nicht schlafen, ich wollte mit ihm spielen. Er hat nicht bemerkt, dass ich mich hinter der Tür versteckt habe. Der Boden war kalt und ich musste niesen. Als Maxim sich umgedreht und mich entdeckt hat, ist er furchtbar böse geworden und hat mich angeschrien. Er ist mir nachgelaufen und ich habe mich unter meinem Bett verkrochen. Ich wollte nicht herauskommen. Nicht, wenn er so zornig ist. Er hat gesagt, er würde nie wiederkommen, wenn ich unter dem Bett bliebe. Er hat nach mir gegriffen, als ich herausgerobbt bin, doch ich war schneller und bin unter die Decke geschlüpft. Er hat gesagt, er würde mir noch einmal verzeihen, wenn ich Mama nichts davon erzähle. Ich habe Maxim nicht verraten.

»Auch vor Gericht werden Sie manche Fragen mehrmals beantworten müssen«, sagt Anna. »Sie sind meine einzige Zeugin. Es darf keine Zweifel an der Richtigkeit Ihrer Aussagen geben.«

»Ich bekomme das hin. Sie können sich auf mich verlassen«, sagt Mama.

»Haben Sie für Lena einen Termin mit Doktor Reisinger vereinbart?«

Wer ist Doktor Reisinger? Müssen wir dort auch hin?

»Noch nicht.«

»Warten Sie nicht länger«, sagt Anna.

Mama nickt. Anna kommt zu mir. »Ich bin Rechtsanwältin und möchte dir helfen«, sagt sie.

Ich nicke.

»Ich würde gerne wissen, was passiert ist«, sagt Anna.

Ich habe schon einmal jemand mit so grünen Augen gesehen, doch Annas Augen sind freundlicher.

»Ich kann dir nur helfen, wenn du mir hilfst«, sagt Anna.

Ihre Haare müssen sich so anfühlen, wie meine sich angefühlt haben. Ich spüre, wie meine Lippen zu zittern beginnen und presse sie aufeinander. Ich will jetzt nicht weinen. Ich will Anna zeigen, dass ich tapfer und stark bin. Ich möchte, dass sie stolz auf mich ist.

»Ist es einfacher zu zeichnen, als zu sprechen?«

Sie weiß tatsächlich alles. Ich nicke.

»Hast du mir ein Bild gemalt, damit ich sehe, was du gesehen hast?«

Ich nicke.

»Zeigst du mir, was du gemalt hast?«, fragt sie.

Anna wird wissen, was ich gezeichnet habe. Papa hat einmal gesagt, dass Träume verschwinden können, wenn man ein Bild von ihnen malt, weil man sie dann von der Traumwelt in die echte Welt holt. Ich träume immer noch von ihm, jede Nacht. Ich schiebe das Blatt ein kleines bisschen in Annas Richtung, aber ich halte noch meine Hand darauf.

»Ich würde dein Bild gerne sehen«, sagt Anna.

Ich schaue sie an. Sie lächelt. Ich glaube, ich kann ihr vertrauen. Ich schiebe das Blatt ein weiteres Stück zu ihr und ziehe meine Hand fort. Anna nimmt mein Bild und schaut es lange an. Er ist gut gelungen, vor allem das Auge. Vielleicht ist der Mund ein bisschen zu klein.

»Darf ich die Zeichnung behalten?«, fragt Anna.

Ich nicke.

»Du kannst gut zeichnen«, sagt sie.

Ich stehe auf, gehe zu Mama und nehme ihre Hand. Ich will nicht mehr hierbleiben, schreie ich in meinem Kopf, ich will in mein Bett, ich will die Augen zumachen, ich will nicht mehr an ihn denken, ich will, dass alles so wird, wie es einmal war. Anna schaut die Zeichnung an und Mama zupft schon wieder an ihrem Kleid. Warum ist das passiert, warum war ich dort, warum hat er das mit mir gemacht, warum hat er mir wehgetan, schreie ich Mama an, aber sie reagiert nicht. Ich brülle so laut, dass ich schon ganz heiser bin, ich schreie und schreie, am liebsten würde ich mit den Fäusten gegen die Wand trommeln, vielleicht hört sie mir dann zu. Ich schreie und meine Stimme hallt so laut in meinem Kopf, dass ich glaube, er müsste zerspringen. Warum kann sie mich nicht hören?

Anna lehnte im Türrahmen und schüttelte den Kopf: »Ich will in den nächsten zehn Minuten nicht gestört werden«, sagte sie.

Susanne zuckte mit den Schultern und legte den Stapel Akte zurück auf den Schreibtisch. »Weil …?«

»Ich muss in Ruhe ein paar Informationen einholen.«

»Kommst du in Lenas Fall voran?«

»Es geht nicht um Lena.«

»Sondern?«

»Um Lukas.«

»Warum brauchst du Informationen über Lukas?«, fragte Susanne verwundert.

»Ich muss wissen, ob ich ihm vertrauen kann.«

»Kann ich dir dabei behilflich sein? Ich bin geübter bei Internetrecherchen als du.«

Anna schüttelte erneut den Kopf. »Eine Studienkollegin arbeitet in derselben Kanzlei, in der Lukas früher tätig war.«

»Du weißt sicher, was du tust«, sagte Susanne, »wie ist es mit dem Mädchen gelaufen?«

»Schwierig«, antwortete Anna, »malt dein Sohn gerne?«

»Was hat Nils damit zu tun?«, fragte Susanne und lächelte das Foto ihres Sohnes auf dem Schreibtisch an. »Seine Gemälde ähneln dem im Foyer.«

Anna musste lachen. »Das ist ein Miró.«

»Sollte mir der Name etwas sagen?«

»Eigentlich ja«, antwortete Anna.

»Ich habe es nicht so mit der Kunst«, meinte Susanne.

»Malt Nils abstrakt?«

Susanne zuckte mit den Schultern. »Er sieht in seinen Klecksen Hunde, in seinen Strichen Häuser und in seinen Punkten Bienenschwärme. Ich habe die Versuche aufgegeben, etwas deuten zu wollen, um ihm die Enttäuschung zu ersparen, eine ›tolle Linie‹ nicht als Kirchturm zu erkennen.«

»Wie malen die anderen Kinder in seiner Klasse?«

»Manche verfügen tatsächlich über Talent und malen erstaunlich realistische Sachen, andere schmieren mit Farben herum. Seit wann interessierst du dich für Kinderzeichnungen?«

»Lena spricht nicht. Sie hat gemalt. Ich bin mir nicht sicher, was ich von der Zeichnung halten soll. Kannst du dir das Bild anschauen?«

»Vielleicht solltest du es lieber einem Psychologen als einer alleinerziehenden Mutter zeigen. Aber schaden kann es nicht.«

Anna holte Lenas Blatt und legte es auf Susannes Schreibtisch.

»Das ist ziemlich gut gelungen. Sogar ich würde sagen, dass das eindeutig ist«, sagte Susanne. »Aber was hat ein blauer Fisch mit Lenas Fall zu tun?«

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