Gefallener Mond

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2

Als Anna das zwölfstöckige Gebäude betrat, in dem sich die Kanzlei befand, für die sie seit gut zehn Jahren tätig war, schlug ihr warme Luft entgegen. Die Heizungen liefen auf Hochtouren, um die herbstliche Kühle hinter die hundert Jahre alten Mauern zu verbannen. Ein Mosaik aus Hinweistafeln wies den Weg zu den Büros. Wer mit seinem Firmensitz ein Zeichen setzen wollte, residierte in diesem oder einem der angrenzenden Gebäude entlang der Ringstraße. Anna schlüpfte aus dem Mantel und wartete auf den Fahrstuhl. Als sich die Türen öffneten, strömten Menschen im Einheitsdress von Anzügen und eng sitzenden Kostümen ins Freie, um den Wartenden Platz zu machen. Einmal mehr stach Anna in ihrer beigen Hose und dem dunkelgrünen Pullover aus der Masse heraus. Sie verhinderte mit einem geschickten Ausweichmanöver den Zusammenstoß mit einem jungen Mann, der unvermutet vor ihr stehen geblieben war. Anna schloss sich den anderen Fahrgästen an, die in den Aufzug drängten. Zeit war Geld. Verrechnet in Stundensätzen der Rechtsanwälte, Behandlungskosten der Ärzte oder Honorarnoten der Steuerberater.

In der Kabine war es unangenehm warm und roch nach übertrieben aufgetragenem Parfum. Als Anna sich umdrehte, erhaschte sie zwischen den sich schließenden Fahrstuhltüren einen Blick auf den unbekannten Bewunderer. Er balancierte auf Zehenspitzen, um sie zwischen den anderen Fahrgästen auszumachen. Als er sie erkannte, lächelte er, doch Anna ignorierte ihn, lehnte sich an die Metallwand des Fahrstuhles und betrachtete ihr Spiegelbild. Der kühle Novemberwind hatte ihre Wangen gerötet und ihren Kopf befreit. Die Verhandlung war in weite Ferne gerückt. Geblieben war das dumpfe Gefühl, alles erreicht und doch zu wenig getan zu haben.

Als eine blecherne Stimme die Ankunft im sechsten Stock verkündete, deutete Anna zur Tür. Ein grau melierter Mittvierziger drückte sich an die Fahrstuhlwand, um Platz zu machen. Anna nickte mechanisch, doch ihre Gedanken kreisten bereits um das nächste Opfer, dessen Geschichte sie bald vor Gericht in Worte fassen würde. Ein neuer Akt, ein neuer Prozess. Neuerliche Gewalt, die allgegenwärtig war und wie ein schwarzes Loch Materie anzog und unerbittlich verschlang.

Während Anna den Wartebereich der Kanzlei durchquerte, zählte sie aus Gewohnheit die siebzehn Schritte bis zur Glastür, die das Foyer von den Arbeitsplätzen trennte. An ihrem ersten Arbeitstag hatte sie jeden einzelnen davon staunend zurückgelegt. Die lederne Sitzgarnitur strahlte in Kombination mit dem darüber hängenden Miró Eleganz und Macht aus. Als die Wolkendecke aufbrach, färbte die Sonne die Marmorfließen gelb, durchzogen von den Schatten der deckenhohen Fenstereinfassungen. Anna lauschte der vertrauten Klangwolke aus läutenden Telefonen und surrenden Kopiergeräten, die gedämpft durch die Glasscheibe drang. Ihre Welt. Trotzdem hätte sie heute gerne umgedreht, um auf einer einsamen Parkbank die letzten Sonnenstunden zu genießen. Um umhertollende Kinder zu beobachten und den Krähen zuzuhören, die mit ihren Schreien vom Winter erzählten, der sich bereits mit Nebel, Frost und braunen Blättern auf den Gehwegen ankündigte. Um bei einem Spaziergang die vorbeiziehenden Wolken zu beobachten und ihren Träumen nachzuhängen. Um in einem kleinen Café einen Cappuccino zu trinken und eine Zeitschrift durchzublättern. Doch als sie die Tür öffnete, konnte sie nicht mehr tun, als ihre Arme um den Stapel Akten zu schließen, den ihr eine der Schreibkräfte an die Hüfte drückte. In ihrer Welt war kein Platz für sonnenbeschienene Parkbänke.

Lukas erwartete sie lächelnd auf ihrem Schreibtischsessel. »Man darf gratulieren?«, fragte er.

»Was machst du in meinem Büro?«, entgegnete Anna frostig.

»Du wirst deine Verurteilung bekommen. Ist es nicht das, was zählt?«, fragte er, »du solltest stolz auf dich sein. Ich würde mir an deiner Stelle anerkennend auf die Schulter klopfen.«

Nun musste auch Anna lächeln. »Das hat sich aber schnell herumgesprochen«, sagte sie, ließ den Papierberg auf den Parkettboden gleiten und las die Notizzettel ihrer Sekretärin. »Wie hast du davon erfahren?«

»In Wien funktionieren Buschtrommeln ausgezeichnet.«

»Kann es sein, dass ein wenig persönliches Interesse dahintersteckt?« In ihrem Kopf reihte sie die Nachrichten bereits nach ihrer Dringlichkeit. Es würde Stunden dauern, sie abzuarbeiten. Doch sie war überzeugt, dass jede einzelne Minute gut investiert war und irgendwann belohnt wurde.

»Wir sollten feiern. Darf ich dich heute Abend zum Essen einladen?«

»Lukas, wir kennen uns seit zwei Wochen. Mein Schreibtisch geht über mit Akten.«

»Ich habe andere Frauen schon nach zwei Stunden zu einem Abendessen überreden können. Die Akten werden auch morgen noch auf deinem Schreibtisch liegen.«

»Lass uns in fünf Minuten anstoßen, ich möchte mir einen Überblick verschaffen, was mich in den nächsten Stunden erwartet.«

»Das ist immerhin ein Anfang. Ich bin gleich zurück.«

Anna wartete mit zwei Gläsern, von denen sie eines Lukas reichte. »Auf die Gerechtigkeit«, sagte sie und nippte an der Flüssigkeit.

Lukas schaute angewidert auf sein Glas. »Was ist das bitte? Moët sicher nicht.«

»Champagner wäre reine Verschwendung. Du trinkst Vitamin C-Brause. Hilft beim Denken und wirkt gegen Erkältungen«, erwiderte Anna. »Soll ich dir noch eine Tablette auflösen?«

»Ich hätte es wissen müssen«, sagte Lukas und schüttelte den Kopf, »du machst dir nichts aus deinem Erfolg.«

»Würdest du das als Erfolg bezeichnen? Ein Mann wird wahrscheinlich für das verurteilt, was er einem kleinen Mädchen angetan hat, das nicht einmal wusste, was mit ihr geschieht. Wenn mein Auftreten heute überzeugend war und der Sachverständige ein Gutachten erstellt, das meine Behauptungen stützt, logiert er auf Staatskosten eine Zeit lang in einem Einzelzimmer, isst ausgewogene Mahlzeiten, liest die Bücher, die er immer schon lesen wollte und trainiert intensiver, als er es die vergangenen Jahre über konnte, weil ihn seine Geschäftstermine vom regelmäßigen Besuch eines Fitnessstudios abgehalten haben. Ihr Leben ist im schlimmsten Fall zerstört. Sie kann vielleicht nie wieder Vertrauen zu einem Mann aufbauen und durchlebt in ihren Albträumen jede Nacht aufs Neue, was mit ihr passiert ist. Ich zweifle, ob Erfolg das passende Wort ist.«

Lukas zögerte, bevor er nach einer Pause fragte: »Du bist intelligent und zielstrebig. Warum hast du keine andere Richtung gewählt? Hättest du dich auf Wertpapierrecht spezialisiert, wärst du bereits eine reiche Frau. Du könntest den ganzen Laden hier übernehmen, wenn die dich auf die Börse loslassen.«

»Vielleicht bedeutet mir Geld nicht so viel wie dir, lieber Wertpapierspezialist. Was sollte ich deiner Meinung nach mit einem gut gefüllten Konto tun?«

»Du könntest einen alten Bauernhof kaufen und dir ein Paradies fern von der Großstadt schaffen, einen netten Partner suchen, eine Babypause einlegen und deine Kinder in der Natur aufwachsen sehen. Stattdessen kämpfst du jeden Tag aufs Neue für Frauen, die du in der Notaufnahme des Krankenhauses aufliest, für Kinder, deren Leben durch Gewalt zerstört wurde, für Menschen, die kaum dein Honorar bezahlen können. Du musstest lang auf deine Partnerschaft warten, weil du der Kanzlei nicht ausreichend Gewinn einbringst. Du hättest mehr Anerkennung verdient.«

»Hast du Erkundigungen über mich eingeholt?«, fragte Anna.

»Die Partner nehmen sich diesbezüglich kein Blatt vor den Mund.«

»Ich mache mir nichts daraus, was andere über mich sagen. Außerdem profitieren beide Seiten davon, dass mein Name auf dem Briefpapier der Kanzlei als Partnerin aufscheint. Für mich haben sich dadurch Türen geöffnet, die mir als Einzelkämpferin verschlossen blieben. Die Kanzlei schätzt das regelmäßig geäußerte Lob der Presse, dass sich eine Partnerin einer Wiener Nobelkanzlei für Mandanten einsetzt, die an anderen Türen abgewiesen wurden. Falsch verstandene Eitelkeit würde jedem von uns das Erreichen seiner Ziele erschweren.«

Lukas setzte sich auf die Schreibtischkante. »Klingt plausibel. Nichtsdestotrotz würde ich gerne erfahren, warum du kein anderes Spezialgebiet gewählt hast.«

Anna stellte ihr Glas ab, drehte ihm den Rücken zu, stützte ihre Hände auf das Fensterbrett und starrte auf die Silhouette Wiens, die in oranges Herbstlicht getaucht vor ihr lag. Die Kastanienbäume zu ihren Füßen hatten die Blätter verloren. Anna schloss die Augen und blendete Lukas Anwesenheit ebenso wie die Geräusche aus. Sie glaubte, Pilze und Himbeeren zu riechen. Reifen Weizen zu sehen, der sich im Wind wiegte. Die Sonne auf ihrer Haut zu spüren. Das Rufen der anderen Kinder zu hören. Über eine Wiese zu laufen und einen Drachen steigen zu lassen. Warme Kekse aus dem Ofen zu stehlen. Wieder ein kleines Mädchen zu sein. Sie atmete tief ein, drehte sich um und verschränkte die Arme, als könnte sie auf diese Weise Abstand gewinnen. »Einmal Anwalt, immer Anwalt, oder? Ergreifen wir nicht alle diesen Beruf, um Antworten zu bekommen?«

»Was ist passiert?«, fragte Lukas.

»Du würdest früher oder später doch wieder fragen.«

»Das würde ich wohl.«

»Meine Cousine wurde als Kind schwer verletzt. Die Familie hat geschwiegen. Niemand hat davon erfahren. Der Täter musste sich nie vor Gericht verantworten.«

Lukas schwieg, Anna konnte ihm nicht in die Augen sehen, als sie weitersprach. »Wir haben den Sommer am Land verbracht. Ferien bei der Großmutter, fern von der Stadt. Eine Horde Kinder, sich selbst überlassen. Dorfbewohner, Feriengäste, wir haben jeden Tag aufs Neue die Umgebung erkundet. Die Tage waren endlos. Wir waren frei. Niemand hat gefragt, was wir taten, wir mussten nur zum Abendessen erscheinen. Unter den Kindern gab es strenge Hierarchien. Es gab die, die bestimmten, und die, die geduldet wurden. Die Burschen machten die Regeln. Wir Mädchen mussten Mutproben bestehen. Sie haben meine Cousine in eine Höhle gesperrt und in der Dunkelheit zurückgelassen. Nach Stunden ist einer von ihnen wieder gekommen und hat sie durch die Gänge gejagt. Sie ist auf der Suche nach einem Versteck in einen Abgrund gestürzt. Ich fürchte, der Täter hat sie auch vergewaltigt. Nur der Dorfarzt durfte zu ihr, nachdem der Suchtrupp sie gefunden hatte. Ich habe nie erfahren, was genau geschehen ist.« Als Lukas einen Schritt auf Anna zuging, wandte sie sich wieder dem Fenster zu. Ein Spatz ließ sich auf dem Fensterbrett nieder. Als er die Gestalt hinter der Scheibe entdeckte, flog er auf. »Ich war damals noch sehr klein. Ich habe nicht begriffen, was mit ihr passiert ist. Nur, dass es etwas ganz Schreckliches sein musste. Mein Vater hat verboten, Fragen zu stellen. Die Familie hat nie wieder darüber gesprochen. Doch es hat alles zerstört. Nichts war danach so, wie es einmal war.«

 

»Konnte dein Vater eine solche Entscheidung alleine treffen?«

»Mama war zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre tot«, sagte Anna. Auch nach so vielen Jahren veränderte sich ihre Stimme, wenn sie über ihre Mutter sprach, als wäre sie wieder vier Jahre alt. »Brustkrebs. Sie hat viel zu spät einen Arzt aufgesucht.«

»Das tut mir leid«, sagte Lukas.

»Das muss es nicht«, antwortete Anna, »es ist lange her. Irgendwann verblasst der Schmerz. Großmutter hat sich um uns Kinder gekümmert. Wir haben sie geliebt. Sie hat meiner Cousine geholfen, darüber hinwegzukommen.«

»Hat deine Cousine auch einen Namen?«

»Luna.«

»Luna?«

»Das muss dir reichen. Ich muss sie schützen. Auch ich gehöre zur Familie«, sagte Anna.

»Danke, dass du es mir erzählt hast«, sagte Lukas.

Anna nickte ihm zu und griff nach dem obersten Akt auf ihrem Schreibtisch. »Wir finden einen Termin für ein gemeinsames Abendessen.«

Es klopfte an ihrer Tür.

»Wie wäre es mit morgen?«, fragte Lukas.

Anna lächelte. »Bist du immer so hartnäckig?«

»Bist du das nicht auch?«

Ein dunkler Pagenkopf tauchte im Türrahmen auf. Susanne war alleinerziehende Mutter, chaotisch, vergesslich, stets fröhlich und zutiefst loyal. Aus diesen Gründen hatte Anna ihre Sekretärin vor zehn Jahren eingestellt. »Deine neue Klientin …«, sagte sie und hob entschuldigend die Hand, als sie Lukas bemerkte.

»Lukas wollte gerade gehen«, sagte Anna.

Susanne wartete ab, bis er sich außer Hörweite befand. »Deine neue Klientin ist da«, sagte sie.

»Habe ich einen Termin?«, fragte Anna.

»Sie sagt, du hättest versprochen, sie einzuschieben«, antwortete Susanne.

»Schick sie rein«, sagte Anna.

Verwundert betrachtete Anna die kobaltblaue Handtasche mit aufgedruckten Sonnen, die ihre Besucherin an sich presste. Dann fiel ihr Blick auf die Schwellung um ihr Auge, die im Licht der Neonlampen größer wirkte, als Anna es aus der Entfernung vermutet hatte. Gekonnt verbarg sie ihre Überraschung, die Frau aus dem Gerichtssaal so schnell wiederzusehen.

»Willkommen«, sagte Anna.

JULI 1988

Luna sitzt auf der Schaukel und beobachtet die Erwachsenen. Heute ist Großmutters Geburtstag, das ganze Dorf ist eingeladen. Ihre Freundinnen decken die Tische, hängen Lampions in die Bäume und schmücken die Tanzfläche mit bunten Bändern. Der Garten ist ein Farbenmeer aus blühenden Pflanzen und bunten Papiersternen, die sie in den vergangenen Tagen gemeinsam gebastelt haben. Luna stößt sich ab und gibt mit ihren Beinen das Tempo der Schaukel vor. Wenn sie am höchsten Punkt für einen Moment stehen bleibt, fühlt sie sich wie ein Vogel, der auf alles herabsieht. Das Seil knarrt auf dem Ast, so hoch schwingt sie sich zum Himmel. Warum kann es nicht jede Woche so große Feste geben, Teller voller Leckereien, Musik und Tanz, lachende Gesichter und eine Nacht, die nie endet? Doch vielleicht ist es gut so, so kann sie sich ein weiteres Jahr darauf freuen. Als Luna glaubt, nie mehr den Boden zu erreichen, sieht sie Onkel Hans kommen. Er hat ein Päckchen in der Hand. Immer sucht er ganz besondere Dinge aus. Luna schaukelt weiter, bis der Himmel ganz nah scheint und ihr Magen sich hebt. Dann ist er da und lächelt sie an, als wäre auch er sieben Jahre alt und könnte sich nichts Schöneres vorstellen, als mit ihr zu plaudern.

»Luna.« Seine rechte Hand verbirgt er hinter seinem Rücken.

»Onkel Hans. Was hast du mir mitgebracht?«

»Hast du Zauberaugen und kannst durch mich hindurch sehen?«

»Ich kann nicht zaubern, Onkel Hans. Unser Dorfarzt Doktor Forster kann es. Er kann Menschen gesund zaubern.«

»Jede Frau kann zaubern. Du bist nur nicht alt genug, das zu verstehen.«

»Ich bin schon sieben.«

Onkel Hans reißt erstaunt die Augen auf. »Das wusste ich nicht«, sagt er, »ich dachte, du wärst fünf.«

»Du bist schon fast so vergesslich wie Großmama«, kichert Luna.

»Ist man mit sieben nicht zu alt für ein Geschenk?«

»Nicht einmal Großmama ist zu alt für Geschenke«, sagt Luna, »und sie wird heute zweiundsiebzig.«

Endlich zieht er das Päckchen hinter seinem Rücken hervor, es ist viel größer als die Jahre zuvor.

»Hast du mir eine Krone mitgebracht?«

»Mach es auf.«

»Ich will schaukeln.«

»Vielleicht ist es tatsächlich eine Krone?«

»Kronen sind doch nur für kleine Mädchen, Onkel Hans.«

»Vielleicht ist es ein Kätzchen?«

»Das könnte ich doch hören.«

»Bist du nicht neugierig?«

Luna liebt es, Onkel Hans an der Nase herumzuführen, sie weiß, er kann es kaum erwarten, dass sie sein Geschenk in Händen hält. Doch sie will sich noch ein kleines bisschen länger freuen und fliegt noch zwei Mal, bevor sie von der Schaukel springt und vor ihm steht. Der große Mann mit den blonden Haaren lächelt und will sie umarmen, doch Luna mag es nicht, wenn er sie allzu fest an sich presst. So streckt sie ihm ihre Hand entgegen und für einen Augenblick berühren sich ihre Finger. Luna kann spüren, wie warm die seinen sind. Als er die Hand ausstreckt, um ihre Wange zu berühren, wendet Luna sich ab und reißt das Papier auf.

»Wie schön!«, ruft Luna, während sie den roten Stoff vor die Sonne hält. Sie glaubt, der Rock wäre von Flammen durchzogen, so glüht er. Er ist so leicht, dass er im Wind flattert. Kleine aufgenähte Glasperlen blitzen auf und reflektieren das Licht. Dazu hat Onkel Hans eine passende Spange für ihre langen Haare gekauft. Jetzt hätte sie Onkel Hans am liebsten doch umarmt.

»Du wirst beim Fest die Schönste sein«, sagt Onkel Hans.

»Rot ist meine Lieblingsfarbe«, sagt Luna.

»Das hat mir ein kleines Vögelchen verraten.«

»Heißt das Vögelchen Großmutter?«

Onkel Hans lacht. »Du bist ein ziemlich schlaues Mädchen.«

»Darf ich ihn gleich anziehen?«

»Noch ist der Rock unser Geheimnis. Warte bis zum Fest.«

»Ich würde ihn so gerne anprobieren.«

»Bekommst du immer, was du willst?«

»Meistens«, antwortete Luna, »Oma sagt, ich bin hartnäckig.«

»Da muss ich deiner Großmutter recht geben«, sagt Onkel Hans und zieht einen Fotoapparat aus der Jackentasche.

Luna hört das Klicken, als er auf den Auslöser drückt. Sie dreht sich in dem Rock, die Arme zum Himmel gestreckt.

»Kann ich gut tanzen?«, fragt Luna.

»Wie eine Ballerina«, antwortet Onkel Hans.

»Tanzt eine Ballerina nicht auf einer Bühne?«

»Eine Ballerina tanzt vor Publikum.«

»Bist du mein Publikum?«

»Heute Abend werden alle Gäste dein Publikum sein«, antwortet Onkel Hans, dreht sich um und kehrt zum Haus zurück. Rasch schlüpft Luna wieder in die Hosen und setzt sich auf die Schaukel. Ein weiterer Tisch vor Großmutters Haus ist gedeckt. Noch mehr Lampions hängen in den Bäumen. Nun dauert es nicht mehr lange, bis die Gäste kommen.

3

Anna stand auf und umrundete den Schreibtisch. »Anna Walter«, sagte sie.

»Julia Hofstetter«, antwortete ihre Besucherin und presste ihre Tasche noch fester an sich. Ihr Händedruck war schwach und leblos.

»Etwas zu trinken?«, fragte Anna.

»Wasser, bitte«, antwortete Julia und schaute sich in Annas Büro um, bevor sie zwei Schritte zu der gerahmten Urkunde neben dem Türrahmen machte. »Sie sind so jung«, sagte sie, während sie Annas Zulassungsurkunde zur Rechtsanwältin las, »und trotzdem so selbstsicher.«

»Selbstsicherheit ist eine der Grundanforderungen meines Berufes. Wie könnte ich sonst meine Gegner beeindrucken?«

»Haben sie diese Bücher alle gelesen?«, fragte Julia und fuhr mit der Fingerspitze über die gelben Buchrücken, die in gerader Reihe in Augenhöhe im Regal neben Annas Schreibtisch standen.

»Kodizes enthalten Gesetzestexte«, antwortete Anna, »ich schlage in ihnen nach.«

Julia stieß gegen den Aktenstapel auf dem Parkettboden. Lose Blätter glitten aus den Deckeln. »Das wollte ich nicht«, stammelte sie, kniete nieder und schob wahllos Papiere zusammen.

»Kommen Sie«, sagte Anna, umfasste Julias Oberarm und deutete auf die Couch, die ihrem Schreibtisch gegenüberstand. Anna hatte das Grün bewusst gewählt. Die Farbe der Hoffnung. Um denen, die sie längst verloren hatten, ein wenig davon zurückzugeben. Julia nickte und schlüpfte aus ihrem Mantel. Sie trug ein Wollkleid und Stiefel, die einmal beige gewesen sein mussten. Sie stellte ihre Tasche auf den Boden, ließ sich in den weichen Stoff fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Anna füllte zwei Gläser mit Wasser.

»Ich wollte Sie persönlich erleben«, sagte Julia, während sie auf ihre Handflächen starrte, »ich musste wissen, ob Sie die Richtige sind.«

»Wenn Sie mir Ihre Geschichte erzählt haben, werde ich ebenso beurteilen, ob ich die Richtige bin«, erwiderte Anna und setzte sich.

Julia schaute erschrocken auf. »Sie müssen meinen Fall übernehmen.«

»Die Entscheidung, ob ich Ihr Mandat übernehme, liegt bei mir«, sagte Anna ruhig, aber bestimmt.

Julia nippte an dem Wasser. Ihre Hand zitterte, als sie das Glas abstellte. »So habe ich das nicht gemeint. Natürlich entscheiden Sie. Es tut mir leid.«

»Ich gehe davon aus, dass Sie nicht hierhergekommen sind, um sich zu entschuldigen«, sagte Anna, »ich wollte nur unsere Rollen klar definieren, um Missverständnisse zu vermeiden.«

Julia nickte. »Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, ob Sie einen Fall übernehmen?«

»Ich übernehme nur Fälle, bei denen ich eine Chance sehe, für meine Mandanten das Bestmögliche zu erreichen.«

»Was ist das Bestmögliche?«

»Das ist von Fall zu Fall verschieden.«

»Wer erfährt davon, wenn Sie eine Vertretung übernehmen?«, fragte Julia.

»Das hängt von der notwendigen Vorgehensweise ab«, antwortete Anna, »vorerst wird nichts von dem, was Sie mir erzählen, diesen Raum verlassen. Jedes Wort unterliegt dem Anwaltsgeheimnis. Er kann Ihnen hier keinen Schaden zufügen.«

Julia nickte und schaute Anna direkt an. »Glauben Sie, dass es Menschen gibt, die nur nehmen und nicht geben können?«

»Ich glaube es nicht nur, ich weiß es.«

»Er bezeichnete es anfangs als Affäre. Das klingt so abwertend. Nicht einmal das Wort Geliebte wird der Situation gerecht. Ich kenne keinen passenden Ausdruck für das, was ich für ihn war.« Julia zögerte und trank einen weiteren Schluck. »Jeden Donnerstag kam er zu mir. Manchmal blieb er über Nacht. Er dominierte. Aus Überzeugung. Ich fügte mich, ohne meine Rolle anzuzweifeln. Ein Außenstehender hätte vieles von dem, was wir taten, wohl als Vergewaltigung eingestuft. Die Mischung aus Schmerz und Lust erregte uns beide. Er brauchte mich ebenso wie ich ihn. Jede Woche fieberte ich diesem Abend entgegen. Drei Jahre lang. Er fragte nie, wie es mir dabei ging. Er sprach davon, seine Frau zu verlassen. Mich zu sich zu holen, in dieses große Haus, in dem er lebt. Mich mit Geschenken zu überhäufen, wenn wir uns nicht mehr verstecken müssten.« Eine Träne rann über Julias Wange. »Ich war so naiv zu glauben, dass ich den Lottosechser gewonnen und meinen Traumprinzen gefunden hatte.«

»Ich brauche seinen Namen.«

Julia biss sich auf die Lippen und zögerte.

 

»Sie wären nicht zu mir gekommen, wenn Sie ihn nicht vor Gericht sehen wollten. Ich kann kein Phantom zur Rechenschaft ziehen.«

Julia nickte. »Maxim. Maxim Tolstunov.«

»Was ist passiert?«

»Ich habe ihm gesagt, dass er nie wieder kommen darf.«

»Wie hat Maxim reagiert?«

»Er hat einfach zugeschlagen.«

»Waren Sie im Krankenhaus?«

Julia blickte auf. »Natürlich nicht. Man hätte zu viele Fragen gestellt. Vielleicht sogar Anzeige erstattet. Ich hätte keine passenden Antworten gewusst.«

»Das war aber noch nicht alles, richtig?«

»Ich hatte ihn wegen dieses Abends zur Rede gestellt. Zuerst lachte er und meinte, es wäre nicht der richtige Augenblick für Scherze. Ich bohrte weiter und wollte Details erfahren. Irgendwann schwieg er und starrte mich an. Sein Schlag traf mich direkt neben dem Auge. Als ich am Boden lag, wollte er wissen, wie ich es wagen könnte, ihm so etwas zu unterstellen. Dann drehte er sich um und ging.«

»Weswegen haben Sie ihn zur Rede gestellt?«

Julia zögerte. »Ich war nicht ganz ehrlich zu ihm.«

»Ein anderer Mann?«

Julia schüttelte den Kopf. »Es gab nur Maxim«, antwortete sie.

»Was haben Sie getan?«, fragte Anna.

»Ich habe ihn nicht angelogen«, antwortete Julia hastig, »aber ihm nicht alles erzählt.«

»Wie Sie mir gerade nicht alles erzählen?«

Julia schaute sie hilfesuchend an. »Ich werde alles später erklären«, sagte sie.

Anna ahnte auf Grund langjähriger Erfahrung, wie schwer es Julia fiel, über den besagten Abend zu sprechen, und beschloss, vorerst abzuwarten. »Was haben Sie unternommen?«, fragte sie.

»Nichts«, antwortete Julia und berührte ihr geschwollenes Auge. »Ich habe mich krank gemeldet und von Migräne erzählt.«

»Haben Sie Maxim seither wiedergesehen?«

Julia schüttelte den Kopf. »Am nächsten Tag läutete es an der Wohnungstür. Ich hatte zwei Schmerztabletten genommen, geschlafen und konnte nicht klar denken. Ich hoffte, Maxim wäre gekommen, um sich zu entschuldigen. Als ich öffnete, wurde mir klar, wie unvorsichtig ich gewesen war. Ein Mann drängte sich hinein und versperrte mir die Tür.«

»Wie sah er aus?«

»Groß. Dunkle Haare, glaube ich. Ich drehte mich um und wollte ins Wohnzimmer. Er packte meinen Arm und hielt mich fest. »Wer wird denn so unartig sein?«, waren seine Worte. Ich würde seine Stimme sofort wieder erkennen. Sie war überraschend sanft.«

»Hat er Sie in der Folge bedroht?«

Julia schüttelte erneut den Kopf. »Er bezeichnete es als guten Rat. Es wäre Zeit, Maxims Nummer aus meinem Telefon zu löschen. Dann ging er.«

»Sie müssen mir die ganze Geschichte erzählen, wenn ich Sie vertreten soll«, sagte Anna nachdrücklich.

Julia presste ihre Hand auf den Mund. Anna hätte am liebsten die Arme nach ihr ausgestreckt. Auch nach vielen Jahren neigte sie dazu, sich von den Gefühlen ihrer Mandanten beeinflussen zu lassen. Doch mit Emotionen konnten sie weder vor Gericht argumentieren, noch einen Richter überzeugen. Es waren die Fakten, die zählten. Verurteilungen erreichte sie mit der richtigen Vorgehensweise, gepaart mit überzeugender Argumentation. Anna langte nach der Box Taschentücher, die außerhalb Julias Reichweite stand.

»Es geht um Lena«, sagte Julia.

»Wer ist Lena?«

»Meine Tochter. Sie ist sieben.«

»Was ist mit Lena passiert?«

»Ich weiß es nicht genau.«

»Was vermuten Sie?«

Julia holte tief Luft. »Ich wollte mit einer Freundin ins Kino. Der Babysitter hatte in letzter Minute abgesagt. Ich brachte sie zu Bett und ging. Es war so still, als ich in die Wohnung zurückkam. Ich wusste sofort, dass sie nicht mehr da war. Ich rief Maxim in dieser Nacht siebenunddreißig Mal an. Er nahm keinen meiner Anrufe entgegen. Ich wartete neben dem Telefon und starrte aus dem Fenster. Zwanzig Stunden lang. Ich war verrückt vor Sorge. Am Abend klingelte sie einfach. Sie hatte noch dieselben Sachen wie am Vortag an. Ihren rosa Pyjama, den mit den kleinen Bären darauf.« Julias Hände zitterten.

»Erzählen Sie weiter«, sagte Anna sanft.

»Lena ließ sich anfangs nicht einmal von mir berühren. Und ihre Haare – sie waren weg. Maxim hat ihr die langen Haare abgeschnitten.« Julia starrte verwundert auf ihre Hände, als würden sie nicht zu ihr gehören.

»Haben Sie sich jemandem anvertraut?«, fragte Anna.

Julia schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«, fragte Anna.

Julia zuckte mit den Schultern. »Ich habe niemanden außer Lena«, sagte sie leise.

Anna betrachtete die Verfärbungen um Julias Auge, die bereits von Lila ins Gelb überwechselten. »Wie lange liegt der Vorfall zurück?«

»Zehn Tage«, antwortete Julia. Sie sprach mittlerweile so leise, dass Anna Mühe hatte, sie zu verstehen.

Offenbar hatte sich Julia mit ihrer Tochter wie ein verletztes Raubtier zurückgezogen, um keine Entscheidungen treffen zu müssen und dabei wertvolle Tage verstreichen lassen. Wollte Anna Spuren sichern, die einen Täter vor Gericht bringen konnten, durfte sie keine Zeit mehr verlieren. »Schauen Sie mich an.« Die Bestimmtheit, mit der sie sprach, ließ Julia aufblicken. »Glauben Sie, dass er Lena missbraucht hat?«

Julia nickte und verschränkte die Finger.

»Warum glauben Sie das?«

»Die Innenseiten ihrer Oberschenkel waren mit blauen Flecken übersät«, sagte Julia und biss sich erneut auf die Lippen. »Nicht nur ihre Oberschenkel«, fügte sie hinzu.

»Ich verstehe«, sagte Anna. »Warum behaupten Sie, dass Maxim es war?«

Julia schaute sie wütend an. »Ich weiß, dass er es war.«

»Hat Lena es gesagt?«

»Lena hat seither nicht mehr gesprochen.«

»Dann stelle ich die Frage anders: wie können Sie es wissen?«

Julia schaute wieder auf ihre Hände. Offenbar fiel es ihr leichter, über die Ereignisse zu sprechen, wenn sie scheinbar mit sich selbst sprach. »Als ich aus dem Kino zurückkam, sah ich ihn wegfahren. Maxim hat einen Geländewagen mit einem Aufkleber am Heck. Einen heulenden Wolf. Ich würde das Auto unter hunderten wiedererkennen.«

»War es hell genug, um einen Aufkleber zu erkennen?«

»Ich wollte noch nicht in meine Wohnung zurück und rauchte eine letzte Zigarette auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der Abend war endlich wieder wie in alten Zeiten. Kino. Ein Drink. Lachen mit einer Freundin. Das Zuschlagen einer Wagentür holte mich in die Realität zurück. Sein Auto stand direkt unter der Laterne vor unserem Wohnhaus. Ich dachte, er wollte Lena besuchen. Er hatte einen Schlüssel. Manchmal kam er vorbei, um nach uns zu sehen. Manchmal brachte er Lena oder mir Geschenke mit. Er kündigte sein Kommen nie an.«

»Wusste er, dass Sie an diesem Abend ins Kino wollten?«, fragte Anna.

»Wir haben nie über unseren Alltag gesprochen.«

»War er schon einmal mit Lena in der Wohnung, alleine?«

»Vor zwei Monaten musste ich für eine Kollegin einspringen und die Nachtschicht übernehmen. Er hat auf Lena aufgepasst.«

»Was machen Sie beruflich?«

»Kellnerin. Ich arbeite, während Lena in der Schule ist. Früher habe ich Nachtschichten geschoben, da gibt es mehr Trinkgeld. Seit ich alleine bin, geht das nicht mehr.«

»Was ist mit Lenas Vater?«

»Er ist gestorben. Autounfall. Seither reicht das Geld nie.«

»Was wissen Sie von dem Abend, an dem Maxim auf Lena aufgepasst hat?«

»Maxim hat meine Dokumente durchsucht. Ich bewahre sie in der Kommode in meinem Schlafzimmer auf. Normalerweise liegt mein Reisepass ganz unten. Danach lag er gut sichtbar oben auf. Er wollte, dass ich es weiß.«

»Haben Sie ihn zur Rede gestellt?«

»Ich hatte keine stichhaltigen Beweise.«

»Warum hat Maxim das getan?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was glauben Sie?«

Julia zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihm einmal erzählt, dass ich noch nie im Ausland war. Vielleicht wollte er prüfen, ob ich die Wahrheit gesagt habe.«

»Haben Sie das denn?«

»Warum hätte ich lügen sollen?«

»Ist in den vergangenen zwei Monaten sonst etwas vorgefallen? Hat er sich anders verhalten als sonst? Hat Lena sich verändert?«

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