Gefallener Mond

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Julia schüttelte den Kopf.

»Sind Sie sicher?«

»Alles war wie immer. Bis zu dem Abend, an dem Lena verschwand.«

»Haben Sie die Polizei gerufen?«

Julia verneinte ein weiteres Mal. »Was hätte ich denn sagen sollen? Dass ich mein Kind ein paar Stunden lang alleine in der Wohnung gelassen hatte? Die Polizei hätte das Jugendamt eingeschaltet. Lena ist das einzige, das mir geblieben ist.«

»Waren Sie mit Lena beim Arzt?«

Julia hob abwehrend die Hände. »Ich konnte das nicht. Es wäre so endgültig gewesen. Ich hätte die Vorstellung nicht ertragen, was er mit ihr gemacht hat. Ich habe ihr Tabletten gegen die Schmerzen gegeben. Ich habe sie vorsichtig gewaschen. Sie hat viel geschlafen. Ich wollte in Ruhe überlegen, wie ich vorgehe.

»Wir müssen wissen, was genau mit Lena passiert ist. Würden Sie mit ihr zu einer Ärztin meines Vertrauens gehen?«, fragte Anna.

»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, erwiderte Julia.

»Sie sind zu mir gekommen. Dieser Schritt hat mehr Mut erfordert, als mit Lena eine Ärztin aufzusuchen.«

»Kann ich darüber nachdenken?«

»Denken Sie nicht zu lange darüber nach. Mit jedem weiteren Tag wird es schwieriger, den Grad der Verletzungen festzustellen«, sagte Anna, langte hinter sich und überreichte Julia eine Visitenkarte. »Ich vertraue Doktor Andrea Reisinger. Sie hat Erfahrung mit Missbrauchsopfern. Sie weiß, was zu tun ist.«

Julia steckte die Karte in ihre Tasche ohne einen Blick darauf zu werfen. Dann blickte sie Anna fragend an: »Werde ich alles vor Gericht erzählen müssen?«

»Sollte es zu einer Verhandlung kommen, werden Sie als Zeugin aussagen müssen.«

»Was brauchen Sie noch, um vor Gericht gehen zu können?«, fragte Julia.

»Ich brauche mehr. Viel mehr«, sagte Anna.

»Aber es ist doch alles klar! Ich habe Maxim gesehen. Nur er hatte einen Schlüssel zu meiner Wohnung.«

»Sind sie sicher?«

»Absolut.« Julias Stimme war nun um vieles fester. »Wann wird er bestraft für das, was er getan hat?«

Anna schlug ihren Terminkalender auf und blätterte durch die Seiten. »Unsere Rechtsordnung gibt den Rahmen und das Verfahren vor. Ich erstatte Anzeige. Die Polizei ermittelt für den Staatsanwalt, der entscheidet, ob er Anklage erhebt und ein Gerichtsverfahren einleitet. Bisher gibt es nur Ihre Zeugenaussage. Die Staatsanwaltschaft leitet nur dann ein Verfahren ein, wenn die von uns vorgelegten Beweise dies rechtfertigen. Derzeit haben wir nicht genug«, sagte Anna. »Ich will Lena sehen.«

»Muss das sein?«

»Ich übernehme den Fall sonst nicht. Ich muss mir selbst ein Bild machen.«

»Sie passen doch auf sie auf?«

»Sie haben gemeint, ich wäre die Richtige.«

Julia knetete ihre Finger. Dann atmete sie aus und sah Anna direkt an. »Sie sind die Richtige. Ich will ihn vor Gericht sehen, welchen Preis auch immer ich dafür bezahlen muss.«

»Es geht nicht darum, dass Sie einen Preis bezahlen. Es geht darum, einen Täter vor Gericht zu stellen. Einen Richter ein Urteil fällen zu lassen. Einen Schuldigen seiner gerechten Strafe zuzuführen. Das ist unser Rechtssystem.«

»Was kann ich dazu beitragen?«

»Bringen Sie Lena hierher.«

»Wann?«

»Morgen.«

Julia nickte und hängte ihre Tasche über die Schulter.

»Wir sehen uns«, sagte Anna und drückte Julias Hand. Sie hatte kalte Finger erwartet. Stattdessen hatte sie das Gefühl, einen heißen Ofen zu berühren.

4

Als Anna das Diktiergerät ausschaltete und die erledigten Akten neben einen Stapel Briefe schob, fiel ihr Blick auf das angebissene Tramezzini. Die Ränder wölbten sich nach oben und der Salat war welk geworden. Sie warf es samt der Verpackung in den Papierkorb, wo es raschelnd zwischen abgearbeiteten Notizzetteln versank. Nichts zeugte mehr von dem Chaos, das sie nach der Verhandlung vorgefunden hatte. Anna rückte die Schreibunterlage zurecht und holte einen Aktendeckel aus der Lade. Sorgfältig beschriftete sie ihn mit »Maxim Tolstunov«. Seit zehn Jahren begann sie einen neuen Fall mit diesem Ritual. Jeder Strich verstärkte das Gefühl, die Silhouette des Menschen nachzuzeichnen, der ihr irgendwann im Gerichtssaal gegenübersitzen würde. Julia hatte ihr eine Geschichte erzählt. Anna musste ihre Behauptungen in Frage stellen und aus jedem möglichen Blickwinkel betrachten, Wahrheit von Lüge trennen und nach Beweisen suchen. Wenn die tatsächlichen Fakten den vor ihr liegenden Akt füllten, konnte sie ihre weitere Vorgehensweise planen. Jeder Täter hinterließ Spuren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Anna sie fand.

»Er hat mir versprochen, seine Frau zu verlassen. Mich zu sich zu holen, in dieses große Haus, in dem er lebt.« Anna schlüpfte in ihre Schuhe und öffnete die Tür. Die ungewohnte Stille irritierte sie. Wie die Sekretärinnen der anderen Partner verfügte auch Susanne über ein eigenes Zimmer, das Annas Büro vorgelagert war. Dem Schreibtisch gegenüber stand eine Sitzecke, die Annas Mandanten als Wartebereich diente. Krakelige Zeichnungen klebten mit Tixostreifen befestigt an den einst weißen Wänden. Ein Zoo aus Stofftieren saß bunt durcheinandergewürfelt auf der Lehne eines mit Saftflecken und Schokoladespuren gesprenkelten Sofas. Auf dem Boden verstreute Kinderbücher und bunte Bauklötze vermittelten eine Atmosphäre von Chaos vermischt mit der notwendigen Portion Gemütlichkeit, um einen angenehmen Gegensatz zu der strengen Ordnung der übrigen Kanzleiräumlichkeiten zu schaffen.

Auf Susannes Schreibtisch formten vor sich hin trocknende Mandarinenschalen einen Smiley. Anna musste lächeln. Seit einer Woche haftete auch auf manchen Seiten ihrer Akten das erfrischende Aroma der Zitrusfrüchte. Es erinnerte sie daran, dass Weihnachten näher rückte. Vor Jahren hatte sie Susannes Einladung zu der Nikolausfeier ihres Sohnes Nils angenommen und verwundert kletternde Weihnachtsmänner auf Türen, beleuchtete Rentiere auf Kommoden und bunte Papiersterne auf Fenstern bestaunt. Der Geruch von Wachs und Reisig hatte die Wohnung durchzogen und die Gäste hatten in frisch gebackene Lebkuchen gebissen. Die geöffneten Kästchen des Adventkalenders erweckten längst vergessen geglaubte Bilder ihrer Kindheit zum Leben, als auch in ihrer Familie brennende Kerzen auf einem Adventkranz und gemeinsam gesungene Lieder nicht wegzudenken gewesen waren und weder verbotene Fragen noch Tabus existiert hatten, die sich später als unsichtbare Schatten über alle Feste legen sollten.

Anna schüttelte den Kopf und zog den Mülleimer unter dem Schreibtisch hervor. Papierkugeln, Bananenschalen sowie ein Pappbecher fielen zu Boden und erzeugten den Eindruck, eine Katze hätte im Abfall nach Futter gesucht. Seufzend schob Anna den Müll mit dem Fuß zu einem Haufen zusammen und legte Tolstunovs Akt neben den Computer. Die Arme von Mickey Mouse bewegten sich und die Zeiger von Susannes Wecker rückten auf 21 Uhr vor. Ob sie die einzige war, die noch arbeitete?

Die Tür zu Lukas’ Büro stand offen. Anna war überrascht, wie sehr sie es bedauerte, an diesem Abend keinen Gesprächspartner bei einem Espresso zu haben. In den vergangenen zwei Wochen waren die gemeinsamen Minuten in der Teeküche zu einem Ritual geworden, bei dem sie beide nachts an ihren Tassen nippten und Episoden aus ihren Leben erzählten. Wo er heute wohl war? Aus der Bibliothek am Ende des Ganges drang Licht. Ob Lukas etwas recherchierte? Oder saß er gerade mit einer der anderen Anwältinnen beim Abendessen? Wie er hatte auch Anna Informationen eingeholt. Vielleicht lag es in der Natur ihres Berufes, selbst im Alltag gerne vorbereitet zu sein. Lukas galt als intelligent und ehrgeizig. Diese Eigenschaften hatten gemeinsame Bekannte noch vor seinem Ruf als Frauenheld aufgezählt, doch Anna war nicht sicher, ob die umgekehrte Reihenfolge nicht eher der Wahrheit entsprach. Im Normalfall hätte Anna auf derart offensichtliche Annäherungsversuche nicht reagiert, doch sie musste sich eingestehen, dass sein Charme und seine Hartnäckigkeit sie amüsierten. Trotzdem war Anna fest entschlossen, zwar die Vorteile eines amikalen Arbeitsverhältnisses zu genießen, diese Ebene jedoch nicht zu verlassen. Denn sie hatte ebenso von der Skrupellosigkeit gehört, auf der sein Erfolg aufbaute. Dabei sprachen alle nur von der Gegenwart, niemand erwähnte seine Vergangenheit. Anna fragte sich, ob ihre langjährige Erfahrung oder ihr Instinkt dazu geführt hatte, ein wenig mehr als notwendig über ihren Kollegen zu recherchieren. War sie die Einzige in der Kanzlei, die wusste, was er als Jugendlicher getan hatte? Ob jemand die Schuld ahnte, die er auf sich geladen hatte und unweigerlich noch immer mit sich trug?

Anna verdrängte die Gedanken an Lukas, startete den Computer ihrer Sekretärin und wählte sich in das Grundbuch ein. Jedes in Österreich gelegene Grundstück war hier unter einer Katastralgemeinde und einer Einlagezahl erfasst. Das System verlangte die erforderlichen Daten. Als sie in Susannes Unterlagen nach passenden Informationen suchte, legte sich eine Hand auf ihre Schulter.

»Es sieht so aus, als könntest du Hilfe brauchen«, flüsterte Lukas in ihr Ohr.

»Ich benötige selten Hilfe«, sagte Anna. Sie roch Fisch und Rosmarin. »Mach so etwas nie wieder, Lukas.«

»Was soll ich nie wieder machen? Dich an fremden Computern erwischen?«

»Ich habe auf meinem Laptop keinen Zugang zur Grundbuchsdatenbank«, sagte Anna und suchte weiter nach der passenden Kennzahl der Katastralgemeinde. »Betrittst du gerne fremde Büros, ohne anzuklopfen?«

»Liebend gerne«, antwortete Lukas.

»Hat der Fisch geschmeckt?«, fragte Anna und drehte sich zu ihm um. Statt eines Anzuges trug Lukas Jeans und ein Poloshirt. Eine blaue Daunenjacke hing über seinem linken Arm. Anna musste sich eingestehen, dass er ohne Hemd und Krawatte um vieles jünger wirkte.

 

»Ausgezeichnet sogar«, antwortete Lukas überrascht. »Wer hat dir davon erzählt?«

»Ich rieche ausgezeichnet«, sagte Anna, »du hattest Rosmarinkartoffeln und Weißwein dazu. Vielleicht serviere ich genau das Samstag meinen Gästen.«

»Du kannst kochen?«

»Du hast dich bei den falschen Kollegen über mich erkundigt. Einige hätten Lobeshymnen angestimmt. Zumindest habe ich jetzt ein ziemlich genaue Vorstellung, mit wem du nicht gesprochen hast.«

»Offenbar. Ich entschuldige mich übrigens, sollte ich dich erschreckt haben.«

»Es braucht mehr, um mich zu erschrecken.«

»Was ist hier passiert?«, fragte Lukas und zupfte eine Bananenschale von seiner Schuhsohle.

»Hast du noch keine Bekanntschaft mit der Bürokatze gemacht? In der Nacht durchsucht sie die Mülleimer nach Fressbarem.«

Lukas schaute Anna verunsichert an. »Das hast du eben erfunden, oder?«

»Du hast es geglaubt«, lachte Anna, »du hättest keine Chance gegen mich im Gerichtssaal.«

»Da wäre ich nicht der Einzige, sonst wäre deine Verurteilungsrate nicht so hoch. Komm mit. Mein Rechner ist schneller«, sagte Lukas, »außerdem ist es eine gute Gelegenheit, dir einen Espresso aus meiner eigenen Maschine zu servieren.«

»Warum kommst du dann jeden Abend in die Teeküche?«

»Ich mag dein Ritual. Und du bewegst dich gerne auf neutralem Territorium, richtig?«

Anna schaltete Susannes Computer aus und folgte ihm. Als sie sein Büro betrat, schaute sie sich verwundert um. Über Jahre hatte sich hier ein Abstellraum für Reinigungsmittel und Handtücher mit verblichenen Wänden und einem Linoleumboden befunden. Die Wände waren frisch gestrichen, das Linoleum hatte hellem Holz Platz gemacht. Eine Stehlampe mit gebogenem Schwenkarm beleuchtete den Schreibtisch. Cremefarbene Möbel auf einem beigen Teppich verliehen dem Raum schlichte Eleganz. Auf Lukas’ Schreibtisch stand ein Strauß Lilien. Seine Jacke lag am Boden.

»Meine Mutter ist mit einer Innenarchitektin befreundet«, sagte er.

Anna fragte sich, wie er gleichzeitig den Bildschirm und ihren überraschten Blick erfassen konnte.

»Ich wollte ihr die Freude gönnen, Ordnung in einen kleinen Ausschnitt meines Lebens zu bringen. Keine Sorge, bei mir zu Hause sieht es um vieles chaotischer aus, wie es sich für einen Junggesellen gehört. Allerdings auch um vieles gemütlicher. Wonach suchst du genau?«

Anna hörte das Stakkato der Tastatur. Lukas’ Augen bewegten sich ebenso rasch wie seine Finger.

»Maxim Tolstunov. Großes Grundstück. Unbelastet. Beachtlich bei den Preisen in der Gegend. Alleineigentümer. Erst vor zwei Jahren erworben«, sagte er.

Anna trat hinter ihn. »Kannst du Gedanken lesen, oder hast du Informationen, die ich nicht habe?«

»Sein Name steht auf dem Aktendeckel, den du in der Hand hältst. Wir Wertpapierexperten leben davon, Daten und Informationen zu verarbeiten. Hat Tolstunov deine Klientin verprügelt?«

»Hallo? Es gibt ein Anwaltsgeheimnis.«

Die Tastatur klapperte unter Lukas’ Fingern. »Es gibt auch das Christkind. Sein Name kommt mir übrigens bekannt vor.«

»Bist du sicher?«

»Gib mir fünf Minuten. Entweder ist es mir dann eingefallen, oder dieses Ding hat genug über den Mann ausgespuckt, um dich mit Informationen zu versorgen. Den Kaffee bekommst du morgen. In meiner obersten Schreibtischlade sind Gummibärchen.«

Anna kehrte in ihr Büro zurück, stellte sich ans Fenster und verfolgte die Autokolonnen. Ob jemand auf die Menschen in diesen Autos wartete? Manchmal wünschte Anna sich mehr als eine leere Wohnung. Dass sie es nicht erwarten konnte, den letzten Akt des Tages zu schließen. Dass kleine Hände sich nach ihr ausstreckten, wenn sie den Schlüssel im Schloss umdrehte. Dass der Duft von Oregano und Tomatensauce das Vorzimmer füllte, während Jazz aus dem Wohnzimmer drang. Dass sie bei einem Glas Wein endlose Gespräche führte und gemeinsame Pläne für den nächsten Urlaub schmiedete. Doch irgendwie hatte keine ihrer Beziehungen längere Zeit gehalten, weil ihr jeder Partner früher oder später vorgeworfen hatte, mit den Frauen und Kindern verheiratet zu sein, die sie vertrat. Anna hatte die Vorwürfe nur halbherzig dementiert. Sie wusste, dass sie berechtigt waren. Ihre Klienten hatten ein Recht darauf, dass jemand für sie eintrat. Deshalb war sie Anwältin geworden. Anna konnte sich ein anderes Leben nicht vorstellen. Windeln und Gemüsebrei. Schlaflose Nächte und Staubsaugen. Kindergartenfeste und Schultüten. Das war das Leben ihrer Freundinnen aus Schulzeiten. Das Leben der anderen, nicht das ihre. Das Licht der Straßenlaterne erfasste eine Frau, die an jeder Hand ein Kind führte, ein kleiner Hund trippelte hinter ihnen her. Bunte Mützen wippten bei jedem Schritt. Wohin waren sie um diese Zeit unterwegs? Kamen sie von der Ballettstunde? Zwei weitere Schritte, dann hatte sie die Nacht verschluckt. Das ist nicht meine Welt, dachte Anna, hier ist meine Welt.

»Ich hoffe, du hast gute Beweise«, sagte Lukas.

Anna drehte sich um. »Ich werde sie finden müssen«, sagte sie.

»Dann such sorgfältig. Ich wusste, dass ich seinen Namen schon einmal gehört habe. Es gab vor einigen Jahren einen Skandal in der Telekommunikationsbranche. Es ging um Telefonlizenzen in ehemaligen russischen Staaten. Tolstunov war involviert«, sagte Lukas.

»In welcher Form?«

»Das blieb unklar. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt.«

»Wer war der leitende Staatsanwalt?«

»Kretschmer.«

»Ich hatte noch nie persönlich mit ihm zu tun. Er soll ein hartnäckiger Gegner sein.«

»Er ist Spezialist auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität.«

»Eine große Sache?«

Lukas nickte.

»Wie viel weißt du darüber?«, fragte Anna.

»Nicht mehr, als ich dir schon gesagt habe. Fünf Minuten sind nicht ausreichend Zeit, um mehr Fakten zu liefern.«

»Wie verdient er sein Geld?«

»Offiziell ist er Unternehmensberater. Für ihn wären wohl Schmiergeldzahler oder Geldwäscher treffendere Bezeichnungen. Worum geht es genau?«

»Es geht um ein kleines Mädchen, das aus einer versperrten Wohnung verschwunden und nach zwanzig Stunden zurückgekehrt ist. Sie spricht nicht mehr. Ich will wissen, was in dieser Zeit geschehen ist.«

»Was hat Tolstunov damit zu tun?«

»Das möchte ich herausfinden. Kannst du mir bis morgen alles ausdrucken, das du über ihn und seine Firma findest?«

»Ich würde gerne mehr tun«, sagte Lukas.

»Ich bin auf das Ergebnis deiner Recherche gespannt.«

»Für dich nur das Beste.«

»Ich würde mich mit nichts anderem zufrieden geben.«

»Davon gehe ich aus«, sagte Lukas, »ich ebenso wenig.«

»Dann bin ich neugierig, ob unsere Ansprüche gleich hoch sind«, sagte Anna und griff nach ihrer Aktentasche. »Danke«, fügte sie lächelnd hinzu.

Lukas winkte zum Abschied. »Wir sehen uns morgen«, sagte er. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Du hast mich zwar nicht nach meiner Meinung gefragt, aber ich äußere sie trotzdem. Ich ziehe meinen Hut vor dir. Es sollte mehr Anwälte geben, die so denken und handeln wie du.«

5

Der Scheinwerfer verströmte eine Hitze, die das Arbeiten zur Qual machte. Schweiß rann über seinen Rücken und staute sich am Seil, mit dem er die Regenhose festgezurrt hatte. Mit einem Lappen rieb er über jede Fliese. Die Chlorbleiche reizte seine Nase und seine Augen tränten. Seine Fingerkuppen brannten trotz der Gummihandschuhe, die er bis zu den Ellbogen hochgezogen hatte. Unter der Plastikhaube juckte die Kopfhaut. Er kannte die unangenehme Prozedur, trotzdem war er immer wieder aufs Neue überrascht, dass sie ihn im selben Maß erregte wie erschöpfte. Lust baute sich in seinem Inneren auf, gepaart mit Vorfreude auf seine neue Prinzessin. Er sah ihre Haare so deutlich vor sich, dass es ihn drängte, seine Hand auszustrecken und darüber zu streichen. Wonach sie wohl riechen würden?

Die Spuren seiner letzten Beute verschwanden im Abfluss. Er füllte den Eimer ein weiteres Mal mit heißem Wasser. Der scharfe Geruch des Desinfektionsmittels schlug ihm mit dem aufsteigenden Dampf entgegen. Er kniete nieder und scheuerte den Boden. Er glaubte nicht an Zufälle. Vorbestimmung hatte ihn heute zu Vanessa geführt. Ihr Lächeln war bezaubernd. Vielleicht ein wenig unsicher und verängstigt. Es zeugte von Einsamkeit, von dem Wunsch, zu gefallen und der Hoffnung, akzeptiert zu werden. Deshalb war sie die Richtige. Sie war das perfekte Opfer.

6

Kaum hatte Anna die Tiefgarage verlassen, legte sich ein feiner Film auf ihre Windschutzscheibe. Nieselregen hatte eingesetzt, die Temperatur war auf sechs Grad gesunken. Eine Schlechtwetterfront näherte sich dem Osten Österreichs, die Meteorologen hatten für die kommenden Tage Schnee vorhergesagt. Der Verkehr auf der Ringstraße hatte sich gelichtet. 22 Uhr vorbei. Anna rieb sich die Augen und durchsuchte ihre Aktentasche nach einem Schokoladenriegel. Beim Versuch, ihn einhändig zu öffnen, rutschte das Plastik aus ihren Fingern. An der nächsten Ampel klappte Anna die Sonnenblende nach unten und schob die Abdeckung zur Seite, um die Verpackung mit Hilfe der Schneidezähne aufzureißen. Als sich der Scheibenwischer über die Heckscheibe bewegte, tauchten im Spiegel die Umrisse der ebenfalls wartenden Wagen auf. Ein Scheinwerfer des hinter ihr stehenden Kombis war defekt. In der rechten Spur leuchtete ein Taxischild auf dem Dach eines Kleinwagens, offenbar legte nicht mehr jeder Wert darauf, in einer Mercedeslimousine chauffiert zu werden. Links von dem Kombi befand sich ein dunkler Geländewagen. Während Anna sich ein weiteres Mal vergeblich bemühte, die Schokolade auszupacken, fragte sie sich, warum im meist schneefreien Wien immer häufiger Autos zu sehen waren, die man eher in Tiroler Bergdörfern vermutet hätte. Als die Ampel auf Grün sprang, fluchte Anna leise, legte den Riegel auf den Beifahrersitz und wartete auf das nächste Rotsignal. Auch beim nächsten Versuch rutschte das Plastik aus ihrem Mund und sie legte den Kopf schief, um mit den Backenzähnen größeren Druck ausüben zu können. Auch diesmal war der Geländewagen schräg hinter ihr zum Stillstand gekommen. Im veränderten Blickwinkel hatte Anna das Gefühl, das Auto bereits beim Ausfahren aus der Garage wahrgenommen zu haben. Als sie auf die benachbarte Spur lenkte, wechselte der Geländewagen ebenfalls den Fahrstreifen. Anna bog ab, der andere Wagen folgte. Als sie eine Ampel bei Gelb überquerte, ignorierte ihr Verfolger das Rotsignal und übersetzte knapp vor einem querenden Auto die Kreuzung. Anna bremste ohne Vorwarnung und der Lenker des Geländewagens verhinderte im letzten Augenblick den Zusammenstoß, erhöhte jedoch den Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen. Als Anna erneut in eine schwach frequentierte Seitenstraße abbog, merkte sie, dass sie das Lenkrad um vieles fester hielt als notwendig. Sie beschleunigte und nahm die nächste Kurve mit hoher Geschwindigkeit. Nur mit Mühe gelang es ihr, auf der nassen Fahrbahn die Kontrolle über ihr Auto zu behalten. Einmal mehr tauchte der Geländewagen in ihrem Rückspiegel auf und Anna fragte sich, was sie ihren Mandantinnen in vergleichbaren Situationen raten würde. Sie hätte zweifellos zur Ruhe gemahnt.

Als Anna an einer Bushaltestelle vorbeifuhr, schwenkte sie ohne zu blinken nach rechts. Der Geländewagen passierte und verschwand um die nächste Ecke. Anna schaltete den Motor ab, öffnete die Verpackung und ließ die Schokolade auf der Zunge zerschmelzen, während sie unauffällig die Umgebung absuchte. War der fremde Wagen zufällig dieselbe Route gefahren oder war ihr jemand gefolgt? Wer könnte ein Interesse daran haben, sie zu beobachten und aus welchem Grund? Als Anna den letzten Bissen in den Mund steckte, lehnte sie sich im Sitz zurück. Schon als Kind hatte jede Form von Zucker ein angenehmes Gefühl von Geborgenheit in ihr ausgelöst. Nach zwei Bonbons von Großmutter hatten aufgeschlagene Schienbeine nicht mehr wehgetan. Nach einer Tüte Erdbeereis mit Streusel hatten die Hänseleien der anderen Kinder nicht mehr geschmerzt, dass sie wie ein Junge aussah, weil sie Hosen trug und ihre kurz geschnittenen Haare widerspenstig vom Kopf abstanden. Nach einem Teller selbstgebackener Plätzchen hatte sie für kurze Zeit vergessen können, dass ihre Mutter gestorben war. Auch diesmal verfehlte die Schokolade ihre Wirkung nicht. Anna konnte jetzt deutlich spüren, dass der Geländewagen in weite Ferne gerückt war. Es war Zeit, nach Hause zu fahren, eine Dusche zu nehmen und zu den Klängen von Norah Jones den Tag ausklingen zu lassen.

 

In dem Moment, als sie aus der Haltestelle fuhr, bog der Geländewagen neuerlich in dieselbe Straße ein und folgte Anna in sicherem Abstand. Die Fragen, die Anna mühsam aus ihrem Kopf verdrängt hatte, waren ebenso schnell zurückgekehrt wie das andere Auto. Sie fuhr wieder auf die Ringstraße. Es war zu früh, die Polizei einzuschalten. Als Anna an der nächsten Ampel das Leuchtschild des »Tel Aviv« vor sich sah, parkte sie ihren Wagen und schaute in den Rückspiegel. Vorerst war der Geländewagen verschwunden. Auf dem kurzen Fußmarsch zog sie ihre Mütze tief in die Stirn und klappte den Mantelkragen nach oben, um sich vor dem stärker werdenden Regen zu schützen. Trotzdem benetzten Wassertropfen ihre Wimpern, als sie die Bar erreichte. Sie tupfte mit einem Taschentuch darüber und ließ die vertraute Atmosphäre auf sich wirken. Wie gewohnt vibrierte der Fußboden im Einklang mit den Bässen. Sich drehende Leuchtkugeln vermittelten die Illusion, die Einrichtung wäre in kleine Stücke gehackt und bewege sich in einem eigenen Rhythmus vorwärts. Zwei Männer um die Dreißig unterhielten sich trotz des hohen Geräuschpegels und nippten an ihren Getränken. Silberne Lichtrauten zeichneten ein Muster auf ihre schwarzen Anzüge. Anna nickte einem der beiden zu. Pielers Verteidiger. Der Anwalt durchsuchte seine Taschen, zündete sich eine Zigarette an und hielt ihr die Packung entgegen.

Anna lehnte dankend ab. »Interessante Verhandlung«, sagte sie.

Er zuckte mit den Schultern. »Mein Sohn würde sagen: »Dumm gelaufen.« Ich ärgere mich darüber, Sie unterschätzt zu haben. Ich wurde vor Ihrem überzeugenden Auftreten gewarnt. Trotzdem glaubte ich, einen Freispruch erreichen zu können.«

»Ich verfüge über weitaus mehr Berufserfahrung, Herr Kollege, und habe den passenden Zeitpunkt für mein Vorbringen abgewartet.«

»Ich habe heute mehr gelernt als im letzten halben Jahr. Das nächste Mal bin ich besser vorbereitet«, antwortete ihr Gegenüber.

»Bis bald im Gerichtssaal«, antwortete Anna und steuerte den einzigen freien Platz an der Bar an. »Das Übliche«, sagte sie und betrachtete den neben ihr sitzenden Gast. Das Hemd war zerknittert und die Krawatte schlampig gebunden. Ein rostroter Fleck zierte seine Brust. Vermutlich ein Andenken aus dem Fast-Food-Restaurant ums Eck. Der oberste Hemdknopf stand offen. Ein dunkler Streifen zeichnete sich auf seinem bulligen Hals ab, wo der Kragen die Haut aufgeschürft hatte.

»Stammgast?«, fragte er.

»Gewesen«, antwortete Anna.

»Ich komme noch nicht lange her.«

»Frisch geschieden?«

»Bald.«

Anna vermutete, dass ihn seine Frau aus der Wohnung geworfen hatte und daher weder für das Bügeln seiner Hemden noch die Zubereitung seiner Lieblingsgerichte zur Verfügung stand. Wahrscheinlich schlief er stattdessen in einem schmucklosen Hotel oder seinem eigenen Büro und versuchte, seine Einsamkeit mit Barbesuchen erträglicher zu machen. Ein gestrandeter Wal auf der Suche nach Gesellschaft.

»Harter Tag?« Der Wal umklammerte mit einer Hand den Tresen und beugte sich zu ihr.

»Nicht härter als sonst«, antwortete Anna. Der Barkeeper brachte ihre Bestellung. Sie hob ihr Glas, lächelte und trank.

»Gin Tonic?«, fragte der Wal.

Anna nickte. »Ich kann den Geruch von Hopfen nicht ausstehen.«

»Sie sehen wie eine Ärztin aus«, sagte der Wal und schob sein Glas zur Seite.

»Unfallchirurgie.«

»Wow«, sagte er und leerte sein Bier. »Ich hasse Krankenhäuser.«

»Ich mag die Pralinen, die mir dankbare Patienten schenken.«

»Ich hätte getippt, dass Sie Süßigkeiten meiden«, sagte der Wal, »sonst wären Sie nicht so …«, er schien nach dem passenden Wort zu suchen, »… schlank.«

»Und selbst?«

»Ich liebe Zahlen. Reicht das als Hinweis?«, fragte der Wal zwinkernd.

»Unternehmensberater?«

»Leiter des Controllings.«

Anna lächelte innerlich. Ihr Nachbar war die perfekte Wahl.

Der Barkeeper brachte ein weiteres Bier. »Die Runde geht aufs Haus«, sagte er und nickte Anna zu.

»Du bringst mir Glück, Süße«, sagte der Wal.

»Hältst du mir den Platz frei?«

»Musst du mal für kleine Mädchen?«

Anna nickte.

»Für dich immer, Frau Doktor.«

»Bin bald zurück«, sagte Anna.

»Das sagen sie alle«, murmelte er.

Anna nahm ihre Tasche, durchquerte den Saal und ging über die Stufen ins Untergeschoß. Hier war es ruhiger, als hätte jemand eine Glocke über das Stockwerk gestülpt. Sie betrat die Damentoilette, wo alle Türen zu den Kabinen offen standen. Wieder auf dem Gang, horchte sie an der Herrentoilette. Auch hier war es still. Sie lauschte nach Schritten auf der Treppe, bevor sie hinter der gegenüberliegenden Tür mit der Aufschrift »Privat« verschwand.

»Anna«, rief Mimi und umarmte sie. »Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.«

»Dich vergessen? Klingt schwierig.«

»Du lässt dich nie blicken.« Mimi schmollte und trat einen Schritt zurück, »aber wahrscheinlich hast du Besseres zu tun, als dich in unserer Bar mit einsamen Männern herumzutreiben. Du siehst übrigens gut aus.«

»Du auch.« Mimi sah tatsächlich gut aus. Wenig erinnerte an die ausgezehrte Jugendliche, die Anna vor drei Jahren in der Notaufnahme aufgelesen hatte. Zu diesem Zeitpunkt lebte Mimi bereits über ein Jahr auf der Straße. Sie hatte eine schlimme Schnittwunde an der Hand. Da sie keine Krankenversicherung nachweisen konnte, wollte der diensthabende Arzt sie nicht behandeln. Anna fuhr Mimi mit dem Auto zu ihrem Hausarzt, kam für die Kosten auf und rang Mimi in nächtelangen Gesprächen in ihrem Gästezimmer das Versprechen ab, etwas aus ihrem Leben zu machen. Drei Jahre später hatte sie es zur stellvertretenden Geschäftsführerin des »Tel Aviv« gebracht. »Hast du wieder einmal deinen Traummann gefunden?«

Mimi nickte lächelnd.

»Wie heißt er diesmal?«

»Alex«, antwortete Mimi.

»Wie lange kennt ihr euch?« Sie wusste, dass Mimis größter Wunsch die intakte Familie war, die sie nie gehabt hatte.

»Zwei Wochen«, antwortete Mimi.

»Du wirst wohl nie erwachsen?«

»Muss ich das mit einundzwanzig schon sein?«

Anna schüttelte lächelnd den Kopf und griff nach dem Foto auf Mimis Schreibtisch. »Dein Traummann ist zu alt für dich.«

»Vierzig ist kein Alter«, sagte Mimi, setzte sich im Schneidersitz auf den Schreibtisch und zündete sich eine selbst gedrehte Zigarette an.

»Wie viele Exfrauen und Kinder hat er?«

»Zwei und zwei«, antwortete Mimi, nahm Anna das Foto ab und stellte es auf den Schreibtisch zurück.

Anna griff im Gegenzug nach Mimis Zigarette und drückte sie aus. »Ich dachte, du wärst reifer geworden. Glaubst du, meine Nase ist komplett verstopft?«

»Ein Joint schließt Reife auf anderen Gebieten nicht aus«, sagte Mimi.

»Willst du mich provozieren?«

»Pure Gewohnheit«, sagte Mimi und wühlte zwischen leeren Pappbechern und bedruckten Blättern, die verdächtig nach Rechnungen aussahen, bis sie eine verdrückte Packung Zigaretten gefunden hatte. »Was verschlägt dich zu mir?«

»Mein schlechtes Gewissen.«

»Seit wann besitzt du so etwas?« Mimi schnippte Asche in einen Pappbecher. »Wir sind nicht bei Gericht, hier brauchst du nicht zu bluffen. Was kann ich tun?«

»Kannst du für heute Schluss machen?«

»Willst du mit mir die Nacht durchtanzen?«

»Ich brauche deine Hilfe.«

»Seit wann kannst du dir nicht selbst helfen?«, fragte Mimi und drückte die Zigarette aus. »Was bekomme ich dafür?«

»Was sollen diese Spielchen?«

»Glaubst du, ich hätte auf der Straße überlebt, wenn ich mir nicht jeden Gefallen teuer hätte bezahlen lassen?«

»Du lebst nicht mehr auf der Straße.«

»Manchmal bereue ich meinen Schritt. Es war eine coole Zeit.«

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