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Das Handy nehme ich immer wieder in die Hand, hoffend auf ein Lebenszeichen von Sina und andererseits in der Versuchung, ihr meine ungebrochene Liebe in Großbuchstaben zu senden.
Dann las ich wieder ihre einfühlsamen, Mut machenden, durch nichts zu erschütternden auf eine gemeinsame Zukunft gerichteten sms', und ich begann, unsere Geschichte aufzuarbeiten.
Kapitel 4
Begründeter Optimismus
Wir altern und reifen zugleich. So wie wir an äußerlicher Attraktivität verlieren, gewinnen wir an innerer, wenn wir besonnen, ernsthaft, ehrlich und realistisch sind.
Inwieweit wir Werte leben und verkörpern ist unsere Entscheidung im selbstbestimmten Reifungsprozess. Dann kann auch das Älterwerden Glück und Zufriedenheit schenken und sogar eine neue Liebe zulassen.
In der Jugend erfahren wir vornehmlich durch unsere Erscheinung Aufmerksamkeit und werden mit Attributen wie attraktiv, sportlich, anziehend … belegt, sind beliebt, werden bewundert, auch begehrt und lassen es vielleicht auch zu.
Im Mittelalter müssen wir uns von der ersten Phase – wenn nicht schon innerlich gereift – schmerzhaft verabschieden, sind oft noch mit Wunschvorstellungen in ihr verhaftet. Eitelkeit und Realitätsferne verstellen oft den Blick.
Mit Hilfsmitteln versuchen wir festzuhalten und zu kaschieren, was zunehmend entgleitet. Jetzt sind wir gerne gesehen, geachtet, respektiert wegen unseres Charakters und unserer gelebten Werte verpflichteten Einstellung. Eine neue Liebe ist in dieser Phase möglich, wenn wir uns bei dem Blick durch die Schale bewähren. Dann sind wir der Liebe wert.
Im dritten Abschnitt hat äußere Attraktivität naturgemäß geringere Bedeutung und Umgehängtes erregt nur für den kurzen Augenblick Aufmerksamkeit. Das Auge sieht – das Herz nimmt wahr und erkennt.
Der neue Mantel, der schicke Anzug, das 78.-igste Paar Schuhe geben einen ersten flüchtigen, oberflächlichen, unreflektierten Eindruck; sie können nur für den Augenblick vom Wesentlichen ablenken. Es zählt allein die Attraktivität des Herzens. Deshalb unterliegt eine neue Partnerschaft in tief empfundener Liebe besonders kritischen Maßstäben. In diesem Lebensabschnitt stehen wir, Sina und Rune, in dem Ehrlichkeit aus Verantwortung für den Partner oberstes Gebot ist.
Wie lange haben wir noch? Können wir uns leisten noch ein Jahr, eine Stunde zu verschenken? ›Carpe diem!‹, in Ehrlichkeit aus Verantwortung füreinander.
Die Kostbarkeit der Zeit gebietet es umso mehr, den Partner mit schonungsloser Offenheit über nichts im Unklaren zu lassen oder aus Scham, Angst oder Zweifel darüber, wie die Wahrheit ankommen könnte, etwas zu verschweigen.
Und – bin ich wirklich für einen Neuanfang bereit oder sind meine Vorstellungen und Träume noch illusionär in der Vergangenheit verhaftet oder gar durch sie belastet? Nur wenn ich dem Partner aufrichtig, offen und ehrlich gegenübertrete habe ich das Geschenk verdient, ein aufregendes Wagnis im Alter erleben zu dürfen. Wenn Liebe an der Ehrlichkeit zerbricht, dann ist sie nicht stark genug. Ein Ende unserer Beziehung kann ich mir, auch für Sina, nicht vorstellen. Ich musste schon einmal durch den Schmerz hindurch; ein zweites leidvoll andauerndes Ende einer Partnerschaft bleibt mir hoffentlich erspart.
Weil Sina einmal mehr ohne Vorankündigung Funkstille praktiziert, eine Aussprache erneut ablehnt, unternehme ich den Versuch »Die Geschichte von Sina und Rune« aufzuarbeiten. Das soll mir helfen, Sinas Signale zu verstehen und mich für unsere Liebe reif zu machen.
Ich unternehme diesen Versuch in der festen Überzeugung: Das Schicksal hatte es für uns so einzigartig gefügt, damit unsere Herzen sich von allen Fremdeinflüssen und ablenkenden äußerlichen Eindrücken frei, kennen lernen und ihre Liebe füreinander entdecken durften.
Unsere so einmalige Geschichte einer letztlich unerschütterlichen Liebe wird ihre Fortsetzung finden.
Kapitel 5
Telefonate mit der Phantomfrau
Ausgangspunkt unserer wunderschönen, tief empfundenen Liebe, die immer wieder von quälenden, mit Zweifeln belasteten Phasen unterbrochen wurde, war die abendliche Abschlussveranstaltung einer Golfturnierwoche in Bayern im Juni 2010.
Busse brachten die Teilnehmer/innen in die Festhalle. Über zwanzig Notenständer auf dem Podium deuteten auf einen schwungvollen Abend hin.
Wir, sechs Mitglieder aus meinem Golfclub saßen mit Golffreunden aus NRW, Stuttgart und Leipzig an einem Tisch, ließen uns das Essen schmecken, folgten den Reden, der Siegerehrung, erfreuten uns an den Powerpoint-Bildern, tranken Wein und tauschten Erlebnissen der ereignisreichen, rundum gelungenen Turnierwoche aus.
Als die Musik zum Tanz aufspielte, bekam ich einen inneren Schubser, der mir bedeutete: Los, steh auf, wenn du dich heute nicht überwindest, dann bestimmt nie mehr.
Meine Frau war vor drei Jahren gestorben, ich lebte zurückgezogen, Ablenkungen erschöpften sich in notwendiger Haus- und Gartenarbeit, gelegentlichen Besuchen bei den Kindern und Enkelkindern und ausgiebigem Golfspiel. Bis heute hatte ich abgelehnt, Musik zu hören; auch im Auto schaltete ich das Radio nach den Nachrichten aus. Und jetzt sollte ich tanzen?
Der Zufall kam mir zur Hilfe, er hatte für mich einen Plan. Mir gegenüber, am übernächsten Tisch, saß eine Golferin, die das Turnier in meiner Gruppe mitgespielt, und die ich wiederholt gesehen hatte. Unsere Blicke trafen sich, und wir nickten uns begrüßend zu, was wie ein Übereinkommen war zu tanzen.
Wir gingen weitere Male aufs Parkett, unterhielten uns angeregt und tauschten die Telefonnummern aus. Es vergingen knapp zwei Wochen, bevor ich Erika in Nürnberg anrief. Es war für mich erfrischend eine neue Verbindung zur Außenwelt zu haben. Ich erfuhr, dass sie alleinstehend und nicht mehr berufstätig ist, ein enges herzliches Verhältnis zu ihren Kindern, besonders zu ihrem Enkel hat, den sie zuweilen mit auf den Golfplatz nimmt. Sie ist eine begeisterte Golferin mit disziplinierter und profunder Einstellung zum Spiel, wovon ich mich später persönlich überzeugen konnte.
Wir telefonierten oft. Unsere aktuellen Erfahrungen und Erlebnisse beim Golfen nahmen einen gebührenden Rahmen ein. Die Vorstellung auch einmal gemeinsam zu golfen gewann dabei zunehmend konkrete Formen. Es dauerte nicht allzu lange bis wir einen Termin vereinbarten.
Nach einem Besuch bei Verwandten in Thüringen fuhr ich weiter nach Herzogenaurach. Erika hatte für mich in der Nähe des Golfplatzes eine Unterkunft gebucht. Durch unsere Telefonate war es ein ungezwungenes Wiedersehen, ein harmonisches Golfspiel und zwei nette Abende. Als wir uns verabschiedeten holte ich das Einverständnis ein, sie einmal drücken zu dürfen. Diese Geste war mir ein Bedürfnis und gleichzeitig Ausdruck meines Dankes dafür, dass sie entscheidend dazu beigetragen hatte, aus meiner Isolation auszubrechen.
Wieder daheim setzten wir unsere Telefonate in gewohnter Weise fort bis Erika mich mit der außergewöhnlichen Frage konfrontierte, ob ich Kontakt zu einer ihrer Clubkameradinnen aufnehmen wollte.
Ich erfuhr, dass diese alleinstehend war, familiäre Bindung nach Sylt hat und eine Telefonbekanntschaft auch in ihr Leben einen neuen Farbtupfer bringen könnte. Dankbar und aufgeschlossen für jedes Schrittchen, das mich weiter ins Leben zurückführte, willigte ich ein. Erika hatte sich noch einmal bei ihrer Golfkameradin rückversichert, das Einverständnis bestätigen lassen und jetzt lag eine neue Telefonnummer vor mir auf dem Tisch.
Etwas aufgeregt drückte ich die kleinen Knöpfe, die richtige Nummer erschien im Display und das Freizeichen ertönte. Es dauerte nicht lange, dann meldete sich eine offensichtlich freundliche, aufgeschlossene Person mit sympathischer, vertrauenerweckender Stimme.
Wie unter Golfern üblich einigten wir uns ungezwungen auf Sina, Rune und Du.
Es folgte eine Zeit langer, intensiver, immer vertrauterer Telefonate bis zu zwei Stunden, zwei- bis viermal die Woche.
Ich erfuhr, dass Sina mit 66 Jahren drei Jahre jünger war als ich und noch unregelmäßig in einem Labor arbeitete. Sie ist ausgebildete Medizinisch-technische Assistentin (MTA), hatte ihren Beruf nach der Heirat aber nicht mehr ausgeübt, weil durch die Tätigkeit ihres Mannes mehrere Ortswechsel erforderlich waren. Nach ihrer Scheidung blieb Sina mit ihren beiden Töchtern, die jetzt verheiratet auf Sylt leben, in Langwasser wohnen. Sie war als Alleinerziehende dann 25 Jahre als Außendienstlerin bei einer Firma für pharmazeutische Geräte tätig.
Sina erzählte mir, dass ihr späterer Freund ebenfalls 2006 überraschend gestorben war. Das waren die persönlichen Daten, die ich von Sina erfuhr. Durch ihren Freundeskreis, die Geschwister in Hamburg, Stuttgart und Köln und ihre Töchter, dazu die Labortätigkeit war ihr Leben abwechslungsreicher und ausgefüllter als meines.
Eine Gemeinsamkeit haben wir aufzuweisen, wir sind beide in Schleswig-Holstein aufgewachsen, Sina auf Eiderstedt, ich an der Lübecker Bucht. Während Sina unser Bundesland nach ihrer Ausbildung verließ, blieb ich ihm bis heute treu.
Nach dem Studium trat ich meinen Dienst 1964 in Nordfriesland, in der grauen Stadt am Meer an der Schule an, an der ich 2006 auch pensioniert wurde. Als Lehrer, Studienrat und Schulleiter war ich knapp 42 Jahre im Beruf tätig. Mein Privatleben war ähnlich übersichtlich. Meine Frau lernte ich 1959 kennen, wir heirateten 1964, haben drei Kinder und zogen 1973 in unseren Neubau in Mildstedt, einem kleinen Ort nahe unserer Kreisstadt ein.
Mein Leben verlief in jeder Beziehung geradlinig. Wir führten eine harmonische Ehe in verlässlicher Treue, verreisten in den Ferien, wenn finanziell möglich und hatten einen festen Bekanntenkreis. Beruflich reichte jedes Mal nur eine Bewerbung für eine höhere Sprosse auf der Leiter. Meinen Ruhestand durften wir dann nur ein gutes Jahr erleben; im Sommer 2007 starb meine Frau.
Ohne Aufgaben und Verpflichtungen musste ich mich jetzt neu orientieren und Pflöcke einrammen, die mir Halt geben konnten.
Die Telefonate mit Sina waren eine unschätzbare Bereicherung für mich. Durch sie hatte ich wieder mehr Kontakt zur Außenwelt und das Gefühl aktiver am Leben teilzunehmen. Wir erfuhren viel voneinander, wo und wie wir wohnten, über die Tagesabläufe, besondere Vorkommnisse und Erlebnisse. Dafür war ich dankbar und freute mich auf jedes weitere Gespräch: auf die angenehme Stimme einer, wie ich es empfand, aufgeschlossenen, lebensbejahenden und auch lebenslustigen Person, 168 cm groß mit Kleidergröße 40. Letzteres von mir irgendwann einmal geschätzt, was Sina auf 38 - 40 korrigierte.
Unsere Kontakte zielten nicht auf eine Partnerschaft ab; sie waren das Bedürfnis und die Freude darüber, mit diesen Gesprächen das wenig aufregende Einerlei zu durchbrechen. Uns fehlte beiden ein Mensch, dem wir erzählen konnten, was wir gerade erlebt hatten und uns erwähnenswert erschien, aber auch das, was uns positiv oder negativ berührte.
Unbemerkt und ganz natürlich, wie selbstverständlich hatte sich eine zunehmende Vertrautheit aufgebaut, die auch Einblicke in die Gefühlswelt erlaubte. Über das Befinden alleine zu sein und Vorstellungen und Wünsche, an diesem Zustand etwas zu ändern. Wir gestanden uns, dass uns am stärksten ein Partner an der Seite fehlte, ohne dass auch nur ansatzweise mitschwang, wir könnten vielleicht diese Person sein. Uns tat es einfach nur gut einen Menschen zu haben, mit dem wir über alles reden und ihm vieles anvertrauen konnte.
Ich hatte Sina erzählt, dass bei meiner Frau 1989 gesundheitliche Probleme auftraten: ein Druck vor der Brust deutete auf eine Stenose hin. Tatsächlich wurde sie 1990 dilatiert – eine Gefäßerweiterung durch Ballondehnung -, das ihr fünf Jahre unbeschwertes Leben bescherte.
Dann wurde eine By-pass-Operation erforderlich, die ihr alte Lebensqualität zurückgab. Vor jedem neuen Eingriff meldete sich das »Warnsystem« rechtzeitig; darauf war Verlass und es gab meiner Frau scheinbar eine gewisse Sicherheit und Beruhigung. So auch 2004, als ein Stunt gesetzt werden musste.
Wie es in ihr wirklich aussah, sie sich wirklich fühlte, das gab sie nicht preis. Auf die Frage, von wem auch immer gestellt: »Jutta, wie geht es dir?«, antwortete sie stets: »Mir geht es gut.« Und niemand hatte Zweifel an der Richtigkeit dieser Aussage. Meine Frau war diszipliniert und stark und sie hätte uns nie beunruhigen wollen. Ich musste also vieles erahnen, war auf eigene Beobachtungen und mein Einfühlungsvermögen angewiesen.
Jutta hatte Pläne für die Zeit im Ruhestand: Freundeskreis, Kultur, Reisen. Aber auch den äußeren Rahmen gestaltete sie noch einmal neu: 1999 Teakmöbel aus Dänemark für Wohn- und Esszimmer, dazu Lampen und Leuchten aus Heiligenstedten, eine neue Küche folgte 2004 und das Schlafzimmer bestellten wir im April 2007. Damit war der Rahmen perfekt und komplett. Doch für wen?
Mitte Juni musste ich meine Frau ins Krankenhaus bringen. Damit sie sich ein Bild vom neuen Schlafzimmer machen konnte, hatte ich ihr eine Tapetenprobe gezeigt, den Farbton hatte sie gewählt. Am 2. August konnte ich ihr erzählen, dass die Möbel am Vormittag angeliefert und aufgestellt worden waren. Am Abend verstarb sie.
Sina und ich erfuhren langsam immer mehr voneinander; die Mosaiksteine komplettierten das Bild zunehmend. Jeder gab so viel preis wie er für richtig hielt, neugieriges Nachfragen war uns fremd.
Mit unseren Telefonaten lebten wir in einer anderen Welt. Ein Verstellen machte keinen Sinn, wem sollten und wollten wir etwas vormachen und weshalb? Einem Phantom? Es gab nicht den geringsten Grund.
Es offenbarten sich grundehrliche Einstellungen, Gefühle und Wünsche. Die Gedanken konnten sich frei und ungegängelt bewegen, sie unterlagen keinen Zwängen. Es war ein Vertrauen und Anvertrauen ohne Konsequenzen. Das machte alles so einmalig, offen, ehrlich – zwei Seelen vertrauten sich an. Es war ein befreites, unbekanntes aufeinander Zugehen, das wir mit jedem Gespräch aufs Neue pflegten, genossen und vertieften. So wuchs ein unerschütterliches Vertrauen ohne Störfaktoren von außen, unglaublich erfrischend und bereichernd.
Zunehmend bedeutsamer aber wurde für mich zu erfahren, wie Sina etwas aufnahm, erlebte und bewertete und welche Emotionen mitschwangen. Es war für mich eine vollkommen neue Erfahrung; ein Mensch erschloss sich mir auf eine noch nie erlebte Weise. Es entstand ein Bild von Sina, indem ich in sie hineinschaute; auf diese Weise wurde sie mir noch vertrauter.
Äußerlichkeiten waren außen vor, sie konnten keinen Einfluss nehmen, nicht von dem was Sina wirklich ausmachte, ablenken. Allein die Werte, die ihr wichtig sind, ihr Leben bestimmen und prägen, erfuhren meine Aufmerksamkeit. Wir lernten den Menschen kennen, sein Äußeres spielte keine Rolle.
So lernte ich Sina kennen und schätzen, ohne mir dieses gezielt ins Bewusstsein zu holen. Erst als unser erstes Treffen näher rückte, mussten wir uns Erkennungshilfen geben.
Kapitel 6
6 ′ – Rune und Sina geben sich ein Gesicht
Früher als ich noch Fahrschüler war, war darauf Verlass: die Züge hielten den Fahrplan ein; heutzutage sind Verspätungen an der Tagesordnung. Aber gerade heute, am 12. Okt. 2010, durfte das nicht passieren. Ich war allein auf diesen einen Zug fokussiert. Ankunft 13.56 h aus Hamburg-Altona, Weiterfahrt um 14.02 h nach Westerland. Ich war angespannt und aufgeregt. Schließlich war Sina mir sehr nahe gekommen, mehr noch als die Menschen, die mir in den einsamen, trost- und freudlosen letzten drei Jahren zur Seite gestanden hatten. Sie war mir vertraut und herzlich verbunden. Ihr hatte ich meine geheimsten Gedanken, Gefühle, meine Sehnsüchte, scheinbare Ausweglosigkeit und auch Träume von einem sich wohl nicht mehr erfüllenden Lebensabend in Zweisamkeit erzählt.
Über diesen ›sechser‹ im Leben sprachen wir auch in unseren Telefonaten. Es war ein Traum. Ich hatte Sina Einblick in die letzten Winkel meiner Seele gewährt. Ich war dankbar, dass ich mit ihr jemanden hatte, dem ich alles anvertrauen konnte.
Unaufhaltsam rückte Sinas Kurzaufenthalt auf dem Bahnhof, Gleis 2, jetzt näher. Es waren nur sechs Minuten und davon durfte keine Sekunde ungenutzt verstreichen. Ich stand, gegen meine Gewohnheit, schon zehn Minuten früher auf dem Bahnsteig, nachdem ich mich zuvor wiederholt vergewissert hatte, dass es auch der richtige war. Ich stand da, zunehmend aufgeregter, und mir wurde urplötzlich in aller Deutlichkeit und zweifelsfrei bewusst: Das wird kein Kennenlernen; gleich werde ich der vertrauten, längst liebgewonnenen Frau gegenüberstehen.
Endlich tauchte der Zug auf, noch in großer Entfernung, aus einer leichten Linkskurve, einer langen stählernen Schlange gleich, die das Sonnenlicht immer mal wieder reflektierte. Jetzt waren es nur noch wenige hundert Meter, der Bremsvorgang schon eingeleitet.
Per sms hatte Sina mir mitgeteilt, dass sie im zweiten Wagen saß. Ein letztes Quietschen der Bremsen; der Zug stand – sogar eine Minute früher. Die Türen öffneten sich, und als eine der ersten trat Sina heraus, ohne Jacke, ohne Gepäck – ja, das musste sie sein. Sie kam zielsicher auf mich zu, hatte sie es doch einfacher, mich schon aus dem einfahrenden Zug heraus zu erspähen.
Nach kurzer Vergewisserung begrüßten wir uns wie unter Golfern üblich, mit leichtem Armumlegen und angedeutetem Kuss auf die Wange. Diese Begegnung war so außergewöhnlich einmalig, nicht wiederholbar. Zwei mehr als vertraute Menschen gaben sich ein Gesicht. Jetzt war sie nicht mehr die Phantomfrau, jetzt war sie Sina.
Und ich wusste in diesem Moment in aller Klarheit, dass sie schon lange vorher in meinem Herzen angekommen war. Empfindungen und Gefühle nahmen von mir Besitz, auf die ich so nicht vorbereitet war, mich überwältigten und wortkarg machten. Da wusste ich: das ist die Frau, die ich schon lange liebe.
Wir standen in der Tür des Wagons, jede Sekunde auskostend. Die Abfahrt rückte schon bedrohlich näher, als Sina unvermittelt fragte:
»Enttäuscht«?
Ich konnte ihr hoffentlich überzeugend das Gegenteil versichern. Meine wahren Gefühle blieben aber noch mein Geheimnis.
Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Wir schauten uns so lange wie möglich nach. Den Bahnsteig konnte ich erst verlassen als die Rücklichter sich zunehmend schneller entfernten, immer kleiner wurden und die Schranken sich wieder geöffnet hatten.
Ihr fragender Blick und das ›enttäuscht‹ ließen mich nicht los. Ich fühlte es, auch für Sina war aus unserer Telefonfreundschaft spätestens heute mehr geworden.
Kapitel 7
Zwei Tage auf Sylt
Wir telefonierten und verabredeten wie bereits früher angedacht, meinen Besuch auf Sylt für den 14. Oktober. Jetzt hatte ich noch eine knappe Stunde Zeit mich emotional auf unseren ersten gemeinsamen Tag auf der Trauminsel einzustellen, bevor der Zug in Keitum halten wird. Hier wohnt Sinas ältere Tochter Brigit mit ihrem Mann und den beiden Mädchen Christa und Petra, 13 und 11 Jahre alt. Wenn alle vier oder nur die Eltern Urlaub machen, hütet Sina Haus und Hund.
Sina erwartete mich mit Pepe, einem Teckel. Obgleich ich sie am liebsten fest in die Arme geschlossen hätte, beließ ich es bei der flüchtigen Umarmung.
Zum Haus gingen wir ca. sieben Minuten, wo Sina bereits alles für ein zweites Frühstück vorbereitet hatte. Der liebevoll gedeckte Tisch hätte jedem Appetit auf ein ausgedehntes Frühstück gemacht – nur mir nicht. Vor Anspannung schaffte ich gerade ein Brötchen. Dieses viertelte ich und belegte jedes Stück mit einer anderen Köstlichkeit, um Sinas Mühen wenigstens auf diese Weise zu würdigen.
Ein Spaziergang am Strand zwischen Westerland und Wenningstedt verschaffte Pepe Auslauf und uns die ersten Gespräche von Angesicht zu Angesicht bei strahlend blauem Himmel und Schaumköpfen auf dem Meer.
Pepe hatte sich sichtlich müde gelaufen. Er war zufrieden als er zu Haus im Körbchen lag, und wir hatten jetzt, ohne ›Störfaktor‹, Zeit für uns ganz alleine. Auf ging’s nach List. Bei ›Gosch‹ würden wir bestimmt etwas für unser leibliches Wohl finden.
Auf der Fahrt dorthin kamen wir auf unsere so unterschiedlichen Lebensläufe zu sprechen, wobei Sina meinte:
»Dein Leben ist so geradlinig und in festen Bahnen verlaufen, das gibt es nur selten. Bei mir gab es immer wieder Zick-zack-Kurven, und ich bin auch nicht auf alles stolz.«
Ich deutete diese Äußerung als Sehnsucht danach jetzt endlich ein ruhigeres Leben zu führen und hoffte schon insgeheim, dass sie sich dieses mit mir vorstellen konnte und wünschte.
Wir hatten Jakobsmuscheln gewählt, dazu einen trockenen Weißwein und saßen an einem der vielen Tische vor dem Restaurant. Es war eine Köstlichkeit und, mit Sina an meiner Seite, ein Erlebnis wie ich es seit einer Ewigkeit nicht genießen durfte. Seitdem Sina eine Gestalt angenommen hatte, tatsächlich bei mir war, genoss ich das Leben wieder; ich war nur einfach glücklich.
Die Geschäftszeile gegenüber dem Restaurant quoll über mit Souvenierartikeln; sie konnten unsere Aufmerksamkeit nicht erwarten. Wir waren schnell wieder draußen.
Auf dem Weg zum Parkplatz, es wurde jetzt frischer, hakte Sina sich, sicherlich nicht nur deshalb, bei mir unter. Ihre Berührung elektrisierte mich, und ich drückte meinen Arm fester an den Körper, damit ihre Hand nicht wieder raus rutschen konnte. Sie sollte wissen wie gut mir das tat.
Auf der Rückfahrt machte Sina auf einige Dinge aufmerksam: Flugplatz, Gebäude, Restaurants, Golfplatz und erzählte vom Golfunterricht, den sie hier im Vorjahr genommen hatte. Im wesentlichen aber schwiegen wir. Unsere Gefühle füreinander beschäftigten uns, und wir ließen es nur allzu gerne zu.
Zum Glück blieben uns noch ein paar Stunden. Abendbrot, Gassigehen, und der Ausklang eines wunderschönen Tages bei einem Glas Rotwein. Ich saß auf dem Dreiersofa, Sina auf dem zweier, zwischen uns der Couchtisch. Es war nur noch knapp eine Stunde bis zur Abfahrt des Zuges, 21.29 h. Ich war kurz raus gegangen, und als ich den Raum wieder betrat, hatte Sina den Platz gewechselt. Sie saß jetzt auch auf der Dreiercouch. Ich setzte mich neben sie, wir wechselten kein Wort, sahen uns nur erwartungsvoll an und küssten uns das erste Mal – noch nicht leidenschaftlich. Es war mehr das gegenseitige Eingeständnis: wir gehören zusammen, wir wollen es wagen.
Auf dem Bahnhof hatten wir noch ein paar Minuten und unsere Lippen waren sich einig, dass sie noch viel mehr Zeit füreinander haben möchten.
Der 18. Oktober war unser zweiter Tag auf Sylt. Gleicher Ablauf bis Pepe wieder im Körbchen lag. Dieses Mal fuhren wir gen Süden.
Nach einem kurzen Spaziergang in Hörnum suchten wir ein Café auf. Wir gingen nicht ans Kuchenbuffet; wir ließen uns die Leckereien von der Bedienung aufzählen und Sina bat sie, von uns ein Foto zu machen. Ich hatte noch nie so guten Heidelbeerkuchen gegessen.
Mit unserem anschließenden Spaziergang steuerten wir Budersand an. Das Hotel beeindruckte uns, den Golfplatz mit seinen unzähligen Topfbunkern werden wir vielleicht bald beurteilen können.
Wir schlenderten am Hafen entlang, hielten uns an der Hand und tauschten immer wieder Zärtlichkeiten aus.
Vor einer Karte mit den nordfriesischen Inseln und Halligen blieben wir stehen. Ich zeigte auf Hallig Hooge: »Da möchte ich mit Dir ein paar Tage Urlaub machen.« Sina stimmte sofort zu.
Bilder konkretisierten meine Phantasie. Nur wir beide auf der Hallig, das Glück ungestört genießen, mit aller Zeit der Welt. Uns alles erzählen, was wir noch nicht voneinander wissen und träumen von der Zukunft. Pläne schmieden von einem gemeinsamen späten Lebensglück. Hallig Hooge war wie ein Versprechen.
Vor dem Abendbrot gingen wir mit Pepe noch eine große Runde.
Der Zug brachte mich um 21.29 h wieder nach Hause. Ich fühlte mich so unbeschwert, war endlich wieder zuversichtlich und über alle Maßen glücklich; ich war in einen neuen Lebensabschnitt, in ein neues Leben gestartet.
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