Читать книгу: «Gefangen im Gezeitenstrom», страница 6

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Ich überlege mir, ob ich bei ihnen vorbeigehen und sie fragen soll, warum sie sich das in ihrem Alter noch antun. Sie täten besser daran, in ihrer Stammkneipe zu bleiben, ihre Wänste weiterhin mit Bier und Weißwürsten zu füllen, sie hätten möglicherweise eine geringere Lebenserwartung, aber garantiert ein besseres, um nicht zu sagen ein fröhlicheres Leben.

Seit meinem Eintritt als Lernender in die Welt der Erwachsenen besitze ich nun auch mein eigenes Trainingsabo. Und dieses will ich so oft als möglich nutzen, wenn auch Charly mit seinem Vater einen reduzierten Spezialpreis für mich ausgehandelt hat. Dreimal die Woche. Das ist meine selbst auferlegte Mindestlimite, die ich unbedingt einhalten will.

Ich bin eigentlich ganz froh darüber, dass Charly sich hinter den Empfangstresen zurückgezogen hat und mich nicht ständig begleitet. So kann ich ungestört und in aller Ruhe trainieren, ohne dass mir jemand den Kopf vollquasselt. Nach einem langen Arbeitstag, ohne nennenswerte Highlights, genieße ich die physische Herausforderung, ja, es beflügelt mich, meine Muckis arbeiten und wachsen zu sehen, das heißt, wenn ich in regelmäßigen Abständen an den Geräten weitere Gewichte dazulegen kann.

Punkt 21.45 Uhr beende ich mein Krafttraining. Die Geräte für die Ausdauer lasse ich einmal links stehen. Eine erfrischende Dusche wartet auf mich.

Ich fühle mich kein bisschen schlapp, als ich zu Charly hingehe, der gerade im Begriff ist, die Lüftung auszuschalten und die Lichter zu löschen.

„Weißt du, worauf ich jetzt Megalust hätte?“, beginne ich und Charly schüttelt den Kopf. „Auf ein großes kühles Bier in einer tollen Musik-Bar!“

„Hey, Mann! Wo nimmst du bloß diese Energie her?“, fragt Charly, sichtlich beeindruckt, aber auch irgendwie belustigt. Ihm ist schon seit einer Weile aufgefallen, wie ich mich allmählich verändert habe. Physisch wie auch psychisch, denn mein verbessertes Selbstbewusstsein müsste mittlerweile jedem auffallen, der mich kennt und mit mir zu tun hat. Und ich könnte mir vorstellen, dass Charly mich gelegentlich darum beneidet.

„Komm, lass uns noch schnell bei Miller’s reinschauen, dann mach ich nachher einen Abgang. Ich bin ziemlich k. o. War ein langer Tag heute“, erklärt Charly und ich sage zu.

Das Miller’s, eigentlich Miller’s Hafenkneipe, zählt zu den trendigsten Lokalen in der Altstadt. Der Name des Lokals nimmt Bezug auf seinen aktuellen Besitzer, einen gewissen Terri Müller, der angeblich wegen der Coolness fortan mit Miller angesprochen werden will, sowie auf die Lage nahe am Fluss. Es ist das letzte Haus am südlichen Ende der Fußgängerzone, die dort in einen größeren Platz übergeht, der allerdings von einer vielbefahrenen Durchgangsstraße entzweigeschnitten wird. Auf der anderen Seite befinden sich ein paar Handels- und Lagergebäude aus dem Mittelalter, die Schifflände mit den dicken Eichenpfählen, an denen die Touristenkähne festgebunden werden, sowie die Uferpromenade. Daher ist der Name der Kneipe eher eine Persiflage, denn an dieser Stelle gab es nie einen Hafen, und die Stammgäste sprechen sowieso nur von Miller’s.

Wir setzen uns an die Bar und bestellen zwei große Biere. Zunächst hocken wir mehr oder weniger wortlos da und beobachten die paar wenigen Leute im Laden. Charly macht wirklich einen eher schlappen Eindruck, dennoch registriert er, wie ich des Öfteren mit meinen Gedanken in ferne Welten entrücke und dabei still vor mich hinschmunzle.

„Hey, Olli, woran denkst du gerade?“, fragt er. „Bist du etwa verknallt?“

Ich zucke die Schultern.

„Nun sag schon, hast du ein Mädchen?“

„Na ja“, beginne ich, „nicht so direkt.“

„Jetzt mach doch mal die Klappe auf! Was heißt bei dir ‚direkt‘? Hast du nun eine oder nicht?“ Charly will das schon etwas genauer wissen.

„Nun ja … ich habe heute Nachmittag ein Mädchen kennengelernt … nein, quatsch! Nicht kennengelernt, nur getroffen … aber sie sah so aus wie … einfach: wow! Ich muss sie unbedingt wiedersehen!“

„Na, hör mal: Ich treffe jeden Tag Mädchen, die ‚wow‘ sind. Aber deswegen kann ich nicht immer gleich den Planeten wechseln!“, gibt Charly zu bedenken.

Ich lache laut heraus, denn ich weiß, dass der schüchterne Charly sich bisher kaum getraut hat, ein Mädchen anzusprechen und nach dessen Namen zu fragen.

„Und …? Hast du sie angesprochen?“

„Nein, nicht so … nur Hallo gesagt.“

„Oh Mann, du bist vielleicht ein Held!“ Charly zieht die Stirn in Falten. „Und wo hast du nur ‚Hallo‘ gesagt?“

„Beim Kiosk im Supermarkt. Sie arbeitet dort“, erkläre ich.

„Na, das klingt doch super. Dann geh doch morgen wieder hin. Kauf den Laden leer, sag was Nettes und blick ihr tief in die Augen!“, ereifert sich Charly.

„Das werde ich ganz bestimmt tun. Darauf kannst du dich verlassen!“ Meine Augen strahlen. Das ist sogar im Schummerlicht der Bar deutlich zu sehen. Das behauptet jedenfalls Charly.

8

In der kalten Jahreszeit bastle ich mir oft selbst eine warme Mahlzeit zusammen. Es sei denn, Mum kann sich aufraffen, ein richtiges Abendessen vorzubereiten, ansonsten gibt es die aufgewärmten Reste vom Mittag. Nicht gerade feudal, aber allemal besser als frittierte Engerlinge oder geröstete Heuschrecken.

An diesem Abend allerdings muss es schnell gehen. Schon von der Eingangspassage her sehe ich sie wieder. Sie steht an der Theke und bedient Kundschaft, meist Schüler, die sich mit Proviant eindecken. Sie hat dieselbe gleichgültige und gelangweilte Mimik aufgesetzt wie am Tag zuvor. Ich schnappe mir ein Thunfischbrötchen und eine Cola, dann warte ich einen günstigen Augenblick ab, damit ich allein an der Theke stehen kann, und tu dabei so, als würde ich die Auslage bei den Magazinen studieren. Endlich ist es so weit. Ich gehe zu ihr hin und lege die Sachen auf die Theke.

„Hi!“, sage ich.

„Hi!“, gibt sie zurück.

„Acht Franken dreißig“, sagt sie.

Ich schütte etwas Kleingeld in die Hand, um Zeit zu schinden, und beginne abzuzählen. Dann fasse ich mir ein Herz und frage sie, so zum Einstieg: „Arbeitest du schon lange hier?“

Die Antwort kommt unerwartet wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel: „Hey, Mann! Was soll denn diese dämliche Anmache? Um es gleich vorwegzunehmen: Ich treffe mich heute Abend mit Freundinnen zum Sushi-Essen, ich habe keine Lust auf Kino und ich lasse mir nicht von jedem dahergelaufenen Gassenjungen an den Busen grabschen!“

Das sitzt. Wie ein Boxhieb in die Magengrube.

Ich lasse den Kopf hängen, gebe mich aber noch nicht geschlagen. Okay, ich bin schon etwas verwirrt und unsicher. Mit den Schultern zuckend meine ich nur: „Tja, dann entschuldige bitte. Ich wollte dich nur fragen, ob du schon eine Verabredung hast oder ob du einen Gassenjungen wie mich heute Abend zum Essen begleiten würdest und ob du mit mir am Wochenende im Kinepolis Twilight gucken möchtest.“

Verlegen und offensichtlich beschämt lässt sie nun den Kopf sinken und starrt auf ihre Hände, mit denen sie sich an der Theke abgestützt hat. „Ich bin wohl die, die sich entschuldigen muss“, gibt sie kleinlaut bei. „Sorry, ich wollte dich nicht einfach so ungespitzt in den Boden rammen.“

„Schon gut, ich hab dich verstanden“, meine ich und will schon weggehen.

„Nein, warte! Du hast nicht verstanden! Ich meine … okay, ich habe falsch reagiert. Ach … Scheiße, red ich einen Stuss zusammen.“ Sie fährt sich mit beiden Händen durch die wundervollen Haare und wirft den Kopf in den Nacken. „Ich arbeite seit zehn Tagen hier und der Job beginnt jetzt schon mich anzuöden!“, fährt sie fort. „Außerdem bin ich hier von lauter Deppen umgeben.“

Für weitere Gespräche reicht die Zeit nicht mehr. Erneut treten Kunden an die Kasse und wie so oft kommen sie zu den ungünstigsten Gelegenheiten und immer gleich rudelweise.

„Also dann, schönen Abend noch“, wünsche ich. „Und überleg dir trotzdem die Sache mit Twilight!“

„Okay, werd ich machen!“

Ich wende mich dem Ausgang zu. Auf halbem Weg dreh ich mich nochmals um und rufe quer durch die Menge: „Übrigens, welchen Namen hat man dir auf den Weg mitgegeben?“

„Ariya“, klingt es von der Theke herüber. „Und dir?“

„Oliver“, antworte ich und sende ihr ein Lächeln zu.

Ich drücke die Glastür auf, die auf den Platz hinausführt. Beißende Kälte schlägt mir entgegen. Ich schlage den pelzgefütterten Kragen meiner Jacke hoch. Trotzdem bin ich guter Laune wie schon lange nicht mehr. Ich habe es ganz deutlich gesehen, dessen bin ich mir sicher: Sie hat mich gleich zweimal angelächelt. Das erste Mal, als ich die Esswaren auf die Theke legte und sie „Hi!“ sagte, und das zweite Mal, als ich nach ihrem Namen fragte. A r i y a, formen lautlos meine Lippen. Wie ein zuckersüßes Bonbon lasse ich leise ihren Namen auf meiner Zunge zergehen.

Ich will das Prozedere gleich am nächsten Tag wiederholen. Und dieser beginnt so lausig, wie der Vortag zu Ende gegangen ist, nämlich grau und trüb. Also ein typisch ostschweizerischer Depro-Tag, der nicht einmal witterungsmäßig etwas Gescheites hervorbringen kann. Entweder weht von Sibirien eine scharfe Bise übers Land, bringt nur kalte, aber trockene Luft oder es strömen vom Atlantik feuchte Luftmassen her, dann ist es zu warm, um den Regen in Schnee zu verwandeln, welcher die sonst eher triste Landschaft in eine persilweiße Decke gehüllt hätte. Und mit zunehmender Klimaerwärmung wird die Sache nur noch trostloser. Da kann jedes aufmunternde Wort nur willkommen sein.

Aber Ariya ist nicht da!

Mit hängendem Kopf nehme ich irgendein Sandwich und eine Cola aus dem Kühlregal, bezahle und verlasse den Laden. In der Einkaufspassage setze ich mich auf eine Treppenstufe und beginne lustlos an meinem Brot herumzukauen. Nach ein paar Bissen, die mir beinahe im Hals stecken bleiben, werfe ich die Reste in einen Mülleimer und gehe durch die Kälte nach Hause.

Auch am folgenden Abend ist sie nicht anwesend.

Und dann kommt das Wochenende. Normalerweise ist es viel zu kurz. Für mich dauert es diesmal viel zu lange. Nur schon, wenn ich an Ariya denke, werde ich kribblig. Als es dann noch Zoff mit den Alten gibt, ist es endgültig vorbei mit meiner Geduld und ich verbringe die meiste Zeit in Ruedis Muckibude oder in Miller’s Hafenkneipe.

Schon am Freitagabend ist Feuer unter dem Dach. Leichter Nieselregen setzt ein und überzieht innert weniger Minuten sämtliche festen Beläge mit einer feinen, spiegelglatten Eisschicht. Insbesondere die Straßen und Gehsteige sind davon betroffen. Das Tiefbauamt leistet zwar ganze Arbeit und setzt unverzüglich die Fahrzeuge mit den Salzstreugeräten ein. Bis diese jedoch auch die Außenquartiere erreichen, kommt es bereits zu zahlreichen Verkehrsunfällen und die Belegschaft des Kantonsspitals hat alle Hände voll zu tun, um die eingelieferten Knochenbrüche zu reparieren.

Als ich abends endlich nach Hause komme, wäre es mir beinahe ähnlich ergangen. Kaum habe ich das Gartentor aufgestoßen, rutsche ich auf den vereisten Gehwegplatten aus und kann einen Sturz nur dank meiner blitzschnellen Reaktion und einer bühnenreifen Akrobatik verhindern. Trotzdem vergesse ich in meinem Frust wegen Ariya, den Zugangsweg zu streuen.

„Hallo, Opa!“, rufe ich beim Eintreten in den Flur.

„Massenkarambolage auf der J15, in Fahrtrichtung Deutschland! Hast du gehört?“, grüßt Opa. Ich schweige. „Typisch Feierabendverkehr. Da kann es nie schnell genug gehen. Sogar bei Glatteis, diese Idioten!“, ergänzt er. „Und zwischen Eglisau und Bülach hat ein umgestürzter Baum die Fahrleitung heruntergerissen. Geschieht ihnen ganz recht. Das kommt davon, wenn man am falschen Ort spart!“, vervollständigt Peter seinen Bericht.

Ich zucke die Schultern und meine nur: „Tja, dann wird es wohl so sein, wenn du das sagst.“

Damit ist die tägliche Konversation abgeschlossen und ich gehe die Treppe hoch auf mein Zimmer.

Am späteren Abend geschieht die Beinahe-Katastrophe. Gertrud kommt müde und ausgelaugt von der Arbeit nach Hause. Sie hat kaum das Tor geöffnet, als ihr rechtes Bein wegrutscht. Derart schafft sie mit einem Schritt ein Wegstück, für das sie normalerweise fünf Schritte gebraucht hätte. Dafür liegt sie dann flach wie ein Käfer auf dem Rücken. Durch ihren kurzen, aber schrillen Aufschrei alarmiert, komme ich die Treppe heruntergerannt und helfe meiner Mum auf die Beine. Glücklicherweise hat sie sich nichts gebrochen und trägt keine offenen Verletzungen davon. Aber sie hat sich eine äußerst schmerzhafte Bänderzerrung am linken Knie und eine Verstauchung des rechten Handgelenkes zugezogen. Das heißt, sie ist nun für eine Weile außer Gefecht gesetzt und muss vorerst einmal zu Hause bleiben. Das tut sie jedoch nur mit äußerstem Widerwillen und verleiht ihrem Unmut lautstark Ausdruck, bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Sogleich beginnt auch Peter auf mir herumzuhacken: „Verdammt noch mal! Hättest du nicht schon vorher den Weg streuen können? Du hast doch gesehen, dass alles dick vereist ist. Wozu steht wohl seit Ende September ein Eimer mit Streusalz im Flur?“

Das bringt das Fass zum Überlaufen. Fassungslos schreie ich zurück: „Und warum hast du’s nicht getan? Ich komme von der Arbeit nach Hause. Du aber liegst hier nur den ganzen Tag herum und schaust in die Glotze. Du hättest nur einmal deinen blöden Arsch bewegen müssen!“

Völlig außer mir drehe ich mich um, eile die Treppe nach oben, packe mein Trainingszeug zusammen und verlasse das Haus, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Mein Tourenmesser bewegt sich immer noch bei etwa einhundertachtzig und mit hochrotem Kopf stoße ich die Tür zu RUEDIS POWER auf. Ich grüße knapp die Anwesenden. Ruedi sitzt hinter dem Kassentresen und starrt auf den Monitor mit den Blick am Abend-News und Charly stemmt Hanteln. Zwei weitere Kunden ächzen und schwitzen hinter irgendwelchen Maschinen eingeklemmt.

In der Umkleide präsentieren mir zwei alte Säcke, die soeben geduscht haben, ihre schlaffen Arschbacken. Einer hat eine braune, lederartige Haut, zu viele Falten und macht den Anschein, als hätte er in jüngeren Jahren allzu oft eine Überdosis Sonnenbank genossen. Der andere ist blasser, aber von Warzen übersät. Ungehemmt zeigen sie sich auch von ihrer Vorderseite, während sie sich mit viel zu kleinen Handtüchern trocken reiben. Das Grillfleisch berichtet dem Warzenschwein von dem soeben beendeten Engadin-Urlaub. Offenbar gehören regelmäßige Trinkkuren in der alten Therme von Schuls zu dessen Standardprogramm. Er schwafelt etwas über schwefelhaltige Quellen, die alle einen eigenen Namen tragen: „Ich trinke immer von der Cäcilienquelle“, berichtet er.

„Und anschließend lasse ich meinen Dünnschiss ins Dixiklo am Innufer abschlammen …“, ergänze ich sein Statement in meiner Fantasie. Vermutlich handelt es sich bei diesen übel riechenden und Brechreiz erregenden, nach faulen Eiern stinkenden, sogenannten Heilwassern ohnehin nur um kontaminiertes Sickerwasser aus einer geheimen militärischen Sondermülldeponie.

Die beiden grinsen beknackt und schwenken provokativ ihre Schrumpfpimmel, die mich irgendwie an rohe Bauernbratwürste erinnern, in meine Richtung. Angewidert und demonstrativ wende ich meinen Blick ab. Ich fasse den endgültigen Entschluss, niemals auf diese Weise alt zu werden.

9

„Oh Mann, dich hat’s wohl eiskalt erwischt!“, bemerkt Charly grinsend, als er sieht, wie ich mit hochroter Birne bei einem Gerät für das Bauchmuskeltraining ein paar Scheiben zusätzlich als üblich auflege. Aber ich bin ganz und gar nicht zu Späßen aufgelegt. An diesem Abend hasse ich so ziemlich alles, was nicht unmittelbar Wärme und Geborgenheit ausstrahlt. Das launische Wetter, die miserable Stimmung im Elternhaus, die kühle Atmosphäre im Fitnesscenter. Ja, sogar Charly würde ich am liebsten einen Fußtritt in den Hintern verpassen. So schlage ich mir den halben Abend um die Ohren. Erst unter der Dusche komme ich langsam wieder herunter. Dafür macht sich ein starkes Hungergefühl bemerkbar. Ich verlasse Ruedis Power, bleibe jedoch unschlüssig im kalten Treppenhaus stehen, dann entscheide ich mich und gehe ein Stockwerk höher, wo die Wohnungen liegen. Ich klingle zaghaft bei Zipsin.

„Hallo, Oliver! Was machst du denn noch hier? Du warst im Training, nicht wahr?“, ruft Albert überrascht aus.

„Wer ist es, Albert?“, lässt sich nun eine Frauenstimme aus dem Wohnzimmer vernehmen, noch bevor ich antworten kann.

„Guten Abend, Ingrid“, rufe ich an Albert vorbei in den Flur hinein.

„Grüß dich, Oliver“, kommt es zurück.

Ich senke verlegen den Kopf. „Du, Albert, könnte ich eventuell heute Nacht bei euch bleiben? Mich kackt es an, nach Hause zu gehen. Ich hatte Zoff mit den Alten.“

„Aber sicher!“, meint Albert. „Für Gäste wie dich haben wir immer ein freies Bett.“

„Oh, vielen Dank! Weißt du, ich brauche einfach noch jemanden, mit dem ich vernünftig reden kann.“

Und während Albert mir den Arm auf die Schultern legt und mich in den Flur zieht, bemerkt er: „So wie es aussieht, könntest du auch noch was Warmes zwischen die Rippen vertragen.“ Ich nicke dankbar. Damit ist immerhin das Wochenende gerettet. „Ingrid hat einen prima Hackbraten gemacht, dazu gibt’s Kartoffeln und Salat“, sagt er und ergänzt: „Weißt du, eigentlich lohnt sich der Aufwand nicht für zwei Personen. Darum macht sie jeweils Braten, die für eine Großfamilie geeignet wären. Entweder laden wir dann Gäste ein oder wir haben eine Woche lang davon zu essen.“

Mein Magen knurrt erbärmlich, als mir der feine Duft des Hackbratens in die Nase steigt, der die ganze Wohnung erfüllt und dem ohnehin heimelig anmutenden Ambiente zusätzlich eine besondere Note aufsetzt. Die Wohnung der beiden ist nicht besonders groß, aber urgemütlich eingerichtet. Die Räume sind eher klein geraten, was in einer Gewerbeliegenschaft doch etwas überrascht. Eher erwartet der Besucher eine großzügige Loft. Einerlei. Die zwei haben jedes Zimmer sehr geschmackvoll eingerichtet. Wenig Modernes – die neuesten Errungenschaften sind vermutlich das TV-Gerät im Wohnraum und die Kücheneinrichtung. Alles Übrige entstammt schätzungsweise dem letzten Jahrhundert. Wer aber denkt, Albert und Ingrid wären Messies, der liegt völlig falsch. Das Mobiliar ist zwar alt, aber von auserlesener Qualität. Auf den Novilonböden liegen ein paar wenige, dafür handgeknüpfte Orientteppiche, davon zwei Afghanen, die der frühere Weltenbummler Albert einem Straßenhändler in Kabul abgekauft hat, zu einer Zeit, in der die beiden Buddhastatuen von Bamiyan noch heil in ihren Nischen standen und die WTC-Zwillingstürme noch unangefochten die Wahrzeichen Manhattans bildeten. Schon bei meinem ersten Besuch in Alberts Wohnung – und der liegt zwischenzeitlich um Jahre zurück – war ich von diesen Teppichen sehr beeindruckt, denn sie besitzen nicht nur die üblichen Blätterranken und Blumenornamente, und anstelle der traditionell verwendeten Symbole für Kamele und Dattelpalmen zieren allerlei Panzerfahrzeuge und Bombendarstellungen diese Erzeugnisse afghanischer Webkunst. Tja, damals wusste man im Westen noch nicht sehr viel über die Taliban, diese religiösen Fanatiker. Wahrscheinlich ahnte damals auch niemand, welchen Einfluss sie dereinst auf das Weltgeschehen haben würden.

Ingrid ist eine handwerklich begnadete Herstellerin von Porzellanpuppen, die sie mittlerweile in ganz Europa verkauft. Zur Ausübung ihres Hobbys hat sie sich eigens einen Raum als Mal- und Nähatelier eingerichtet. Sie findet, Porzellanköpfe – handkoloriert, versteht sich – eignen sich am besten, um lebensechte Babys und Kleinkinder nachzubilden. Eigentlich macht sie alles selbst, nur die Köpfe, die Oberkörper sowie Arme und Beine kauft sie als Rohlinge über das Internet. Dazu näht sie die passenden Kleider zusammen. Auch hier wieder ist die Mode dem neunzehnten Jahrhundert nachempfunden. Auf einem Biedermeiersofa in ihrem Atelier sitzt ein gutes Dutzend dieser fertigen Puppen, liebevoll arrangiert, als wäre es die Vorlage für ein Gemälde von Albert Anker.

Früher habe ich Ingrid einmal gefragt, ob das Puppenherstellen eine Reaktion oder eine Art Antwort auf ihre eigene Kinderlosigkeit ist. Sie hat eine Weile lang nachgedacht, dann plötzlich sagte sie ganz resolut: „Nein! Weißt du, Oliver, Kinder gebären kann jede, die sich einem Kerl hingibt. Das Erschaffen von lebensechten Puppen hingegen, das ist Berufung, Leidenschaft und Obsession in einem.“

Als ich mit der Frage nachgehakt habe, ob für sie die Gründung einer richtigen Familie nicht die größere Berufung gewesen wäre, ergänzte sie ihr Statement auf süffisante Weise: „Im Gegensatz zu lebendigen Kindern zerreißen meine Puppen nie ihre Kleider, sind nie schmutzig, also riechen sie nie übel und schreien niemandem die Ohren taub!“ Damit war meine Neugierde größtenteils befriedigt.

Etwas später, ich war mit Albert wieder einmal allein unterwegs, erklärte er mir, dass Ingrid in jungen Jahren vom eigenen Onkel auf brutalste Weise vergewaltigt wurde. Zwar steckte man den Unhold nach seiner Festnahme in die geschlossene Abteilung eines Sanatoriums, jedoch kam es nie zu einem gerichtlichen Verfahren. Niemand fühlte sich verpflichtet, gegen den Schweinehund den Prozess zu eröffnen. Und wie so oft in solchen Fällen – auch das entsprach dem damaligen Zeitgeist – ging das Opfer, also Ingrid, im wörtlichen Sinn leer aus. Nach der halbherzig, um nicht zu sagen schlampig ausgeführten Abtreibung blieb die junge Frau zeitlebens unfruchtbar. Eigentlich bewundere ich sie dafür, dass sie trotz aller erlittenen Pein ihre Lebensfreude und ihren Humor wenigstens teilweise bewahren konnte.

Obwohl in der ganzen Wohnung vielerlei Nippsachen herumstehen, Bücher und Zeitschriften herumliegen und gelegentlich auch mal eine leer getrunkene Bierdose oder ein Pizzakarton auf dem Salontischchen zurückbleiben, wirkt sie in keiner Weise unaufgeräumt oder gar schmuddelig. Nirgends wallt Staub und die Küche lädt stets dazu ein, wofür sie eingerichtet worden ist.

Die Wohnung stellt also in gewisser Weise die exakte Fortsetzung von Alberts Werkstatt dar. Eine bewusst arrangierte Unordnung, für den Besucher sogleich spürbar: Hier leben kreative und kulturell vielschichtig interessierte Menschen. Wen wundert’s, dass ich mich in diesem Milieu sofort wohlgefühlt habe.

Ingrid legt für mich ein weiteres Gedeck auf den Küchentisch, dann lassen wir es uns zuerst einmal schmecken. Hackbraten an einer delikaten Soße – einfach köstlich! Anschließend serviert Ingrid Kaffee und Albert holt eine Flasche Apfellikör hervor.

„Magst du auch einen, Oliver?“, fragt er mich und ich sage zu, obwohl ich das süße Zeug sonst kaum leiden kann. Albert füllt gleich drei Gläschen, wovon er je eines an Ingrid und mich weiterreicht. Ich nehme einen Schluck und registriere augenblicklich die Gefahr, die von diesem Gesöff ausgeht. Das volle Aroma reifer Äpfel, kombiniert mit Hochprozentigem und zuckersüß. Wenn das nur gut geht! Auf der Suchtpräventionsstelle würde man so was glatt als Einsteigerdroge deklarieren. Etwa so wie die ehemaligen Alcopops. Was soll’s! In meinem Bekanntenkreis sind die Jungs ohnehin bereits auf die harten Drinks abgefahren, und die Girls sowieso.

„Und sonst? Alles senkrecht bei dir?“, fragt Albert. Ich kann nur mit den Schultern zucken, ansonsten bringe ich kaum ein vernünftiges Wort über die Lippen. Relativ ratlos sitze ich am Tisch und spiele mit nervösen Fingern mit einer ungebrauchten Serviette herum.

„Um ehrlich zu sein: Eigentlich klappt momentan gar nichts richtig!“, antworte ich nach einer längeren Gedankenpause dann doch noch und beinahe erwarte ich von Albert das ultimative, dazu passende Gegenargument.

„Oliver, hab ich dir schon mal erzählt, dass ich in meiner Jugend einmal Mitglied einer Freikirche war?“, beginnt Albert und ich blicke interessiert auf.

„Nö, hast du nicht. Das nenne ich doch mal eine ganz neue Seite von dir.“

„Tja, weißt du, da gab es mal eine Zeit, in der ich auf der Suche nach neuen Lebensentwürfen war. Alternativen zum alltäglichen Einerlei. Damals, ich war so um die zwanzig herum, sah ich kaum eine vernünftige Perspektive für mich. Ich hatte einen Job, der mich nur bruchstückweise befriedigte – im Grunde gar nicht, mal abgesehen von der Kohle, die ich verdiente – und ich fühlte mich von der Welt unverstanden und ausgeschlossen. Da lernte ich diese Kirche kennen, eigentlich eine Sekte. Am Anfang sah alles gut aus – schon fast perfekt. Eine Menge junger, gut gelaunter Leute war da – auch viele Mädchen, und ich machte mir bereits Hoffnungen, dass daraus was Brauchbares entstehen könnte. Aber wie so oft in solchen Situationen waren die hübschesten Mädchen bereits vergeben oder sie planten längere Auslandsaufenthalte zu Studienzwecken. Du kannst dir vielleicht vorstellen, dass nicht nur deren Eltern – nein, die ganze Gemeinde – mit Argusaugen ihre unschuldigen Töchter beobachteten, damit nichts Unvorhergesehenes, also etwa so ein ungeschliffener Kerl wie ich, ihre von Gott vorgesehene Familienplanung durchkreuzte. Später habe ich begriffen, dass sie mir nur die Wahrheit verkaufen wollten. Weißt du, da wurde Sonntag für Sonntag eigentlich nur das eine, für sie wichtigste Thema gepredigt und in endlosen Diskussionen breitgetreten. Nämlich die Wahrheit über das Göttliche von Jesus und die Wahrheit der Kirche als eine von ihm ins Leben gerufene Organisation.

Aber offen gestanden: Eigentlich interessierte mich diese Wahrheit zu keinem Zeitpunkt. Diese ewige Suche nach Beweisen, dass die Bibel doch recht hat. Der angebliche Fundort der Arche Noah an der Ostflanke des Ararats, das Grab im Garten Gethsemane, wo der Leichnam Christi möglicherweise beigesetzt wurde, all diese Bestätigungen, die nur dem Zweck dienen, das Predigen und Wirken dieser selbsternannten besseren Christen zu rechtfertigen – ich brauchte das alles nicht.

Ich bin dem Verein ein paar Jahre treu geblieben, weil ich nie die Hoffnung aufgegeben habe, dass sich irgendwann doch noch einmal etwas Gescheites, etwas Bahnbrechendes ereignen würde. Ein Ereignis, nicht unbedingt weltumfassend wie das zweite Kommen von Christus, aber wenigstens ein Paukenschlag innerhalb der Organisation, sodass ich ohne Zögern hätte sagen können, ich sei stolz, ein Mitglied dieses Clubs zu sein.

Leider kam alles anders. Aus den flotten jungen Leuten wurden feine, angepasste Pinkel, die nichts Besseres zu tun hatten, als stinknormale Karrieren einzuschlagen und sich Bärte wachsen zu lassen, die hübschen Mädchen entwickelten sich zu meist übergewichtigen Matronen, welche die vollständige Abwesenheit von Erotik mit einer Überdosis von häuslichen und kirchlichen Pflichten kompensierten. Die einzige Änderung innerhalb der Organisation bestand im turnusmäßigen Austausch der grauen Eminenz, die sich Apostel oder sonst wie nennt. Ansonsten macht die Kirche das, was alle anderen Kirchen seit zweitausend Jahren mehr oder weniger erfolgreich auch tun, nämlich – nichts!“

„Wow, jetzt bin ich aber platt!“, sage ich und grinse Albert an. „Und wie lange warst du dabei?“

„Ja, wie gesagt, es waren sicher fünf Jahre. Bis ich festgestellt habe, dass die ganzen Bibelseminare und dergleichen in bestimmten Zyklen wiederholt werden.“

„Hast du denn noch Kontakt zu Mitgliedern?“

„Nein, kaum noch. Gelegentlich treffe ich ehemalige sogenannte Freunde hier in der Stadt. Dann ergibt sich manchmal daraus ein kurzer Wortwechsel, und das war’s dann auch schon.

Aber am meisten zu denken gibt mir die Tatsache, dass im Grunde alle diese Kirchen in ihrer Struktur genau gleich organisiert sind wie Firmen der freien Marktwirtschaft. Grundsätzlich geht es nur um Geld und Macht. Ein aufgeblasener Verwaltungsapparat stützt eine Art Betrieb, der kaum etwas Greifbares produziert. Denn das Produkt besteht im Wesentlichen aus Predigten, ist also eher geistiger Natur. Und der Gewinn generiert sich aus Steuergeldern, freiwilligen und unfreiwilligen Spenden, so in dieser Art eben. Weißt du, da gibt es diese jährlichen Interviews mit der Gemeindeführung, wo jedes Mitglied nach den guten und schlechten Taten befragt wird, und je nachdem zeigt der Daumen nach unten oder nach oben. Dann klopfen sie dir auf die Schulter und danken dir für die Treue im vergangenen Jahr. Das heißt, wenn du immer brav warst und korrekt deinen Obolus bezahlt hast. Dann siehst du an diesen speziellen jährlichen Meetings die Eminenz mit ihren silbergrauen Mercedeslimousinen vorfahren und darfst einer zwanzigminütigen Ansprache lauschen, die sie mit ebenso langem Dauergrinsen abhalten, dazwischen ein paar altenglische Choräle und abschließend, für die, die es mögen, Shakehands und ein paar warme Worte, dann rauschen sie, ihre holden Matronen am Arm, in ihren Luxuskarossen davon. Und weißt du, was am meisten genervt hat?“

Ich schüttle den Kopf.

„Dass alle Mitglieder, egal ob jung oder alt, jeden Sermon immer mit bravem Kopfnicken quittieren! Sie wollen immer wieder nur das eine hören, nämlich, dass Christus lebt und dass alle, die nach den Geboten leben, bei seinem zweiten Kommen dabei sein werden. Jede Art von Kritik ist unerwünscht und Mitglieder, die zu viel hinterfragen, gelten schnell einmal als suspekt.“

„Und was hast du dann gemacht?“

„Ich habe den Leuten in einem netten Briefchen mitgeteilt, dass ich nicht mehr mitspielen will, dass mich ihr Programm langweilt und dass ich fortan wissen möchte, wen oder was ich mit meinen Spendengeldern unterstütze. Und ich habe ihnen gesagt, dass mich die ganze Organisation eher an eine private Arbeitslosen-Beschäftigungsmaßnahme erinnert oder an eine Art Dauerworkshop, dem der wahre göttliche Geist, der Spirit, schon längstens abhanden gekommen ist – vielleicht schon vor etwa zweitausend Jahren!“

„Oh, damit hast du dir bestimmt keine Freunde geschaffen. Und deinen Traum von der holden Tusnelda als braves Hausmütterchen hast du sicher auch gleich begraben!“

„Da ist allerdings was Wahres dran. Aber egal, ich hatte dort sowieso keine echten Freunde. Die bekam man erst, wenn man sich möglichst aktiv am religiösen Geschehen beteiligte. Aber was soll’s! Zwischendurch war ich tatsächlich zwei-, dreimal arbeitslos, wobei die Hilfe der Arbeitsvermittlung jedes Mal effizienter ausfiel als die eines religiösen Vereins; und meine Holde“, Albert nickt zu Ingrid hinüber, die sich unterdessen vor den Fernseher zurückgezogen hat, „habe ich später bei einer Veranstaltung kennengelernt. Aber da hatte ich schon längst diese Werkstatt hier übernommen.“

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23 декабря 2023
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