Читать книгу: «Affektivität und Mehrsprachigkeit», страница 8

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2 Begehren nach Unmittelbarkeit

„Sinnlich, frech und überrumpelnd schön“1 – mit diesen Attributen sieht MüllerMüller, Herta das Rumänische ausgestattet. Von der Lebendigkeit dieser Sprache, ihrer sinnlichen Kraft, ihren Bildern und Redensarten, ihrem lexikalischen Nuancenreichtum und ihrer feingliedrigen Skala an Diminutiven von „zynisch bis sentimental“2 zeigt sich die Autorin immer wieder fasziniert. So auch in einem Spiegel-Interview aus dem Jahr 2012:

Als ich die Sprache gelernt habe, war ich schon 15, es war, als würde ich sie essen. Sie hat mir geschmeckt, ich kann es nicht anders sagen. Die Alltagssprache im Rumänischen ist die schönste. Sie ist vulgär, aber nie ordinär. Das Vulgäre kriegt eine Zärtlichkeit, es entsteht eine Unmittelbarkeit zwischen den Menschen.3

MüllerMüller, Herta schildert den Spracherwerb als sinnliche Einverleibung, als genussvollen Vorgang. Dem Rumänischen attestiert sie affektive Qualitäten, die jenseits des semantischen Gehalts der Worte liegen und die Möglichkeit einer unmittelbaren Kommunikation aufscheinen lassen. Damit aktualisiert sie eine Denkfigur, wie sie sich in verschiedenen Spielarten durch die Geschichte des Nachdenkens über Sprache zieht. Deren Grundidee besteht darin, dass Sprache (insbesondere die literarische Sprache) ein nicht-, außer- oder vorsprachliches, mithin affektives Potenzial bietet; dass sie qua ihrer Materialität eine Eigenwirklichkeit verkörpert, die nicht auf die Bedeutung der Worte reduzierbar ist, die nicht ‚bloß‘ repräsentiert, bedeutet und bezeichnet. Dieses ‚Andere‘ der Sprache, das in der Sprache selbst anwesend und ihr eigen ist, sieht MüllerMüller, Herta besonders im Rumänischen verkörpert, vor allem in seiner sinnlich-klanglichen Dimension: Die rumänische Sprache enthalte „Äußerungen jenseits des Sprechens“, „unmittelbar, wie es Worte gar nicht sein können“4. Im Rumänischen erblickt MüllerMüller, Herta geradezu das Paradigma einer Sprache affektiver Unmittelbarkeit, welches eine Kritik sprachlicher Repräsentation beinhaltet und zugleich auf Möglichkeiten ihrer Überwindung verweist.

Die Erzeugung sprachlicher Unmittelbarkeit erhebt MüllerMüller, Herta schließlich auch zum Zielpunkt ihrer eigenen Sprachästhetik, der das Rumänische als Fundus und Vorbild dient. Dies illustriert bereits der Titel des Essays „Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel“ (2011), der auf dem Gleichklang von Schnee und Onkel (nea) im Rumänischen beruht und somit ein Beispiel für latente Mehrsprachigkeit bietet. Wie MüllerMüller, Herta ausführt, lässt sie die Sprache selbst affektiv werden, indem sie für intensive Gefühlserlebnisse und Empfindungen, ja für ganze „Geschichten“ ein „direktes Wort“ (er-)findet, dessen Material sich verwandelt und „nicht mehr von einer natürlichen, körperlich starken Empfindung“5 zu unterscheiden ist. Beispiel dafür sind Wörter wie „Schneeverrat“ oder „Silberlöffel“ – Sprachbilder und neologistische Wortkompositionen, die das Erlebte nicht abbilden, repräsentieren, sondern eine eigene Wirklichkeit kreieren. In ihnen realisiert sich der Anspruch, „Worte [zu] finden, die im eigenen Mund entstehen“6, und liegt ein widerständiges Potenzial: gegen die genormte, stereotype, durch Wiederholung formelhaft erstarrte Sprache der Diktatur, ihren sinnentleerten und jeglicher Sinnlichkeit beraubten „Floskeln und Fertigteile[n]“7 sowie gegen konventionalisierte Formen und Ausdrucksweisen überhaupt, die in ihrer überindividuellen Allgemeinheit das individuelle Gefühl, die Intensität des Erlebten nicht zu fassen vermögen.

Die Terminologie der Unmittelbarkeit suggeriert die Aufhebung jener Kluft, welche der Essay „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ umkreist. Sie darf nicht missverstanden werden als Rückfall in vorkritische Naivität oder gar als Rehabilitation einer romantisch-regressiven Sehnsuchtsutopie. Eine solche Utopie ist bei MüllerMüller, Herta, wenn überhaupt, nur noch „in desillusionierter Form anwesend“8. Zurecht hat die Forschung schon früh darauf hingewiesen, dass „Widerstand gegen die Enteignung der Sinnlichkeit […] das ästhetische und ebensowohl politische Grundmotiv von Herta MüllerMüller, Hertas Poetik“9 bildet. Das Lob der Unmittelbarkeit, das MüllerMüller, Herta der rumänischen Alltagssprache entgegenbringt, die Wahrnehmung der Sprache in ihrer Materialität und Eigenpräsenz sowie das Beharren auf einem eigenen Idiom sind in diesem Zusammenhang zu verstehen.

Vor allem poststrukturalistische und dekonstruktivistische Perspektiven haben die Zeichenvermitteltheit und sprachliche Bedingtheit von Erfahrung betont und somit den Wunsch nach Unmittelbarkeit kritisch attackiert und als illusionär entlarvt. In jüngerer Zeit jedoch erlebt dieser Wunsch und mit ihm Begriffe wie Performativität, Materialität, Ereignis, Präsenz, Evidenz oder eben Affekt eine besondere Konjunktur. Die sogenannten affect studies haben sich seit Mitte der 1990er Jahre in verschiedenen geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen etabliert. Sie stehen in einer Reihe von turns, die sich als Gegenreaktion auf die Hegemonie poststrukturalistischer Ansätze verstehen und mit dem Anspruch ausgerufen wurden, Raum zu schaffen „für eine Wiederkehr des Verdrängten“10. Die affect studies rücken jene Dimensionen des sozialen Zusammenlebens in den Vordergrund, die durch die Sprach- und Diskursfixierung des linguistic turn aus dem Blick geraten sind. Sie zielen auf die Materialität, den Vollzugscharakter und die Sinnlichkeit des Sozialen ab und werden deshalb auch als ein Versuch interpretiert (und kritisiert), Sprache und Repräsentation auszuschalten, um zu einer neuen Unmittelbarkeit zu gelangen.11 ‚Affekt‘ wird so gleichsam zur Chiffre für ein Begehren, das – ähnlich der MüllerMüller, Hertaschen Suchbewegung, die angesichts der „Lücke“ in Gang gesetzt und durch Wiederholung immer wieder neu initiiert und performativ hervorgebracht wird – Trennung aufheben und Weltnähe stiften soll.

Wenn MüllerMüller, Herta in ihren poetologischen Reflexionen über Mehrsprachigkeit einerseits die These einer sprachlichen Vermitteltheit des Weltbezugs und der Wahrnehmung vertritt, so beharrt sie (in Übereinstimmung mit den affect studies) andererseits auch darauf, dass nicht alles Sprache ist bzw. es „Bereiche“ gibt, die sich nicht nur einer adäquaten, sondern der sprachlichen Repräsentation überhaupt entziehen. Dem unmittelbaren Erleben stellt sie die sprachliche Repräsentation als etwas Sekundäres und Nachträgliches gegenüber: „Ich kann heute ‚Angst‘ sagen. Und ich kann ‚Freude‘ sagen. Es trifft nicht mehr zu. Ich rede darüber. Ich lebe nicht mehr darin.“12 Diese Differenz wird nicht nur poetologisch reflektiert, sondern auch literarisch produktiv gemacht. In der Erzählung „Niederungen“ (1982) beispielsweise findet sie ihre Umsetzung im spannungsvollen Kontrast zwischen einer kindlichen Wahrnehmungsperspektive, die Unmittelbarkeit suggeriert, indem sie sinnliche Eindrücke registriert, aber (noch) nicht begrifflich fixiert und einer retrospektiv-reflektierenden, Distanz signalisierenden Sichtweise auf das Erlebte. Letztere kommt etwa in der Verwendung von Emotionsausdrücken zum Vorschein, die im Dialekt des Dorfes eine Leerstelle bilden – wie zum Beispiel das Wort „Einsamkeit“13. Im Roman Reisende auf einem Bein (1989) weicht das Wahrnehmungs-Ich der „Niederungen“ zwar der Distanz der dritten Person; rekurrente Formulierungen wie „Irene spürte […]“ jedoch verweisen auf einen Wahrnehmungsmodus sinnlicher Unmittelbarkeit, der sich deutender Sinngebung und klassifizierender Einordnung zu entziehen scheint. Der Text thematisiert und inszeniert Momente intensiver Gegenwärtigkeit, die „nicht lückenlos und gleichsam ‚fügsam‘ in etablierten Schemata, Vollzügen und Klassifikationen“14 aufgehen und somit die Bruchstelle15 zwischen Affekt und Emotion sichtbar machen: „Wenn Irene jetzt hätte sagen müssen, was sie empfand, wäre kein einziger Satz richtig gewesen. Nicht einmal Silben, die willkürlich zusammenfanden.“16 Wo der Versuch unternommen wird, die Gegenwärtigkeit sinnlicher Eindrücke und Wahrnehmungsvollzüge in ein kategoriales Raster von Begriffen, etwa Emotionstypen, zu überführen, geschieht dies in einer Bewegung von Setzung und Zurücknahme, die einmal mehr die Nicht-Fixierbarkeit affektiven Erlebens verdeutlicht: „Sehnsucht überkam Irene. Und es war keine.“17

3 Im Zeichen des Trotzdem: Nähe durch Distanz

Lücke, Riss und Spalte sind Programmwörter einer Poetik, die ein immer schon gebrochenes Verhältnis zur Sprache manifestiert, die Ausdrucks- und Repräsentationsfähigkeit der Sprache infragestellt, die Möglichkeit einer Verständigung und Mit-Teilung durch Sprache anzweifelt, dennoch aber an dem Wunsch festhält: „‚Es sagen können‘“1. Den Unzulänglichkeiten der Sprache tritt MüllerMüller, Herta mit einem entschiedenen ‚Trotzdem‘ entgegen, ihr Schreiben bleibt – bei aller Sprachskepsis – „unabdinglich dem Erlebten verpflichtet“2. Aus diesem Gestus heraus resultiert eine Ambivalenz, die ich mit der Formel Nähe durch Distanz umreißen möchte. Sprachzweifel und -kritik bedingen zwar eine Absage an das Prinzip abbildender Repräsentation und somit auch an ein Verständnis von Autobiographie als einfacher Wiederholung bzw. mimetischer Verdopplung des Erlebten. Das bedeutet jedoch keine Verabschiedung des Wahrheitsgehalts und Wirklichkeitsbezugs der Literatur schlechthin, im Gegenteil: MüllerMüller, Herta insistiert auf der lebensweltlichen Verankerung ihrer Literatur, welche sich der Wirklichkeit annähert, indem sie sich – scheinbar paradox – von ihr entfernt. Diese Dynamik hat MüllerMüller, Herta an verschiedenen Stellen beschrieben, exemplarisch seien folgende Zitate angeführt: „Das Gelebte […] ist mit Worten nicht kompatibel. […] Um es zu beschreiben, muß es […] gänzlich neu erfunden werden“3; „erst durchs Erfinden“ beginnt die „Nähe zur Wirklichkeit“4; „nur durch völlige Veränderung wird das Gelebte mit Worten so kompatibel, daß ein Satz dem Gelebten wieder ähneln kann.“5 Die Infragestellung der Repräsentationsfunktion der Sprache führt also nicht zur Verabschiedung, sondern zu einer „Neuformulierung“6 des autobiographischen Projekts im Modus der Autofiktion – ein Begriff, den MüllerMüller, Herta selbst zur Bezeichnung ihrer Texte heranzieht. Im Anschluss an Serge Doubrovsky bedeutet Autofiktion „die Sprache selbst zum Gegenstand der Autobiographie zu erheben“7. Sprache soll nicht ‚nur‘ repräsentieren, sie fungiert nicht nur als Medium, sondern wird selbst zum Thema und Inhalt der Darstellung. Genau hierin, im Blick auf die Sprache selbst, die sich in ihrer Materialität und Eigendynamik dem Autorsubjekt widerständig entgegenstellt, liegt auch die enge Affinität von literarischer Mehrsprachigkeit und Autofiktion begründet.

MüllerMüller, Herta überlässt sich der Eigendynamik des Sprachmaterials – sie nimmt die Wörter nicht in ihren Besitz, sondern lässt sich von ihnen in Besitz nehmen.8 „Das Spiel der Wörter“ begreift sie, wie es Ralph Köhnen treffend beschrieben hat, als „relationalen Zusammenhang“ und „agonales Geschehen, das sich ereignet, wenn nicht der Schreibende die Sprache bestimmt, sondern ‚wenn einen der Text mit sich nimmt‘.“9 Dieser – auch ideologiekritisch motivierte – Verzicht auf autoritäre Machtausübung lässt sich mit BachtinBachtin, Michail als eine dialogische Haltung zum Sprachmaterial bezeichnen. Im Gegensatz zum autoritären Gestus monologischer Literatur, welche sich der Sprache im Zeichen der Autorintention bemächtigt und sie dadurch verdinglicht, enthält sich dialogische Autorschaft stimmlicher Dominanz. Sie ist von dem Anspruch geleitet, der Sprache zu ent-sprechen. Nicht Aneignung oder gar Identifikation, sondern die Bewegung „zur Sprache hin und von ihr weg“10, das Wechselspiel von Nähe und Distanz ist das Merkmal dieses nicht-souveränen Konzepts von Autorschaft.11

Aussagen wie „das machen die Wörter selbst. Das macht der Wortklang“, „das verlangt sich so“ oder „das ergibt sich so“12 verdeutlichen MüllerMüller, Hertas dialogisches Verhältnis zum Sprachmaterial, dessen Dynamik nicht dem Diktat eines vermeintlich souveränen Autorsubjekts unterliegt, sondern eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Ein Zurück hinter die Erfahrung der Lücke zwischen Wort und Wirklichkeit kann es zwar nicht geben. Durch ihre dialogische Freisetzung jedoch gewinnt die Sprache eine materiale Eigenwirklichkeit, qua derer sie sich vor der Realität behaupten kann. Die dialogische Verzicht- und Distanzhaltung ist somit nicht nur Ausdruck eines Konzepts von Autorschaft, welches die Begrenztheit eigener Verfügungsgewalt anerkennt und reflektiert, sondern bildet auch die Voraussetzung jenes dynamischen Transformationsprozesses, der eine (Wieder-)Annäherung an die Wirklichkeit des Erlebten ermöglicht und den MüllerMüller, Herta unter Begriffe wie Autofiktion oder Erfindung fasst. Wenn MüllerMüller, Herta sagt, dass sich „wirklich Geschehenes […] niemals eins zu eins mit Worten fangen“13 lässt, sondern im Vollzug seiner Versprachlichung neu geschaffen oder hervorgebracht wird, betont sie damit die Performativität des Schreibens, die sich an der Nahtstelle von Wiederholung und Verschiebung konstituiert und besonders deutlich dort zum Vorschein tritt, wo MüllerMüller, Herta Ähnliches variantenreich präsentiert. Am Beispiel der von MüllerMüller, Herta immer wieder aufs Neue entfalteten Geschichte einer „alleenigen“ Kindheit im banatschwäbischen Dorf lässt sich dieses performative Darstellungsverfahren veranschaulichen und unter affekttheoretischem Gesichtspunkt näher untersuchen.

4 Zwischen Dynamik und Struktur: Wiederholungs- als Affektgeschehen

Wie zur Sprache überhaupt, hat MüllerMüller, Herta zur Wiederholung ein äußerst zwiespältiges Verhältnis: In ihrem Essay „Hunger und Seide“ (1990) bezeichnet sie die Wiederholung als „die zuverlässigste Methode des Regimes“1 – und macht damit darauf aufmerksam, dass die Wiederholung zur Zementierung von Machtverhältnissen beitragen kann. Gleichzeitig bedient sich MüllerMüller, Herta in ihren Romanen und Erzählungen der Wiederholung als einem subversiven Stilmittel: „Eine diktatorische Technik [wird] zur Kritik an der Diktatur genutzt.“2 Wiederholbare sprachliche ‚Fertigteile‘ – Redewendungen, Phraseologismen, Gemeinplätze, Sprichwörter – kommen in ihren Texten auffällig häufig vor. Sie werden im distanzierenden Gestus des Zeigens, im Modus der Vorführung also, „wie die Fundstücke einer fremden Sprache“3 präsentiert und damit zur kritischen Disposition gestellt. Das formelhafte Sprechen kontrastiert einerseits mit der relationalen Dynamik des Sprachmaterials, die sich nur unter der Voraussetzung dialogischer Autorschaft entfalten kann. Andererseits hat MüllerMüller, Herta vielfach die existenzielle Ankerfunktion formelhafter Wiederholung hervorgehoben. Zu solchen haltgebenden Sätzen zählt beispielsweise die wiederkehrende Frage der Mutter „HAST DU EIN TASCHENTUCH?“4, um die MüllerMüller, Hertas Nobelvorlesung kreist. Als „indirekte Zärtlichkeit“ – „eine direkte wäre peinlich gewesen, so etwas gab es bei den Bauern nicht“5 – verweist sie auf die spezifischen Emotionsregeln, genauer: expression norms (Arlie HochschildHochschild, Arlie) der dörflichen Lebenswelt.

MüllerMüller, Hertas zwiespältige Haltung gegenüber der Wiederholung spiegelt den zwiespältigen Charakter der Wiederholung selbst wider, die sich zwischen den Polen von Dauer und Veränderung, Ereignis und Struktur bewegt.6 Gerade diese oszillierende Ambivalenz ermöglicht es, Brüche wie Kontinuitäten affektiver Erfahrung zu analysieren und binäre Schemata zu dynamisieren. Zumal in den frühen affect studies bildete die Gegenüberstellung von Ereignis und Struktur eine Leitdifferenz, die auch der Unterscheidung von Affekt und Emotion zugrunde liegt. Namentlich Brian MassumiMassumi, Brian bringt die kreative Offenheit des Affekts in Opposition zur vorgeblichen Immer-Gleichheit von Strukturen. In seinem Verständnis bezeichnet Affekt das schlechthin Einmalige, Singuläre, Ephemere und Ereignishafte, die Dynamik und Unvorhersehbarkeit des Augenblicks, eine disruptive Kraft oder Intensität, die Neues hervorbringt, sich jenseits oder außerhalb von Sprache und Diskurs bewegt und damit jeglicher Struktur entgegensteht.7 Die theoretische Konzeptualisierung von Wiederholung als affektivem Geschehen hingegen eröffnet die Möglichkeit, nach der Hervorbringung und Verfestigung affektiver Dynamiken zu Strukturen zu fragen und sie in ihrer Prozessualität wie Persistenz gleichermaßen zu erfassen.

Eine solche Perspektive wurde in der MüllerMüller, Herta-Forschung bislang nicht eingenommen. Diese hat die „tragende Rolle des Stilmittels der Wiederholung“8 im Werk der Autorin zwar erkannt und sich eingehend mit sprachlichen wie inhaltlichen (motivisch-thematischen) Wiederholungen innerhalb von MüllerMüller, Hertas Texten befasst; nur wenige Untersuchungen setzen sich jedoch dezidiert und ausführlich mit dem Phänomen textübergreifender Wiederholung auseinander, dem in diesem Abschnitt mein Interesse gilt. Wie es scheint, schöpfen MüllerMüller, Hertas Texte aus einem begrenzten, relativ stabilen Fundus oder Repertoire von autobiographisch verankerten Themen, Motiven und Konstellationen, die bereits im Frühwerk angelegt sind und geradezu ostentativ wiederholt und variiert werden. Norbert Otto Eke spricht in diesem Zusammenhang von einer permanenten „Weiterführung ‚alter‘ Motive“9 und deutet diese als ein Plädoyer gegen das Vergessen. Auch Ernest WichnerWichner, Ernest sieht die thematische Kontinuität in MüllerMüller, Hertas Werk von einem ethisch-moralischen Impetus des Sich-Erinnern-Müssens getragen, welcher von der Beharrlichkeit und Charakterstärke der Autorin zeuge.10 Andere Positionen der Forschungsliteratur und Literaturkritik deuten die Wiederholung als Ausdruck persönlicher Traumatisierung oder kritisieren sie als „Anzeichen einer künstlerischen Stagnation“11. Paola Bozzi hält dem entgegen, dass MüllerMüller, Herta „in einem gewissen Sinne Autopoiesis [betreibt]“12: Die Autorin lasse sich und ihr Werk aus sich selbst heraus immer wieder neu entstehen. Der textübergreifenden Wiederholung und Variation bestimmter Motive (wie etwa des Taschentuchs oder der Mokkatassen) wurde bislang zumindest punktuell nachgegangen. Darüber hinaus fällt aber auf, dass über Text- und Gattungsgrenzen hinweg auch größere Einheiten, ja ganze ‚Versatzstücke‘ wiederholt, variiert und neu kombiniert werden. Unter diesem Begriff verstehe ich bewegliche, autofiktional geformte, relativ selbstständige und deshalb leicht isolierbare Erzählkomplexe, die sich auf einer mittleren Abstraktionsebene zwischen Thema und Motiv verorten lassen.

Wenn MüllerMüller, Herta von ihrer glücklosen, „alleenigen“ Kindheit im schwäbischen Banat spricht, so evoziert sie damit „ein für ihr gesamtes Werk gültiges Bild“13, das seit den frühen Prosatexten fortlaufend variiert wird. In der Erzählung „Viele Räume sind unter der Haut“ in Barfüßiger Februar (1987) gerinnt der über zwanzig Mal wiederholte Satz „Das Kind, das allein geht […].“14 zur festen Formel. Auch die Diktatur-Romane verknüpfen die Themen von Kindheit und Einsamkeit. In Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992) übt das Gefühl der Einsamkeit eine geradezu physische Gewalt aus: „Als das Kind zwischen den anderen Kindern im Schulhof stand, war der Fleck an seiner Wange der Griff der Einsamkeit.“15 Das Kind in Herztier (1994) fühlt sich oft als „Niemandskind“, allein und „so verlassen wie sonst nichts auf der Welt“16. Die Schilderung des einsamen (im Dialekt „alleenigen“) Kindes, das endlose Tage im Tal bei den Kühen verbringt und dabei unaufhörlich versucht, sich im Bewusstsein der eigenen Differenz seiner Umgebung, den Pflanzen anzunähern, ja sich ihnen anzuverwandeln, ist als autofiktionales Versatzstück in diversen Vorträgen, Essays und Interviews enthalten: So beispielsweise in den Tübinger Poetik-Vorlesungen „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ (2001) und „Der König verneigt sich und tötet“ (2001), in dem Vortrag „Die Insel liegt innen – die Grenze liegt außen“ (2001), in der Nobelvorlesung „Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis“ (2009), auf der Hör-CD Die Nacht ist aus Tinte gemacht (2009), in dem Gespräch Mein Vaterland war ein Apfelkern (2014) und schließlich auch in der Eröffnungsrede zur Ruhrtriennale 2017 (Ein Ausweg nach innen).

Die Wiederholung autofiktionaler Versatzstücke stiftet Verbindungen zwischen Texten unterschiedlicher Gattungen.17 Sie erzeugt damit ein fließendes Kontinuum, in dem Wirkliches und Erfundenes voneinander ununterscheidbar werden und welches sich somit als performative Umsetzung von MüllerMüller, Hertas eigener Vorgabe einer „Untrennbarkeit“18 von Leben und Werk begreifen lässt. Wenn die Wiederholung einerseits die enge Verflochtenheit von literarischem und poetologischem Diskurs vor Augen führt, so lässt sie andererseits auch Differenzen offenbar werden: Zwar reflektieren auch die literarischen Texte im engeren Sinn Sprachen und Sprachvarietäten innerhalb des Spannungsgefüges von Dialekt und Hochsprache; sie vollziehen diese Reflexion jedoch meist in latenter Form, wie ein Beispiel aus „Niederungen“ zeigt: „Vaters Singen und Mutters Reden vermischen sich. Und beide sagen das Wort allein, wenn sie einsam sagen wollen. Beide und alle im Dorf kennen das Wort einsam nicht, wissen nicht, wer sie sind.“19 Was hier nur unsichtbar präsent ist, tritt im poetologischen Diskurs an die manifeste Textoberfläche: „Das Wort ‚einsam‘ gibt es nicht im Dialekt, nur das Wort ‚allein‘. Und dieses hieß ‚alleenig‘, und das klang wie ‚wenig‘ – und so war es auch.“20 Auch im weiteren Vergleich wird sichtbar, dass die Wiederholung keine identische Reproduktion desselben bedeutet, sondern mit Variation verknüpft ist. Bereits mit dem Akt der Wiederholung selbst, mit der Einbettung des Wiederholten in einen anderen textuellen Zusammenhang, vollzieht sich eine Veränderung. Die autofiktionalen Versatzstücke werden inhaltlich angereichert, assoziativ erweitert, neu kontextualisiert, reinterpretiert. Im konkreten Beispiel lässt sich von einer regelrechten Akkumulation vorwiegend negativ konnotierter Gefühle sprechen: Das Gefühl der Endlichkeit und Vergänglichkeit, des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit, Einsamkeit und Verlorenheit oder auch der eigenen Wertlosigkeit verdichten sich zu einem Komplex, der nostalgisch verklärten Kindheitsvorstellungen eine radikale Absage erteilt.

Im permanenten Rekurs auf die Kindheit artikuliert sich eine affektive Grunderfahrung, die im Vollzug ihrer Wiederholung fortlaufend aktualisiert und explizit auf den Begriff der (Nicht-)Zugehörigkeit gebracht wird. „Ich wollte dazugehören“ – so lautet denn auch der Leitsatz, der in der Festspielrede Ein Ausweg nach Innen fast refrainartig wiederkehrt. In formaler Hinsicht dient die Wiederholung hier der Rhythmisierung und Strukturierung. Inhaltlich verknüpft sie die räumlichen Lebensstationen, die MüllerMüller, Herta auch hier wieder abschreitet und erzeugt somit biographische Kohärenz. Die Rede insgesamt erweist sich als eine Montage von Selbstzitaten oder autofiktionalen Versatzstücken; sie arrangiert, kompiliert und variiert Themen, Motive und Konstellationen, die bereits aus anderen Texten MüllerMüller, Hertas bekannt sind, wie schon die Eingangspassage illustriert:

Der Weg ins Tal lief die Dorfstraße hinunter, am Friedhof vorbei. […] Es war immer frühmorgens in den Sommerferien, wenn ich mit den Kühen ins Tal ging. […] Der Weg ins Tal verließ das Dorf, aber noch mehr verließ das Dorf mich. Ich trat in eine andere Wirklichkeit. Mit den Kühen war man allein. […] Ich weiß nicht, ob ich einsam war, weil ich das Wort nicht kannte. In der Dorfsprache gab es nur das Wort allein. Und im Dialekt heißt das alleinig. Es hat eine Silbe mehr, nimmt sich ein bisschen mehr Zeit und klingt trauriger als allein. […] Ich vergaß das Dorf mit den Menschen, war mit den Füßen und mit dem Kopf jetzt in einem Dorf aus Pflanzen. Hier im Tal waren sie die Bewohner. […] Ich war bis abends eingeschlossen im Dorf der Pflanzen. Ich wollte zu ihnen gehören und inszenierte mit ihnen ein normales Dorfleben. Ich sprach laut mit ihnen, pflückte sie, legte sie nebeneinander, verglich sie, kostete, wie sie schmecken, sortierte sie nach Eigenschaften.21

Auch dieser Text nimmt seinen Ausgang von der scheinbaren Banalität des kindlichen, durch Wiederholung und Routine („immer“) charakterisierten Alltagslebens. Im Vollzug der erinnernden Wiederholung wird die kindliche (Gefühls-)Topographie erneut vergegenwärtigt, re-präsentiert, um sie abermals auf ihre affektiven Dynamiken im Spannungsfeld von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zu befragen. Anders als etwa im Essay „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ wird die in Sprachzweifel und -kritik mündende Erfahrung der „Lücke“ hier zwar nicht ausdrücklich apostrophiert, jedoch implizit evoziert. Denn erst vor dem Hintergrund dieser Erfahrung wird der Wunsch nach Zugehörigkeit überhaupt formulierbar.

Die Wiederholung autofiktionaler Versatzstücke erzeugt beim Rezipienten den Eindruck eines Déja-lu. Dennoch wäre es falsch, die Wiederholung als ein Zeichen der Erschöpfung oder als Ausdruck von MüllerMüller, Hertas nachlassender Kreativität zu werten und damit einen gängigen Vorwurf der Kritik zu wiederholen. Viel eher handelt es sich um ein werkkonstitutives Prinzip im Oeuvre MüllerMüller, Hertas, das zur internen Dialogisierung und gattungsübergreifenden Vernetzung ihrer Texte beiträgt. Gemäß der Ambivalenz der Wiederholung ist die Frage nach ihrer Funktion und Wirkung doppelt zu beantworten: Einerseits kommt der Wiederholung eine strukturbildende Kraft zu. MüllerMüller, Herta selbst deutet die affektive Dynamik von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit als ein „Muster“, als eine sich in unterschiedlichen Lebenskontexten und wechselnden Umgebungen wiederholende „Formel“22, die ihren Ursprung in der Kindheit nimmt und durchaus aporetische Züge trägt. Andererseits lässt sich die Wiederholung als ein Versuch interpretieren, das ihr inhärente Veränderungspotenzial zu aktivieren, das heißt, Auswege oder Fluchtlinien zu (er-)finden, die eine befreiende Transformation verfestigter Affektstrukturen ermöglichen.

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