Die Charismatische Bewegung 2

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Die Charismatische Bewegung 2
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Michael Kotsch


Die Charismatische Bewegung 2
Praxis - Theologie - Geistesgaben


Reihe AUFKLÄRUNG

Band 65


Michael Kotsch

Die Charismatische Bewegung 2 Praxis - Theologie - Geistesgaben

1. Auflage 2008

© 2013 Lichtzeichen Verlag, Lage

Umschlag: Manuela Bähr-Janzen

Satz: Gerhard Friesen

ISBN: 9783869549576

Bestell Nr. 548957

E-Book Erstellung: LICHTZEICHEN Medien

www.lichtzeichen-medien.com


Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Erlaubnis des Verlegers in irgendeiner Form reproduziert werden.

Inhaltsverzeichnis

1. Charismatische Frömmigkeit

1.1. Charismatische Gottesdienste

1.2. Charismatischer Lobpreis

1.3. Charismatische Seelsorge

1.5. Charismatische Leitungsstruktur und geistlicher Missbrauch

2. Charismatische Charismen / Geistesgaben

2.1. Charismatische Geistestaufe

2.2. Charismatische Zungenrede

2.3. Charismatische Prophetie

2.4. Charismatische Heilungen

3. Charismatische Sonderlehren

3.1. Rhema und Logos

3.2. Die Glaubensbewegung

3.3. Gnostische Offenbarungen für Christen

3.4. Der Christ als Gott und der geistliche Tod Jesu

3.5. Glaube an den Glauben statt Glaube an Gott

3.6. Keine Krankheiten - nur noch Symptome

3.7. Reichtum garantiert

4. Die Charismatische Bewegung - ein Resümee

4.1. Positive Herausforderungen durch charismatische Frömmigkeit

4.2. Probleme charismatischer Frömmigkeit

4.3. Umgang mit Charismatikern in der Gemeinde

Literatur

Vorwort

Keine Gruppe der weltweiten Christenheit wuchs in den letzten Jahrzehnten so schnell wie die Charismatische Bewegung (und Pfingstgemeinden). Ihre Lehre betont die neutestamentlichen Gnadengaben Gottes (Charismata), insbesondere Zungenrede, Prophetie und Heilung. In ihrer Praxis legen Charismatiker Wert auf Emotionen, geistliche Erfahrungen, die Verbundenheit aller Christen und soziales Engagement. Neben zahlreichen positiven Herausforderungen für jeden Christen haben sich unter dem charismatischen Dach auch unbiblische Anschauungen und Praktiken entwickelt. Gesellschaftlich kann die Charismatische Bewegung als postmoderne Erlebnisreligion bezeichnet werden.

In diesem Buch sollen die besonderen theologischen Überzeugungen der Charismatischen Bewegung vorgestellt und eingeordnet werden. Daneben geht es auch um besondere Aspekte charismatischer Glaubenspraxis. Der Teil biblischer Lehren und praktischen Glaubenslebens, der charismatischen und nichtcharismatischen Christen gemeinsam ist wird an dieser Stelle nicht besprochen.

1. Charismatische Frömmigkeit
1.1. Charismatische Gottesdienste

Orte charismatischer Frömmigkeit sind Gebetskreise, Seminare, Kongresse und vor allem Lobpreisgottesdienste. Charismatische Gebetstreffen bieten dem einfachen Gemeindemitglied durch Singen, Beten, Erfahrungsberichte und gegenseitige Seelsorge Erfahrungen mit dem Heiligen Geist zu machen. Auch spektakuläre Geistesgaben (Zungenrede, Prophetie …) sollen in diesem Rahmen eingeübt werden. In charismatischen Seminaren soll nicht so sehr theoretisches Wissen, sondern eher praktische Erfahrungen mit dem Heiligen Geist vermittelt werden. Solche Seminare bieten einen hohen Erlebniswert und fordern nur eine geringe Verbindlichkeit. Häufig werden konkrete Hilfen und pragmatische Methoden vermittelt, um zusätzliche Erfüllungen mit dem Heiligen Geist zu erfahren oder einzelne Gaben einzuüben. Durch überregionale Kongresse wird die theologische und spirituelle Ausrichtung der Bewegung maßgeblich geprägt. Sie sind offene Angebote, ohne tiefere Verpflichtung, durch die öffentlich demonstrierten Geistesgaben haben sie einen hohen Erlebniswert und bieten durch das inszenierte Massenerlebnis eine gute Grundlage zur Identifikation und Selbstbestätigung. In einer überwiegend anonymen Atmosphäre geben sich die Teilnehmer eher ekstatischen und enthusiastischen Gefühlen hin. Charismatische Großkongresse tragen Züge einer Wallfahrt: Von geisterfüllten Rednern erwartet man die Vermittlung einer besonderen Gottesnähe und außergewöhnliche Manifestationen des Heiligen Geistes. Neue Trends und religiöse Ausdrucksformen (Verhaltensweisen, Ausdrücke usw.) werden verstärkt durch Kongresse in die lokalen charismatischen Gruppen vermittelt.1 Die verhältnismäßig junge und stark erlebnisorientierte Charismatische Bewegung bietet vorwiegend Gottesdienste in Alltagssprache, mit einem dynamischen, abwechslungsreich präsentierten Programm und ausgedehntem Musikteil nach jugendlichem Geschmack. Große Bedeutung nimmt in diesen Veranstaltungen das Lob Gottes ein, als Lied, als Chorus, als Sprachengebet oder –gesang, als gesprochener Lobpreis oder als freies Gebet, auch als persönliches Glaubenszeugnis. Konkret soll das Wirken Gottes in der Praktizierung spektakulärer Charismen (Glossolalie, Prophetie, Heilung) erfahren werden. Weder die Predigt noch die Eucharistie (Abendmahl) oder Diakonie stehen im Mittelpunkt des Gottesdienstes, sondern das Wirken des Geistes und das Erleben der Kraft Gottes. Obwohl charismatische Gottesdienste von Lobpreisteams und dominanten Leitern bestimmt werden, haben sie durch die Betonung des gemeinsamen Lobpreises und der Integration gemeindlicher Geistesgaben einen stark demokratischen Zug (allgemeines Priestertum). Wenn auch in der Praxis zumeist nur die Träger spektakulärer Charismen mit der Fähigkeit einer gewissen Selbstinszenierung öffentlich zu Wort kommen. Voraussetzung für die Weitergabe persönlichster geistlicher Erfahrungen und Sehnsüchte, sowie dem körperlichen Ausdruck eigener Gefühle in der Anbetungszeit ist eine gegenseitige Akzeptanz und gegenseitiges Vertrauen. Wobei sich auch in charismatischen Gottesdiensten Stil und Formulierungen der Beiträge standardisieren, und zu neuen spezifisch charismatischen Traditionen führen (tanzen, hüpfen, Hände erheben, Fähnchen schwenken, Zwischenrufe: „Halleluja“, „Gelobt sei Gott“, „Amen“ usw.). Der charismatische Gottesdienst könnte als religiöses Fest bezeichnet werden, in das sich der Besucher mit Leib, Seele und Geist einbringt. Er wird als Ort der Gegenwart Gottes begriffen, als Gegenpol einer materiellen, verstandesmäßig geprägten Realität. Er dient der emotionalen Selbstvergewisserung, der Stillung religiöser Sehnsüchte, dem Ausdruck der im Alltag unterdrückten Gefühle und der geistlichen Aufladung für die Bewältigung der Belastungen des Lebens.2 Katholische Frömmigkeit sieht insbesondere in den Sakramenten (Taufe, Abendmahl, Beichte …) das Wirken Gottes am Gläubigen. Durch die Sakramente wiederum wird der Christ von Gott zu einem frommen Leben befähigt. Reformatorische Theologie sieht das Wirken Gottes vor allem in der Vermittlung des Wortes Gottes. Hier teilt sich Gott dem Christen mit, gibt ihm Anteil an sich selbst und befähigt ihn biblisch zu leben. Zentrum des Glaubens sind die Vergebung der Schuld und die Erkenntnis eines gnädigen Gottes. Charismatische Christen wollen den Heiligen Geist durch Lobpreis Gottes und das gemeinsame Praktizieren der Gnadengaben erfahren. Für den traditionellen Pfingstler ist die mit Zungenreden verbundene Geistestaufe dominierender Zielpunkt des Glaubens. Diese Erfahrung wird selbstvergewissernd im Gottesdienst wiederholt. Die Gegenwart Gottes muss nicht so sehr durch Sakramente oder Bibelbetrachtung erfahren werden, weil das spektakuläre Wirken des Geistes die Zuwendung Gottes eindrücklich zu bestätigen scheint. Auch in der späteren Charismatischen Bewegung treten Bibel, Sakrament und Heiligung hinter das spektakuläre Handeln des Geistes zurück. Grundlage charismatischer Gottesdienste und privater Frömmigkeit sind eigene oder in der Gemeinschaft vermittelte Erfahrungen der Geisteswirkung. Biblische Heilsereignisse, logische Überlegungen oder dogmatische Glaubensinhalte treten in ihrer Bedeutung für den charismatischen Christen hinter der subjektiven Geisteserfahrung zurück.3 Wird die Gewissheit und Faktizität des Glaubens aber vor allem an eigenen, vorzugsweise emotionalen Erfahrungen festgemacht, besteht die Gefahr, bei Ausbleiben dieser Erfahrungen oder gegenläufigen negativen Erfahrungen in eine Glaubenskrise zu geraten. Das Lob Gottes, Charismen und Zeugnisse als Garanten des Geisteswirkens stehen in unmittelbarer Abhängigkeit zu den charismatischen Begabungen einzelner. Zurecht betonten die Reformatoren demgegenüber die Unabhängigkeit des Geistes von der Befähigung oder Würdigkeit des menschlichen Vermittlers oder eigener Erfahrungen. Gottes Realität und Wahrhaftigkeit sind losgelöst von menschlichen Erfahrungen und Gefühlen. Glaubensgrundlage sind hier erfahrungsunabhängige Selbstaussagen Gottes in seinem Wort. Darüber hinaus stellt die Bibel für Christen die wichtigste Inspirationsquelle und Korrekturmöglichkeit für alle spontanen Wirkungen des Geistes dar. Damit das außergewöhnliche Wirken des Geistes nicht der Routine, der Manipulation oder der unbewussten Irreführung verfällt, muss es immer wieder am Wort Gottes, als überzeitlicher Konstante, ausgerichtet werden. Die überproportionale Betonung der Geisteswirkungen führt in der Charismatischen Bewegung immer wieder zur Uminterpretation des Heiligen Geistes als frei verfügbarer spiritual power. Kongresse und Seminare vermitteln den Eindruck, dass der einzelne die Charismen für sich beanspruchen und ausüben kann. Der Geist wird primär als übernatürliche Wirkkraft gesehen. Der Glaube mutiert dann zur Fähigkeit, diese Kraft hervorzubringen. Damit rückt anstelle des, in seinem Geist handelnden Gottes, der geistbegabte Mensch ins Zentrum des Interesses.4 Lob und Anbetung dienen hier weniger der Ausrichtung auf den himmlischen Vater, sondern werden zur Methode oder zum Weg, der Erzeugung spektakulärer Geisteserfahrungen. Erst wird in entsprechenden charismatischen Veranstaltungen der Geist herbeigerufen, dann wird der Raum gegeben, dass sich der Geist in sichtbaren Phänomenen manifestieren kann. An dieser Stelle tritt eine grundlegende biblische Wahrheit in den Hintergrund: Der Heilige Geist ist eine Gabe Gottes und damit für den Menschen unverfügbar. Die Nähe des Geistes erzeugen zu wollen oder ihn für das eigene religiöse Empfinden zu manipulieren widerspricht seiner Funktion als Korrektiv und als Erinnerer an ewige Wahrheiten Gottes.5

 

Merkmale charismatischer Frömmigkeit im Gottesdienst

1. Gott - der Heilige Geist - wird spürbar, vernehmbar, anschaulich.

2. Statt verstandesmäßiger Vermittlung des Glaubens sollen die Besucher unmittelbar, emotional von Gott angesprochen werden.

3. Das Handeln Gottes soll spektakulär nach innen und außen hin vorgeführt werden.

4. Eine gemeinsame Erfahrung - Geistestaufe, Geistes Erneuerung - verbindet die Gottesdienstbesucher.

5. Die Gemeinschaft bildet den Rahmen für den Empfang und die Anwendung der Gaben.

6. Die erlebte Nähe Gottes bewirkt Lob und Anbetung.

7. Nicht die Bibel oder ein Glaubenssatz stehen im Mittelpunkt, sondern ein persönliches Erlebnis.

8. Jeder beteiligt sich aktiv am Gottesdienst.

9. Gefühle und Körpersprache sollen einbezogen werden: Singen, Klatschen, Beten, Zwischenrufe, Tanz usw.

10. Wichtig sind sichtbare Zeichen des Heiligen Geistes: Geistestaufe, Zungenreden, Prophetie, Befreiung von Besessenheit, Heilung, Visionen usw.

11. Der Empfang des Heiligen Geistes macht sich durch äußere Zeichen bemerkbar: Singen im Geist, Zungenrede, Fallen im Geist, heiliges Lachen usw.

Beispiel: Unter dem Titel Tschiises, mach uns heiss! schrieb des Journalist Michael Meier für die NZZ einen lesenswerten Artikel über die charismatische Szene in der Schweiz:

„Man erkennt sie an ihren Gottesdiensten. Bis die Predigt beginnt, warten sie eine Stunde, nein, sie singen und frohlocken. Junge Erwachsene, viele mit ihren Kindern, preisen, die Arme weit offen und hüfteschwingend, den Herrn. Lobpreisleiter Bene Müller und seine Band reißen mit rockigem Sound die Mühseligen und Beladenen mit … Kein Sonntagabendgottesdienst … ohne Worshiping, ohne Anbetungszeit. Dann erst kommt Prediger Martin Bühlmann. Gut gelaunt und wortreich referiert der Gründer der Basileia über „The Power of Giving“. Seine Predigt … komprimiert er zu Slogans, die auf der Leinwand aufscheinen: „Mit Geben setzt man Fakten der Großzügigkeit.“ … „Tschiises“, betet die Gemeinde, „you are powerful.“ Ohne Basics der englischen Sprache ist man in der evangelikal-charismatischen Subkultur verloren. Die nämlich ist ganz an Amerika orientiert. … Mit Schüttelparties, an denen bis zu 2500 Erweckte in Trance fielen. „Dutzende lagen am Boden, viele zitterten, weinten, lachten, waren betrunken im Geist, schüttelten sich oder schrien“, so beschrieb Bühlmann das Wirken des Toronto-Segens, den er 1994 von Kanada auf den Kontinent geholt hatte. Seit sich aber Wimber von den geistlichen Exzessen distanzierte, ist es auch in Bern ruhiger geworden. … [heute] meint Bühlmann abgeklärt: „Nicht immer ist Hochsommer. Auch der Glaube hat Jahreszeiten, man kann ihn nicht permanent euphorisch leben.“ … Am unbändigsten gebärdet sich die evangelikale Jugendbewegung International Christian Fellowship, ICF genannt. Ihr Leiter Leo Bigger, der jeden Sonntag in der alten Börse gleich vier Rock-Gottesdienste für total 2000 Gläubige hält, will jetzt eine Mehrzweckhalle bauen. … Heilungsfähigkeit gilt in der Szene als Gabe des Heiligen Geistes. Heilungserlebnisse und die Praxis des Handauflegens gehören in Geri Kellers Schleife zu jedem Gottesdienst. Für den Spross einer Heilsarmee-Familie sind solche Spontanheilungen Zeichen der Endzeit. … John Wimber etwa, vor seinem frühen Tod während Jahren herz- und krebskrank, rückte im sogenannten Power Healing den krankmachenden Dämonen auch mit exorzistischen Gebeten zu Leibe. … [charismatische] Volksfrömmigkeit besteht demgegenüber auf einem erfahrbaren und unmittelbaren Gott. Gegen die gefühlskalt verkopfte Lehre der Landeskirchler appelliert sie an das Gemüt und garantiert religiöse Live-Erlebnisse kraft Ekstase, Trance und Ergriffenheit. Das Medium solcher Gottesbegegnung im Kollektiv ist laut Bandleaderin Lilo Keller die Musik. … Im ICF-Gottesdienst von Leo Bigger kommt der Anbetungsteil auf mindestens so viel Dezibel wie eine Party im Zürcher Trendlokal Kaufleuten. Auch der Gottesdienst im Zentrum Buchegg nimmt sich mit seiner Band wie ein Popkonzert aus. Pfarrer Kniesel weiß allerdings, dass es nicht die heißen Rhythmen sind, die den Gläubigen in die Glieder fahren, es ist der Heilige Geist. Damit sich die Geisttrunkenen «frei vor Gott bewegen» lernen, stellt ihnen die Erweckungsindustrie Anbetungsutensilien bereit: bunte Bänder und Tücher, Schellen-Tamburins oder Handtrommeln. … “Are you ready to jump for Jesus?“, schreit der 18-jährige Dany. Da erklimmt Papa Beddingfield die Bühne und erklärt, Stagediving sei sein Lieblingssport. Und schon wirft er seinen jüngsten Spross und dann sich selber in die Menge der johlenden Kids. Jeder darf es ihm gleichtun und sich vertrauensvoll von der Bühne stürzen. Auf Danys Geheiß stemmt jeweils eine Gruppe von zehn Jugendlichen eine Kameradin horizontal in die Höhe. … Kein zweckfreies Gaudi, nein, die Teenies sollen den Sprung in den Glauben sinnenfällig erleben. … [charismatische] Fun- und Erlebnisreligion lebt von Events, Spektakeln und Großkonferenzen. … Die Kehrseite ihrer Erlebnisreligion ist ihre dürftige Theologie, die fehlende Nachdenklichkeit. … [sie] blendet gesellschaftspolitische Themen aus, sie sind ihm zu abstrakt. … Sich auf das Priestertum aller Gläubigen berufend, sind die evangelikalen Leader oft keine Theologen. Dafür umso gewieftere Entertainer. Wenn der stämmige Offsetdrucker Leo Bigger in der alten Börse ächzend und stöhnend seine kreißende Frau nachahmt und per Videoclip den neugeborenen Sohn präsentiert, geht es mehr um Selbstinszenierung als um Verkündigung. … Der geläuterte Basileia-Chef [Martin Bühlmann] versteht sich als Narr in Christo, der im Weinberg des Herrn experimentiert und dafür Kritik einsteckt. Auch er weiß, dass die jungen und wenig strukturierten Bewegungen ohne charismatische Leitfiguren nicht lebensfähig wären. Ob dann die erwecklichen Aufbrüche ihre Gründer überleben, ist eine andere Frage.”6

1.2. Charismatischer Lobpreis

Die Bedeutung des Lobpreises für den charismatischen Gottesdienst wird sowohl durch die reichhaltige charismatische Liedproduktion als auch durch zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema unterstrichen.7 In ihrer Bedeutung steht der Lobpreis- und Anbetungsteil charismatischer Gottesdienste zumindest gleichwertig neben der Wortverkündigung. Im Hinblick auf seine zeitliche Länge steht der Lobpreis sogar weit vor der Predigt. Bis zu einer Stunde werden überwiegend jüngere, meist einstrophige Chorusse gesungen. Geführt durch ihren Anbetungsleiter und ein Musikteam stehen die Besucher auf, erheben oder schwenken ihre Hände. Andere Gottesdienstteilnehmer knien oder tanzen, häufig mit geschlossenen Augen. Eine sehnsüchtige Erwartung der Manifestationen des Geistes verbreitet sich. Kurze, von Musik untermalte Wortbeiträge werden durch gemeinsamen triumphal- erhebenden Gesang oder gemeinsames (Zungen-) Gebet abgelöst. Es wird ermutigt, Gefühlsäußerungen spontan Ausdruck zu verleihen, da sie als Wirkungen des Geistes interpretiert werden. Immer wieder entstehen neue kreative Ausdrucksformen geistlicher Ergriffenheit. Bewusst suchen Charismatiker hier das Gegengewicht zu Gottesdienstformen, die sich vorwiegend an den Verstand richten.8 Die eigene Lobpreispraxis soll in der Charismatischen Bewegung durch biblische Vorbilder und Belege begründet werden. Dazu zählen Jesu Ankündigung, dass „die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit“ anbeten werden (Joh 4,23f) und der Hinweis des Paulus, dass der Heilige Geist im Innern des Gläubigen „Abba, lieber Vater“ ruft (Gal 4,6). Überhaupt genießt die Anbetung Gottes als Vater in charismatischen Kreisen hohe Wertschätzung. In den Liedern und Gebeten dominiert eine intime Gottesvorstellung, des sanftmütigen, sensiblen, vergebenden und verständnisvollen Vaters. Kämpferische oder richtende Charakterzüge Gottes werden zumeist nur im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung des Christen mit Dämonen oder der nichtchristlichen Umwelt erwähnt. Ideale charismatische Anbetung soll nicht überlegt und verstandesmäßig formuliert, sondern unmittelbar durch den Geist bewirkt werden (Röm 8,26).9 Freie Formulierungen und unmittelbare Eindrücke sollen für Authentizität und Geisteswirkung stehen. Durch das Erfülltwerden mit dem Heiligen Geist wird der Mensch selbst zur Wohnung Gottes, heilige Räume oder Liturgien werden überflüssig. Als Idealfall wird die Zungenrede angesehen, weil hier jede menschliche Einflussnahme auf den Lobpreis ausgeschlossen scheint, da der Geist selbst spricht.10

Lobpreis soll therapeutisch gegen Schwermut und Traurigkeit helfen und das Gemeindewachstum unterstützen. Bei der Erwartung körperlicher Heilung durch charismatischen Lobpreis liegt ein fast mechanisches Verständnis des Handelns Gottes vor. In der Seelsorge und in der geistlichen Kampfführung soll Lobpreis dabei helfen den Einfluss dämonischer Mächte zurückzudrängen. Hier wird der Lobpreis seinem eigentlichen Wesen entfremdet, er ist nicht mehr Anrede des Menschen Gott gegenüber.

Da das Neue Testament nur wenig Auskunft über den frühchristlichen Gottesdienst gibt, stützt sich die charismatische Lobpreistheologie vor allem auf alttestamentliche Texte, die den Tempelkult Israels beschreiben (1Chr 23,5; 2Chr 29,25-28). Gott offenbart sich in bzw. durch den Lobpreis seines Volkes (Ps 22,4; 50,23). Lobpreis hilft bei geistlichen Auseinandersetzungen (1Sam 16,23) und im Kampf gegen irdische Gegner (Jos 6,20; Ri 7,16). Geistliche Musik kann Menschen zu Gott führen (Ps 40,1-3) und den Empfang von Prophetie vorbereiten (1Sam 10,5; 2Sam 23,2). So wie im Alten Testament kann auch der charismatische Lobpreis heute durch Tanz (2Sam 6,14-16; Ps 149,3; 150,4) und Klatschen begleitet werden (Ps 47,1). Ausgehend von diesen und zahlreichen anderen Details des alttestamentlichen Tempeldienstes entwickelten charismatische Leiter zahlreiche kreative Formen Lobpreis in der Gemeinde auszuüben und zu begleiten. Vor allem ermöglicht charismatischer Lobpreis den Ausdruck von Emotionen und Körperlichkeit in der Gemeinde. Dadurch begegnet er durchaus sinnvoll einer einseitigen Intellektualisierung des Gottesdienstes. Darüberhinaus fördert ein ausgedehnter Lobpreis eine starke Beteiligung der Gemeinde.

 

Die überwiegend amerikanische Lobpreisliteratur zeichnet das Bild eines liebevollen, den Menschen zugewandten Gottes. Jesus wird hier gelegentlich zu einem Kumpel, der alle Probleme löst, der stets unmittelbar und direkt in den Alltag eingreift und für alle Kleinigkeiten sorgt. Dass Gott Menschen, auch Christen, ermahnt, straft und richtet findet genauso wenig Erwähnung wie die totale Andersartigkeit und Unverständlichkeit Gottes.11

Charismatischer Lobpreis wird auch nicht nur als zweckfreie Hinwendung zu Gott verstanden, sondern als geistliche Waffe betrachtet. „Die Schwierigkeiten in deinem Leben werden sich lösen, Mächte der Krankheit werden weichen müssen, und die Fesseln, die Satan deinem Leben anlegen will, werden zerbrochen werden. Durch Loben und Danken wirst du das Land einnehmen.”12 Lobpreis kann in diesem Zusammenhang zu einer Methode werden, die die Freiheit Gottes weitgehend unberücksichtigt lässt.

Gebet ist für viele Charismatiker nicht nur die Bitte des Menschen an Gott, sondern ein übernatürliches Geschehen, ein Charisma, Gott und Mensch treten in eine geistgewirkte Zwiesprache ein.13 Tatsächlich spricht Paulus davon, dass der Heilige Geist im Christen die Gewissheit seiner Gotteskindschaft bewirkt (Röm 8,15; Gal 4,6f) und ihn zum Gebet treibt (Röm 8,14f). Über die Bibel hinaus aber gehen charismatische Interpretationen, die den Eindruck erwecken, jeder Christ könne im Gebet Gottes Stimme unmittelbar akustisch hören und in einen direkten Dialog mit Gott eintreten. Oft tritt dadurch die Exklusivität der biblischen Inspiration zurück.14 Ebenfalls nicht biblisch gedeckt ist die in charismatischen Lobpreisseminaren vermittelte Auffassung, Zungenrede und Zungengesang sei eigentlicher Ziel- und Gipfelpunkt der Anbetung. Oft werden die emotionalen Erfahrungen während des charismatischen Lobpreis und Zungenredens als Garantie göttlicher Nähe interpretiert und dabei vergessen, dass religiöse Gefühle ebenso wie Wunder, immer interpretationsbedürftig sind, da sie weder ihre Bedeutung noch ihre Aussagekraft offensichtlich in sich tragen. Schließlich würde auch kaum ein charismatischer Christ dem Buch Mormon zustimmen, nur weil ein Mormone ihm versichert, Gott habe ihm dessen Wahrheit durch eine innere Gewissheit und ein „Brennen in der Brust” mitgeteilt.

Zweifellos ist es eine Stärke charismatischen Lobpreises, dass er die Emotionen des Menschen anspricht und gleichzeitig die Vielfalt des Gotteslobes erweitert. Gleichzeitig besteht bei der außerordentlichen Betonung des Lobpreises die Gefahr der Vereinseitigung. Gerade „verstandesmäßig orientierte Menschen werden dadurch leicht abgestoßen und fühlen sich unter Druck gebracht, im Gottesdienst emotional und körperlich zu agieren.”15 Die ständige Wiederholung der gleichen Anbetungslieder, dazu noch mit ordentlicher Lautstärke steht in der Gefahr bei den Gottesdienstteilnehmern ein frommes Gefühl der Gottesnähe lediglich manipulativ zu erzeugen. Nicht wenige Anbetungsgottesdienste zeigen eine Tendenz zu gewollter Stimmungsmache und Routine.

Auch besteht allzu häufig die Illusion, ein kreativ ausgedrückter Lobpreis garantiere für echte geistliche Motivation oder schütze vor Traditionalismus. Das ist jedoch ein Irrtum. Immer häufiger wird charismatischer Lobpreis lediglich zu einer neuen Liturgie, die die Erwartungen der daran gewöhnten Teilnehmer befriedigt. Nicht unproblematisch ist darüberhinaus die stilistische und inhaltliche Einseitigkeit charismatischer Lobpreislieder. Zumeist handelt es sich dabei um sehr kurze, einfach formulierte Anbetungstexte mit eingängig meditativer Melodie. Häufig liegen den Liedern biblische Texte zugrunde (Ps 22,4.23; 97,9; 145-150; Offb 4,11). Gott wird als König, Herrscher, Sieger und Herr aller Herren angebetet. Gottes Anmut, Schönheit, Macht und Liebe werden hervorgehoben. Andererseits fehlen bei charismatischem Lobpreis fast vollkommen Gottes Heilstaten, die Erlösung von Sünde, Gottes Zorn und alle Hinweise auf die alltäglichen menschlichen Probleme. „Dadurch entsteht in charismatischen Versammlungen häufig der Eindruck einer Scheinwirklichkeit. Es wird eine heile Welt vorgetäuscht, in der man sich über die Probleme des Lebens hinwegjubiliert.16 Die Illusion wird genährt, dass es ein Leben ohne Alltagssorgen geben könnte. Die Freude an Gott schlägt um in die Sucht, Gott genießen zu wollen.17 So kann ein unguter geistlicher Triumphalismus entstehen, der den Besucher charismatischer Veranstaltungen den Schein einer geistlichen Parallelgesellschaft vermittelt, in der Gottes Herrlichkeit schon jetzt ganz greifbar und genießbar ist. Das Werkstattheft Lobpreis verspricht in diesem Zusammenhang: „Gebet und Lobpreis sind zwei Flügel, durch die unsere Seele in den Himmel fliegt. … Lobpreis erfüllt ein Leben mit der Atmosphäre des Himmels.”18 Das wirkt zumindest einseitig, wenn nicht wirklichkeitsfern. Zumeist konzentriert sich der Lobpreis auf die gottesdienstliche Gegenwart der Singenden und vernachlässigt dabei das Wirken Gottes in Vergangenheit und Zukunft.19 Dieser Lebensoptimismus und die Gegenwartsbezogenheit des charismatischen Lobpreises sind ein getreues Spiegelbild der amerikanischen Gesellschaft und liefert mit der Ausblendung der Klage die religiöse Legitimation eines „Everything is OK, everything must be in control, everything is manageable!”20 Die biblische Perspektive des Christseins aber umfasst auch Klage, Unverständnis und Trauer, sowie den Blick in Vergangenheit und Zukunft.

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